Die Relevanz des Freizügigkeitsabkommens zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (FZA) für strafrechtliche Massnahmen stand lange Zeit im Schatten zahlreicher sonstiger Fragen wie der sogenannten flankierenden Massnahmen oder der Reichweite des Familiennachzugs. Dies hat sich mit der Annahme der Ausschaffungsinitiative und der gesetzlichen Umsetzung geändert (Artikel 66a ff. StGB). Nun liegen verschiedene Urteile der Strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts zur Frage der strafrechtlichen Landesverweisung vor. Und einigen neueren Urteilen sind in Bezug auf das Verhältnis zum FZA grundsätzliche Aussagen zu entnehmen (insbesondere 6B_378/2018 vom 22. Mai 2019; BGer 6B_48/2019 vom 9. August 2019).
Man durfte auf die Urteile der Strafrechtlichen Abteilung gespannt sein – angesichts des Umstands, dass der in Artikel 66a Absatz 1 StGB vorgesehene grundsätzliche Ausweisungsautomatismus trotz der sogenannten Härtefallklausel den Anforderungen des FZA nicht Rechnung tragen dürfte. Auch eine freizügigkeitskonforme Auslegung wäre möglicherweise schwierig. Denn die Beendigung des Aufenthalts und die Zulässigkeit von Fernhaltemassnahmen aufgrund einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (Artikel 5 Anhang I FZA) setzt nach der ständigen Rechtsprechung der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft voraus. Dabei muss an das persönliche Verhalten des Betroffenen angeknüpft und der Grundsatz der Verhältnismässigkeit gewahrt werden, sodass immer der Einzelfall zu betrachten und eine Interessenabwägung vorzunehmen ist. «Ausweisungsautomatismen» stehen damit grundsätzlich nicht in Einklang.
“Vorrang” in relativierenden Anführungszeichen
Vor diesem Hintergrund erstaunt, dass die Strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts in den genannten Urteilen weniger die Frage nach dem Hierarchieverhältnis von FZA (ein völkerrechtlicher Vertrag) und StGB (ein Bundesgesetz) erörtert. Vielmehr konzentrierte sie sich auf grundsätzliche Aussagen zur Auslegung des Artikels 5 Anhang I FZA und zum «Charakter» des Freizügigkeitsabkommens. Sie betont, das FZA enthalte keine «strafrechtlichen Bestimmungen» und sei auch kein «strafrechtliches Abkommen». Auch könne die «öffentlichrechtliche Auslegung» nicht auf die «strafrechtliche Auslegung» des FZA übertragen werden. Für Letztere sei relevant, dass es sich beim FZA im Wesentlichen um ein wirtschaftsrechtliches Abkommen handle, das lediglich zu einem «doppelt bedingten» Aufenthalt in der Schweiz berechtige. Damit gemeint ist einerseits durch das Vorliegen der Voraussetzungen, andererseits dürfe gemäss Artikel 5 Anhang I FZA, der «bloss» im Anhang aufgeführt sei, keine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegen.
Im Strafrecht sei diese Bestimmung «nicht restriktiv» auszulegen, sondern nach ihrer «gewöhnlichen Bedeutung», könne doch die primärrechtlich abgestützte integrativ wirkende dynamische Rechtsanwendung des EuGH für das Strafrecht nicht berücksichtigt werden. Im Übrigen fehle der strafrechtlichen Landesverweisung von Kriminellen unter dem FZA und den bilateralen Verträgen die «Signifikanz». Und es komme ihr weder eine wirtschafts- noch eine migrationsrechtliche Komponente zu. Die strafrechtliche Landesverweisung sei keine Regelungsmaterie des FZA. Sie schränke delinquentes Verhalten und den Aufenthalt «mit souveräner Staatsgewalt» ein. Insoweit beanspruche das Strafrecht systematisch «Vorrang» – das Bundesgericht setzte selbst die Anführungszeichen.
Insgesamt überzeugen weder dieser grundsätzliche Ansatz noch die Argumentationslinien des Gerichts. Trotz vieler Hinweise auf die EuGH-Rechtsprechung trägt das Gericht dem Charakter des FZA und den durch das FZA eingeräumten Rechten nicht Rechnung. Es vermeidet klare Stellungnahmen, argumentiert sprunghaft und formuliert an anderen Stellen ausgesprochen missverständlich und enigmatisch.
Keine echte Auseinandersetzung
Das gilt insbesondere für den Ansatz, bei der strafrechtlichen Landesverweisung gehe es um eine gänzlich anders zu beurteilende Massnahme als bei einer ausländerrechtlichen Anordnung und das Strafrecht werde durch das FZA nicht geregelt oder tangiert. Er überzeugt nicht und ist auch nicht wirklich begründet. So vermisst man eine echte Auseinandersetzung mit den für die Auslegung des FZA massgeblichen Grundsätzen – der diesbezügliche Ansatz der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung wird lediglich referiert. Und es fehlt eine Argumentation, warum im Rahmen des FZA etwas anderes als im Unionsrecht gelten soll (viele Urteile des EuGH zur Zulässigkeit von Fernhaltemassnahmen beziehen sich auf strafrechtliche Instrumente).
Wenig schlüssig erscheint auch die Aussage, der strafrechtlichen Landesverweisung fehle unter dem Titel des FZA und der bilateralen Verträge die Signifikanz und ihr komme weder eine wirtschafts- noch eine migrationsrechtliche Komponente zu. Und die Behauptung, das FZA habe (nur) wirtschaftsrechtlichen Charakter, ist angesichts von diversen Verbleiberechten und der Rechte von Nichterwerbstätigen und Familienangehörigen verkürzt. Die Landesverweisung führt doch gerade dazu, dass die Freizügigkeitsrechte der Betroffenen eingeschränkt werden und sie diese nicht mehr wahrnehmen können. Dann aber ist eine strafrechtliche Landesverweisung sehr wohl von Bedeutung für das FZA und die durch dieses eingeräumten Rechte. Und selbstverständlich kommt ihr eine «migrationsrechtliche Komponente» zu, weil sich aus dem FZA oder anderen völkerrechtlichen Verträgen ergebende Rechte auf Aufenthalt in der Schweiz und damit auf Freizügigkeit nicht mehr zum Tragen kommen können.
Vertrag ist einheitlich auszulegen
Deutlich wird damit, dass es für die Frage nach der Tragweite eines völkerrechtlichen Vertrags und den sich für eine Vertragspartei ergebenden Verpflichtungen nicht darauf ankommen kann, in welchem Rechtsgebiet die betreffende innerstaatliche Massnahme anzusiedeln ist (Strafrecht oder öffentliches Recht). Vielmehr sind völkerrechtlichen Verträgen Vorgaben zu entnehmen, deren Tragweite durch Auslegung zu ermitteln ist und die von den Vertragsparteien zu beachten sind. Dies unabhängig davon, auf welche Weise oder in welchem Rechtsgebiet diese agieren. Die Vorstellung, es könne einerseits eine «öffentlich-rechtliche», andererseits eine davon abweichende «strafrechtliche» Auslegung einer völkervertragsrechtlichen Bestimmung geben, entbehrt nicht nur jeglicher Grundlage. Sie erscheint auch nicht stimmig, da auf diese Weise ein- und derselben Bestimmung je nach den Umständen eine unterschiedliche Bedeutung beigemessen würde.
Bei der vom Bundesgericht immerhin angedeuteten Frage nach dem Hierarchieverhältnis von FZA und Artikel 66a StGB bleiben die Ausführungen in ihrer Begründung und Tragweite undeutlich. Bemerkenswert ist, dass das Bundesgericht den Begriff «Vorrang» selbst mit Anführungszeichen versah. Weiter erschliesst sich nicht, was mit dem Hinweis auf die souveräne Staatsgewalt ausgesagt werden soll: Alle Hoheitsakte eines Staates – auch die Genehmigung völkerrechtlicher Verträge – erfolgen mit «souveräner Staatsgewalt». Warum sich daraus für das Strafrecht besondere Konsequenzen ergeben sollten, bleibt unklar. Darüber hinaus ist schleierhaft, aus welchen Gründen sich aus der Möglichkeit, mit (strafrechtlichen) Massnahmen in bestimmte Rechte einzugreifen, eine besonders (hervorgehobene) Stellung des betreffenden Rechtsgebiets ergeben soll.
Es bleibt daher zu hoffen, dass sich die Rechtsprechung des Bundesgerichts – möglicherweise auch im Zuge eines Dialogs zwischen den Abteilungen – weiterentwickelt. Festzuhalten ist, dass auch nach der Rechtsprechung des EuGH und der II. öffentlich-
rechtlichen Abteilung im Rahmen der Aufenthaltsbeendigung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ein bedeutender Gestaltungsspielraum besteht, der es durchaus erlaubt, den (legitimen) Interessen der Staaten am Schutz dieser Rechtsgüter Rechnung zu tragen.