plädoyer: Wie kommen Sie zu Ihrem Fazit, dass der Respekt vor dem Recht abnimmt?
Felix Uhlmann: Ich war immer wieder in den USA. Insgesamt wohl mehr als zwei Jahre, das letzte Mal im vergangenen Januar in Miami für eine Gastvorlesung. Das US-Rechtssystem faszinierte mich immer. Ich habe heute aber das Gefühl, dass das Recht überhaupt keine Rolle mehr spielt, ausser als Kampfmittel. In der politischen Auseinandersetzung blieben rechtliche Argumente auf der Strecke. Donald Trump hat keinerlei Respekt vor der Rechtsordnung. Ein Wahlergebnis zu akzeptieren, ist vielleicht die elementarste Regel jeder Demokratie. Ein anderer Strang stammt aus der Corona-Zeit in der Schweiz.
Ich äusserte mich ein paar Mal zu rechtlichen Fragen rund um die von der Politik ergriffenen Massnahmen. Beim Lesen von Zuschriften merkte ich: Viele Leute haben nicht begriffen, was Recht ist und was Recht leistet. Sie erwarteten, dass man entweder integral hinter den Massnahmen des Bundesrats steht oder dagegen ist. Sie verstanden nicht, dass das Recht eine gewisse Objektivität hat, also dass man aus juristischer Sicht sagen konnte: Das eine hält vor der Verfassung stand, das andere weniger. Ich verkenne nicht, dass jede rechtliche Einschätzung auch eine persönlich-politische Komponente hat, aber eben nicht nur.
Sie sagen, der Respekt vor dem Recht nehme weltweit ab. Woran dachten Sie konkret?
Mir scheint, dass auch das Völkerrecht heute nicht mehr die Bedeutung hat, die es einmal hatte.
Haben Regierungen den Respekt vor dem Recht verloren? Stichwort Gaza: Auf ein gefangenes, schutzloses Volk werden Zehntausende von Bomben abgeworfen. Die Infrastruktur wird zerstört, die medizinische Versorgung verhindert, Hunger als Kriegswaffe eingesetzt. Das humanitäre Völkerrecht und die Genfer Konventionen werden missachtet. Hat diese tolerierte Gesetzlosigkeit nicht eine verheerende Auswirkung auf das Ansehen des Rechts?
Ich enthalte mich jeder juristischen Einschätzung des Nahostkonflikts, aber das Leiden der Unschuldigen auf beiden Seiten ist schwer erträglich. Immerhin wird diese Frage rechtlich verhandelt. Die Stimmen aber, die den Konflikt rechtlich einzuordnen versuchen, ohne politische Färbung, sind eine Minderheit.
Stichwort Menschenrechte: Die UN-Charta und die Europäische Menschenrechtskonvention statuieren universelle Menschenrechte. Diese werden vor allem von Regierungen missachtet. Im NZZ-Beitrag schrieben Sie: Recht wird akzeptiert, wenn es der eigenen Position nützt. Erwarten Sie von Regierungen, dass sie mit gutem Vorbild vorangehen?
Ja, klar. Die Vorbildfunktion und die Rechtstreue der Regierungen sind absolut zentral. Und zwar nicht nur bezüglich der Menschenrechte, sondern weltweit gegenüber allen Regeln. Die Menschenrechte sind zentral, keine Frage, aber es greift zu kurz, die Rechtsordnung auf die Menschenrechte zu reduzieren.
Gilt unter den Staaten statt Völkerrecht vermehrt das Recht des Stärkeren?
Kriege und beispielsweise auch Sanktionen sind oft Ausdruck des Rechts des Stärkeren, oder besser gesagt: der Macht des Stärkeren. Auch der Stärkere muss oder müsste sich an gewisse Regeln halten. Mir scheint, die USA hätten bei ihren Interventionen in Ex-Jugoslawien oder in den Irak-Kriegen dem Völkerrecht mehr Respekt als heute entgegengebracht – auch wenn ich die Fehler der USA, etwa im zweiten Irak-Krieg, keineswegs beschönigen möchte. Das Verhalten von Russland ist derart verwerflich, dass wir es nicht weiter diskutieren müssen.
Unter den Menschenrechten stehen heute unter anderem das Recht auf die Stellung und die Prüfung eines Asylgesuchs in immer mehr Staaten auf der Kippe. Versagen die Regierungen auch hier?
Der Asylbereich ist ein Bereich, in dem das Recht unter erheblichem Druck steht. Die Willkommenskultur der Regierung Merkel im Jahre 2015 war kaum rechtlich gesteuert und politisch abgestützt. Die heutigen Gegenreaktionen reizen die Grenzen des Rechts sicher aus, wenn sie sie nicht sogar überschreiten. Interessant war, was nach Beginn des Ukraine-Kriegs passierte. Plötzlich hatten wir zwei Kategorien von Flüchtlingen: Ukrainer und andere, die auf ein Asylrecht mit beträchtlichen Härten treffen.
Die Gerichte könnten dem Recht mehr Nachachtung verschaffen, den Respekt vor dem Recht vergrössern. Nehmen sie diese Rolle genügend wahr?
Gerichte sind wichtig für die Befriedung in Konfliktfällen, es braucht starke Gerichte, denen nicht der Vorwurf gemacht werden kann, dass sie politisch urteilen. Gerichte können aber nicht alle Probleme lösen: Sie haben eine Funktionsgrenze. Sie sind auf den Schutz individueller Rechtspositionen gerichtet, nicht auf die Verwirklichung öffentlicher Interessen. Ich finde es sehr bedauerlich, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit dem Klimaurteil zwar ein sehr wortreiches Urteil gefällt hat, aber genau die Frage seiner Funktionsgrenze nicht diskutiert hat. Es ist unvermeidbar, dass man über dieses Urteil diskutiert. Das kann positiv sein. Aber insgesamt fürchte ich, dass das Urteil für den Klimaschutz eher schädlich ist, für das Ansehen des Gerichts erst recht.
Ist die Justiz mitverantwortlich dafür, dass der Respekt vor dem Recht sinkt? Im Zivilrecht ist der Druck auf die Parteien gross, Vergleiche abzuschliessen. Im Strafprozess sind mit dem abgekürzten Verfahren Deals eingeführt worden. Untergraben solche Entwicklungen nicht die Autorität des Rechts?
Ich kenne vor allem das öffentliche Recht. Und da haben wir zurzeit eine Tendenz zur starken Formalisierung, die von vielen Leuten nicht mehr verstanden wird. Es wäre interessant zu wissen, ob deshalb die Zahl der «Querulanten» zugenommen hat – ich wäre nicht überrascht. Im öffentlichen Recht haben die Gerichte und Behörden häufig nicht die Möglichkeit, die Betroffenen mündlich von der Rechtslage zu überzeugen.
Sie beklagen den sinkenden Respekt vor dem Recht. Gilt das auch für Parlamentarier?
Die Zeiten, in denen ein Gutachten des Bundesamts für Justiz die Diskussion beendet hat, sind sicher vorbei. Das Parlament hat gewisse Freiheiten in der Gesetzgebung, ist aber an die Verfassung gebunden. Bei der Umsetzung von Volksinitiativen – aus beiden Seiten des politischen Spektrums – strapaziert das Parlament die Verfassung. Beispiele sind etwa die Zweitwohnungs- oder die Masseneinwanderungsinitiative. Die Folge sind extremere Initiativen, antizipierend, dass diese ohnehin vom Parlament abgemildert werden. Das ist ein Teufelskreis.
Befürworten Sie eine Verfassungsgerichtsbarkeit?
Ich bin in dieser Frage immer wieder hin- und hergerissen. Es gibt gute Gründe für eine Verfassungsgerichtsbarkeit. Andererseits ist es vielleicht besser, wenn das Parlament eine grössere Verantwortung für seine Erlasse trägt. Dann geht es mit mehr Sorgfalt an die Arbeit. Würde es bei einer Verfassungsgerichtsbarkeit einfach mal etwas versuchen, auch wenn verfassungsrechtliche Bedenken bestehen?
In der NZZ schrieben Sie aber, das Parlament behandle verfassungsrechtliche Fragen mit Nonchalance. Woran dachten Sie dabei?
Ich sehe eine gewisse Nonchalance gegenüber den Kompetenzabgrenzungen zwischen Bund und Kantonen und eben dem Umgang mit Initiativen.
Wie könnte man dem Recht mehr Respekt verschaffen?
In der Schweiz ist die Rechtstreue in den Behörden und im Parlament immer noch sehr gross, es besteht kein Grund für Alarmismus. Aber vieles geschieht unmerklich. Die Gewichte verschieben sich schleichend, man sieht das erst im Rückblick, das hat mich auch literarisch immer interessiert. Die Corona-Zeit hat die Fundamente des Rechtsstaats nicht in Frage gestellt, auch wenn man Einzelnes kritisch sehen muss. Die Behörden haben begriffen, dass die «Medizin Notrecht» erhebliche Nebenwirkungen hat. Aber ich bin nicht sicher, ob dies in 20 Jahren noch der Fall ist.
Was stimmt Sie so pessimistisch?
Vieles, was in den USA passiert, schwappt nach einer gewissen Zeit zu uns herüber. Ich denke an eine gewisse Entartung des politischen Systems. Das gilt nicht nur für Trumpisten, sondern auch für die Demokraten. Es ist heute wohl undenkbar, einen Demokraten zu finden, der das Abtreibungsurteil des Supreme Court 2022 verfassungsrechtlich für korrekt hält. Vor gut 25 Jahren wurde in Harvard das Urteil des Supreme Court aus dem Jahre 1973 unter methodischen Gesichtspunkten durchaus kontrovers diskutiert – vielleicht noch eindrücklicher das fundamentale Urteil Brown v. Board of Education aus dem Jahre 1954, das die Rassentrennung an Schulen verbot.
Wird das heute noch gemacht? Ich bin nicht sicher. Damit will ich diese Urteile nicht in Frage stellen, ich fürchte allein um den rechtlichen Zugang zu diesen Fällen, die ideologisch so aufgeladen sind, dass das Recht auf der Strecke bleibt. Und was die politische Ordnung betrifft, bereitet der Blick auf Europas Führungsmächte Frankreich, Deutschland und England Sorgen, England jüngst mit Gewaltausbrüchen gegen Einwanderer. Vor gut 30 Jahren schienen Demokratie und Rechtsstaat in Europa alternativlos. Wir sollten heute mit Dank zur Kenntnis nehmen, wie viele autoritäre Staaten sich zum Besseren wendeten. Wir sollten dabei nicht vergessen, dass europäische Länder wie Albanien und Rumänien brutale Diktaturen waren.
Sehen Sie auch in der Schweiz positive Tendenzen?
Ich finde es sehr gut, dass wir über die Corona-Massnahmen abstimmten. Abstimmungen sind immer ein Ventil. Das gilt vielleicht auch für fremdenfeindliche Vorlagen seit der Schwarzenbach-Initiative. Das Schächtverbot vor gut 130 Jahren war von antisemitischen Parolen begleitet. Der Abstimmungskampf zur Minarettinitiative war nichts für zarte Gemüter. Andererseits: Wir erlebten in der Schweiz, zum Glück, bisher kaum gewalttätige Übergriffe auf Asylbewerber.
Trotz dem Angriff auf einen Juden im Frühjahr in Zürich ist die Bedrohung gegen jüdische Institutionen in der Schweiz geringer als in Deutschland. Wirkt die direkte Demokratie letztlich doch ausgleichend für das soziale Gefüge? Sind die Erfolge der AfD das Spiegelbild ungenügender Repräsentation? Wichtig ist alles, was der Polarisierung entgegenwirkt. Dazu gehört vor allem auch die Wertschätzung des anderen Standpunkts.
Zur Person
Felix Uhlmann, 55, ist seit 2006 Professor für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Rechtsetzungslehre an der Universität Zürich.