plädoyer: Laut Bundesrat sind Gerichtskostenvorschüsse heute insbesondere für Angehörige des Mittelstands eine faktische Zugangsschranke zum Gericht. Der Revisionsvorschlag, den die Regierung nun vorlegt, geht das Problem allerdings nur halbherzig an.
Dominik Infanger: Der Staat hat weitgehend ein Monopol für die Gerichtsbarkeit. Die Bevölkerung ist auf die Gerichte angewiesen. Deshalb ist der Blick auf die Gerichtskosten sehr wichtig. Bei einer privaten Schiedsgerichtsbarkeit wären die Kosten noch höher. Gerade weil der Staat hier eine Funktion hat, die er an sich reisst, hat er auch für eine Kostenregelung zu sorgen, die für die Bürger keine Barriere darstellt.
Christian Josi: Die Kosten sind in den Kantonen unterschiedlich. Je nach Kanton und Höhe der Streitsumme kann es eine grosse Rolle spielen, ob eine Person vor Gericht gelangen will. Die Kosten können also durchaus eine abschreckende Wirkung haben. Bei der Diskussion um die Gerichtskosten fehlt aber die Gesamtschau: Die Gerichtskosten machen nur einen kleinen Teil der Prozesskosten aus. Anwaltskosten können um einiges höher sein als die Gerichtskosten.
Infanger: Mit den Anwaltskosten hat das nichts zu tun. Die Gerichte sind subventioniert, sie sind nicht kostendeckend. Darum ist der Vergleich nicht zulässig. Und der Staat kann es sich eher leisten, auf Kosten sitzen zu bleiben. Als Anwalt muss ich mein Büro, das Sekretariat etc. bezahlen und am Ende sollte auch noch etwas für mich übrigbleiben. Zudem ist der Beizug eines Anwalts freiwillig.
plädoyer: Der Bundesrat beschränkt in der Revision die Vorschüsse neu auf die Hälfte. Und das auch nur für die erste Instanz. Sollen Parteien durch höhere finanzielle Belastungen vom Weiterzug eines Urteils abgeschreckt werden?
Josi: Letztlich ist es eine politische Frage, wie hoch die Gerichtsgebühren sein sollen. Den Löwenanteil der Kosten trägt der Steuerzahler. Es stellt sich die Grundsatzfrage, wie viel eine Person, die eine staatliche Dienstleistung in Anspruch nimmt, bezahlen soll. Wenn die Politik nun die aktuellen Kosten als zu hoch bewertet, dann ist die Lösung des Bundesrats ein gangbarer Weg. Das setzt aber auch voraus, dass die Politik sich bereit erklärt die Einnahmeausfälle auch auszugleichen. Der Vorschlag, einzig die Hälfte der mutmasslichen Gerichtskosten zu erheben, hängt davon ab, wie die Kantone bei der Tarifgestaltung reagieren. Es obliegt ja noch immer den Kantonen, diesen Tarif selbst zu bestimmen. Ich gehe aber nicht davon aus, dass sie diese Befugnis missbrauchen und letztlich einfach den Tarif erhöhen.
Infanger: Der Entwurf des Bundesrats dient nicht primär dem Ziel, die Menschen zu ermuntern, häufiger vor Gericht zu ziehen. Ich finde es aber gut, dass künftig maximal die Hälfte der Kosten vorzuschiessen ist. Das Gericht hat übrigens auch die Möglichkeit, gar keinen Gerichtskostenvorschuss zu verlangen.
plädoyer: Der Revisionsvorschlag sieht weiter vor, dass der Kostenvorschuss vom Gericht nur dann zurückbehalten werden kann, wenn der Kläger unterliegt. Heute haftet der Kläger ja auch für die Gerichtskosten, wenn er obsiegt. Auch dies hatte seit Einführung der ZPO eine abschreckende Wirkung auf Rechtsuchende.
Josi: Ich bin gegen die neue Regelung im Entwurf des Bundesrats. Sie führt zu einem unnötigen administrativen Aufwand. Zur Illustration: Zuerst wird der Kostenvorschuss eingeholt. Nachher obsiegt der Kläger. Das Gericht muss ihm nun den Vorschuss erstatten und gleichzeitig die Kosten von der unterliegenden Partei einholen. Der Kläger hat dann noch Anspruch auf eine Parteientschädigung und muss dafür auch noch bei der unterliegenden Partei das Inkasso vornehmen. Das ist ineffizient. Ich schlage hier einen Kompromiss vor: Künftig soll der Verursacher – also der Kläger – die Hälfte des Inkassorisikos tragen.
Infanger: Damit bin ich nicht einverstanden. Der Staat hat den Rechtsschutz der Bürger zu garantieren. Ein Privater, der einen berechtigten Anspruch durchsetzt und Recht erhält, soll nicht das Kostenrisiko für den Gegner tragen. Der zusätzliche Administrationsaufwand diente schon beim mit der ZPO eingeführten Transfer des Inkassorisikos auf den erfolgreichen Kläger als Argument. Das stiess also schon damals auf Kritik. Mein Vorschlag wäre: Der erfolgreiche Kläger muss den Vorschuss vom Beklagten zurückfordern. Ist der Betrag nicht einbringlich, soll er den Vorschuss vom Gericht erstattet bekommen.
plädoyer: Heute hat jeder Kanton einen eigenen Kostentarif. Die Gerichtskosten sind sehr unterschiedlich. Sollte man zur Erhöhung der Rechtsgleichheit nicht landesweit einheitliche Gerichtstarife einführen?
Infanger: Ein Gericht im Unterengadin ist kleiner und hat andere Kostenstrukturen als ein Handelsgericht in Bern, das sich mit grossen Fällen beschäftigen muss. Zudem ist die Qualität und Effizienz der Gerichtsarbeit in den einzelnen Kantonen sehr unterschiedlich. Das spricht gegen einheitliche Kosten.
Josi: Der Grundsatz ist: Derjenige, der die Justiz finanziert, soll auch die Gebührenhoheit haben. Das ist der Kanton. Sonst müssten wir Bundesbeiträge in Betracht ziehen.
plädoyer: In Frankreich fallen für die Parteien keine Gerichtskosten an. Die Dienstleistung des Staats wird mit den Steuern bezahlt.
Infanger: Eine kostenlose Justiz würde mit Sicherheit zu einer enormen Überlastung der Gerichte führen. Die Gerichte, die ich aus meiner Region kenne – Graubünden, Zürich, St. Gallen und Glarus –, brauchen heute schon lange für einen Entscheid. Wenn die Justiz nicht effizient ist, ist das Gift. Darauf geht der Entwurf nicht ein. Eine Beschleunigung der Verfahren ist nicht vorgesehen. Dabei müsste man über die Zivilprozessordnung Druck auf die Gerichtsorganisation der Kantone machen.
Josi: Die Parteien tragen eine Mitschuld an den langen Verfahren, insbesondere die Anwälte. Das fängt schon bei den Fristerstreckungsgesuchen an, die standardmässig gestellt werden. Doch die entscheidende Frage ist viel eher: Wie viel kostet es eine Person, eine vernünftige Lösung zu erhalten? Da haben wir in der Schweiz eine grosse Vergleichstradition. Wir suchen viel mehr den Kompromiss als andere Länder. Einigen sich die Parteien vor Gericht oder Schlichtungsbehörde, sind die Kosten bedeutend tiefer. Ohne Kostenhürden würde die Streitfreudigkeit sicherlich zunehmen.
plädoyer: Der Revisionsentwurf sieht neu eine Vollstreckbarkeit des Urteils schon vor der schriftlichen Begründung vor. Urteile wären also vollstreckbar, bevor ein Rechtsmittel eingelegt werden könnte, weil noch kein begründeter Entscheid vorliegt. Eine sinnvolle Norm?
Josi: Damit soll die Unklarheit beseitigt werden, wer für den Entscheid der aufschiebenden Wirkung zuständig ist. Die sofortige Vollstreckbarkeit eines Entscheids ist an sich nicht neu. Bis jetzt war allerdings umstritten, ob die obere Instanz schon vor Vorliegen der schriftlichen Begründung für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung zuständig ist oder ob ein Entscheid ohne schriftliche Begründung gar nicht vollstreckbar werden kann. Falsch ist der Revisionsvorschlag nicht. Bisher gilt das Gleiche ja schon bei vorsorglichen Massnahmen. Sie sind auch vollstreckbar, obwohl noch kein definitiver Entscheid vorliegt.
Infanger: Aber bei vorsorglichen Massnahmen kann man wenigstens eine Sicherheitsleistung verlangen, wenn man damit nicht einverstanden ist. Bei der Vollstreckung von unbegründeten Urteilen ist das nicht vorgesehen.
plädoyer: Neu sollen Parteigutachten als Beweismittel zählen. Damit hat jene Partei im Beweisverfahren längere Spiesse, die sich Privatgutachten leisten kann. Ist das nicht eine unfaire Bevorzugung der finanziell stärkeren Partei?
Infanger: Ich sehe hier kein Problem und halte den Vorschlag für sinnvoll. Die Gerichte werden Parteigutachten prüfen und würdigen wie jedes andere Beweismittel.
Josi: Es gilt die freie Beweiswürdigung. Und die Neuerung ist sicher positiv, wenn es um Gutachten geht, die etwas Messbares begutachten wie Lärm, Temperatur oder irgendwelche Stoffuntersuchungen, die eine gewisse Garantie für Verlässlichkeit geben. Doch meist wird man wohl auch künftig ein gerichtliches Gutachten anordnen – unter Wahrung des rechtlichen Gehörs, frei von Beeinflussung und Interessenkollision. Es wird wohl nicht weniger gerichtliche Gutachten geben.
plädoyer: Der Bundesrat will neu für Einvernahmen Videokonferenzen einführen. Ist das Unmittelbarkeitsprinzip nicht vorzuziehen?
Josi: Doch, die direkte Einvernahme ist von Vorteil. Die Mimik, die Präsenz des Zeugen, das unmittelbare Verhalten – das alles ist einzig in einer direkten Einvernahme ersichtlich. Die neue Norm ist ja eine «Kann-Bestimmung». Wichtig ist, dass es im Ermessen des Gerichts liegt, eine Videokonferenz anzuordnen.
Infanger: Da bin ich dagegen. Die Parteien müssten einverstanden sein. Videokonferenzen sind zwar praktisch – besonders in Zeiten der Coronapandemie. Aber ein Gefühl für die Zeugen kann man nur in der direkten Einvernahme bekommen. Das ist nicht nur für den Richter wichtig, sondern auch für die Parteien. Bei einer Videokonferenz sitzt der Befragte vor seinem Notebook. Niemand weiss, was um ihn herum passiert, wer sonst noch im Raum sitzt und ihm allenfalls Anweisungen gibt. Das ist hochproblematisch. Damit wird die Zeugenaussage, schon bisher eher kein verlässliches Beweismittel, noch mehr geschwächt.
plädoyer: Der ZPO-Entwurf sieht neu ein Berufsgeheimnis für betriebsinterne Unternehmensanwälte vor. Weshalb diese Erweiterung?
Infanger: Diese Bestimmung hat grosses Missbrauchspotenzial. Ein Unternehmensjurist darf neu vor Gericht die Aussage verweigern, wenn ihm sein Unternehmen das so vorschreibt. An andere Regeln des Anwaltsgesetzes müsste er sich aber nicht halten.
Josi: Auch ich habe Zweifel, ob die interne anwaltliche Tätigkeit derjenigen eines freiberuflichen Anwalts gleichzusetzen ist. Ein Anwalt übt den Beruf unabhängig aus. Unternehmensjuristen aber sind Angestellte – und somit weisungsgebunden.
plädoyer: Der Vorentwurf des Bundesrats sah auch Sammelklagen und Gruppenvergleiche vor. Nach dem Vernehmlassungsverfahren krebste der Bundesrat zurück. Im Entwurf steht nichts mehr dazu. Ist der Bundesrat unter dem Druck der Konzerne eingeknickt?
Infanger: Da kommt schon noch etwas. Der Druck ist da, man hat die Sammelklage mit dem Argument ausgeklammert, die Vorlage solle nicht überladen werden. Ich kann mir gut vorstellen, dass der Ständerat das wieder aufgreifen wird.
Josi: Für die Schweiz wäre die Sammelklage ein völlig neues Rechtsinstitut. Wir kennen bereits Streitgenossenschaften. Das ist auch eine Art von kollektivem Rechtsschutz. Man kann Pilotprozesse führen, die einen Gruppenvergleich ermöglichen. Überdies stellt das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb Klägern ein Bündel von Rechtsbehelfen zur Verfügung.
Infanger: Wir haben diese Klagemöglichkeiten, aber sie werden heute viel zu wenig genutzt. Ich hatte auch schon Fälle, in denen ich über 200 Leute vertrat. Das gibt es – und es funktioniert auch.
plädoyer: Welche sonstigen Verbesserungen hat der Bundesrat im Entwurf verpasst?
Infanger: Nach geltendem Recht können Parteien ab einem Streitwert von 100 000 Franken einvernehmlich auf ein Schlichtungsverfahren verzichten. Das sollte schon bei tieferen Streitwerten möglich sein. Wenn die Parteien eine Einigung vor dem Friedensrichter für aussichtslos halten, sollte es zudem in jedem Fall möglich sein, direkt Klage am Gericht einzureichen.
Josi: Das sehe ich anders. Nach meiner Erfahrung kommt es oft auch dann zu einem Vergleich, wenn die Parteien zerstritten sind, sie aber eine vorläufige Einschätzung der Prozesschancen von einer fachlich gut zusammengesetzten Schlichtungsbehörde oder dem Gericht erhalten. Was mir im Entwurf fehlt: Man hat versucht, die Streitverkündungsklage attraktiver zu machen. Stattdessen hätte man dieses offenbar unbeliebte Institut gleich aus dem Gesetzestext kippen können. Es bietet gegenüber der blossen Streitverkündung keinen entscheidenden Vorteil, zumal das Verfahren betreffend die Streitverkündungsklage ohnehin meist bis zum Entscheid über die Hauptklage sistiert wird.
Dominik Infanger, 52, Rechtsanwalt und Notar, Chur, FDP
Christian Josi, 47, Präsident Handelsgericht des Kantons Bern, SVP
Die wichtigsten Änderungen der Zivilprozessordnung
Der Entwurf des Bundesrats zur Revision der Zivilprozessordnung liegt zurzeit bei der Rechtskommission des Ständerats. Die wichtigsten Änderungen der Revision:
Kostenvorschuss: Laut Art. 98 kann das Gericht von der klagenden Partei einen Vorschuss von höchstens der Hälfte der mutmasslichen Gerichtskosten verlangen. Ausnahmen sind etwa bei summarischen Verfahren und Rechtsmittelverfahren vorgesehen.
Inkassorisiko und Kostenverteilung sind in Art. 111 geregelt. Das Gericht muss der obsiegenden Partei den Kostenvorschuss erstatten. Ausnahmen gelten wiederum bei Summar- und Rechtsmittelverfahren.
Berufsgeheimnis Unternehmensjuristen: Art. 160a legt fest, dass ein Mitarbeiter eines unternehmensinternen Rechtsdiensts in einem Prozess keine Mitwirkungspflicht hat, wenn die Tätigkeit bei einem Anwalt als berufsspezifisch gelten würde.
Parteigutachten (Art. 177): Auch private Gutachten gelten inskünftig als Urkunden.
Videokonferenz (Art. 170a): Das Gericht kann eine Einvernahme von Zeugen, Parteien oder Experten mittels Videokonferenz oder ähnlichen technischen Mitteln durchführen.