plädoyer: Der Bundesrat hat wegen eines nicht näher zu bestimmenden Risikos den Ausnahmezustand erklärt und mehrere Grundrechte aufgehoben. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben fragte sich: Warum schweigen die Juristen?
Markus Müller: Die Juristen schweigen an sich zu Recht. Sie müssen zuerst einmal den Fachleuten zuhören. Das waren im aktuellen Fall etwa Epidemiologen, Mediziner und Psychologen.
Susanne Kuster: Massnahmen, müssen aber auf rechtsstaatlichem Weg ergriffen werden. Da waren die Juristen der Bundesverwaltung gefragt: Ihre Aufgabe ist es, die Vorschläge der Epidemiologen unter juristischen Gesichtspunkten zu prüfen. Vor allem, wenn Grundrechte der Bürger betroffen sind.
plädoyer: Das Bundesamt für Justiz spielte also eine zentrale Rolle?
Kuster: Das Bundesamt kümmert sich um die präventive Rechtskontrolle. Der Bundesrat kennt vor jedem Entscheid die Einschätzung der Verwaltung und des Bundesamts für Justiz. Dann trifft er den Entscheid. Es wird darauf gehört, was wir empfehlen.
plädoyer: Der Bundesrat hob die Versammlungsfreiheit auf und schloss fast alle Läden. Fragte er zuerst das Bundesamt für Justiz, ob er das gemäss Verfassung darf?
Kuster: Der Bundesrat entscheidet nicht ohne Vorbereitung. Es gibt einen Antrag und einen Verordnungsentwurf. Dabei sind verschiedene Verwaltungsstellen involviert, auch wir.
plädoyer: Artikel 185 der Bundesverfassung gibt dem Bundesrat die Kompetenz, Verordnungen zu erlassen, um «unmittelbar drohenden schweren Störungen der inneren Sicherheit zu begegnen». Ist diese Vollmacht rechtlich unbegrenzt?
Kuster: Nein, der Bundesrat darf nicht alles. Der Bundesrat soll nur tätig werden, wenn der Gesetzgeber nicht agieren kann oder noch kein passendes Gesetz erlassen hat. Es braucht eine zeitliche und sachliche Dringlichkeit für eine Notverordnung. Zudem müssen die getroffenen Massnahmen verhältnismässig sein.
plädoyer: Weder Parlament noch Justiz können überprüfen, ob in einer bestimmten Situation die Voraussetzungen für Notverordnungen gegeben sind. Das bestimmt allein der Bundesrat. Ist es vor dem Hintergrund der Gewaltenteilung sinnvoll, dass dieselbe Instanz, welche die Massnahmen trifft, auch darüber entscheidet, ob sie die Kompetenz dazu hat?
Müller: Ja. Das erachte ich als richtig und sinnvoll. Der Bundesrat darf sagen, ob die Voraussetzungen für eine Notlage erfüllt sind und welche Massnahmen er als angemessen erachtet. Er ist es dann auch, der alleine die Verantwortung zu tragen hat. Rechtlich umstritten ist einzig, ob er sich dafür auf Artikel 185 Absatz 3 der Bundesverfassung oder auf Artikel 7 des Epidemiengesetzes abstützen durfte. Das ist aber letztlich unerheblich. Wichtig ist im heutigen Zeitpunkt einzig, ob er zum Handeln befugt ist. Und das ist er in jedem Fall. Selbst wenn ihn das geschriebene Recht nicht dazu ermächtigen sollte, gäbe es immer noch die polizeiliche Generalklausel. Dabei handelt es sich um ein ungeschriebenes, aber anerkanntes Notfallinstrument, das typischerweise in solchen Krisensituationen zum Einsatz gelangt.
Kuster: Die Verfassung verpflichtet den Bundesrat, in einer solchen Situation Entscheide zu treffen. Diese Verantwortung kann er nicht delegieren. Dann braucht es ein handlungsfähiges Organ. Aber es ist nicht alles zulässig. Massnahmen sind nur in einem bestimmten Rahmen möglich.
plädoyer: Und wer setzt diesen Rahmen? Darf der Bundesrat Freiheitsrechte der Verfassung wie etwa die Bewegungs-, Religions-, Wirtschaftsfreiheit etc. in eigener Kompetenz ausser Kraft setzen?
Müller: Ja. Es mag schockierend wirken, aber es ist so. Der Bundesrat darf und muss gegebenenfalls in die Grundrechte eingreifen. Das geht auch aus Artikel 36 Absatz 1 Satz 2 der Bundesverfassung hervor. Dort heisst es: Einschränkungen von Grundrechten bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Ausgenommen sind Fälle «ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr». Hier braucht der Bundesrat also keine gesetzliche Grundlage, um in die Grundrechte einzugreifen. Das ist Regieren in der Krise.
plädoyer: Das erschreckt Sie nicht?
Müller: Nein, ich vertraue dem Bundesrat. In einer Krise zeigt sich, ob wir gute Leute in der Exekutive haben. Das heisst Leute mit Charakter und Persönlichkeit. Denn sie müssen in heiklen Situationen rasch und entschlossen handeln. Das Parlament wäre dazu nicht in der Lage.
Kuster: Die jetzige Situation ist nicht vergleichbar mit dem Vollmachtenregime des Bundesrats in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Wir sind weit von einem Staatsnotstand entfernt. Wir haben funktionierende Behörden. Wir haben eine funktionierende Justiz.
plädoyer: Das Parlament hat sich für zwei Monate aus dem Spiel genommen.
Kuster: Ja, aber es tat dies freiwillig. Seit Anfang Mai tagt es nun wieder. Auch die parlamentarische Aufsicht über den Bundesrat funktioniert wieder. Der Bundesrat hat weder die Möglichkeit noch die Absicht, das Parlament in seinen Funktionen zu beschneiden.
plädoyer: Wer überprüft die Notverordnungen?
Kuster: Das ist die Aufgabe der die Justiz. Hier ist keine abstrakte, sondern nur eine konkrete Normenkontrolle vorgesehen. Beispiel: Ein Ladenbesitzer, der vom Schliessungsbefehl betroffen war, hätte an die zuständige kantonale Behörde gelangen und eine Ausnahmebewilligung beantragen können. Wäre diese abgelehnt worden, hätte er sich an das kantonale Verwaltungsgericht wenden können.
plädoyer: Gibt es einen Kernbereich der Grundrechte, in den der Bundesrat auch in Notsituationen nicht eingreifen darf?
Müller: Grundsätzlich kann jedes Grundrecht eingeschränkt werden. Der Kerngehalt ist allerdings tabu. Die umstrittene Frage ist allerdings, wie man diesen Kerngehalt bestimmt.
Kuster: Da ist sich die Lehre einig. Der Bundesrat ist als Gesetzgeber tätig. Daher ersetzt die Notverordnung das Gesetz. Aber die restlichen Voraussetzungen einer Grundrechtseinschränkung gelten weiterhin. Es braucht ein öffentliches Interesse und die Verhältnismässigkeit. Grundsätzlich darf der Bund nur dann eingreifen, wenn die normalen Vollzugsorgane nicht mehr reagieren können.
plädoyer: Die Zürcher Regierungsrätin Natalie Rikli erliess ein Dekret an die Alters- und Pflegeheime, das unter Androhung von Freiheitsstrafe anordnete, dass «mutmassliche Covid-19-Patienten» nur in Spitäler verlegt werden dürfen, sofern «Aussicht auf einen Behandlungserfolg» besteht. Wäre eine Strafe gestützt auf dieses Dekret im Einzelfall anfechtbar?
Müller: Ja. Vorausgesetzt, der Kanton verfügt über die entsprechende Kompetenz, ist eine solche Anordnung grundsätzlich zulässig – im Einzelnen aber auf jeden Fall anfechtbar.
Kuster: Ganz generell: Die Anfechtung kantonaler Strafen erfolgt nach dem anwendbaren Verfahrensrecht. Bei einer Anfechtung kann das Gericht überprüfen, ob die Verordnung an sich verfassungsmässig ist.
Müller: Ein Strafrechtsprofessor schrieb in der NZZ, der Bundesrat habe im Rahmen des Notrechts keine Strafkompetenz. Das sehe ich anders. Der Bundesrat darf in einer Notlage nicht nur Massnahmen erlassen, sondern diese bei Bedarf auch durch Strafsanktionen verstärken.
Kuster: Das sehe ich gleich. Es gibt auch einen Entscheid dazu. Das Bundesgericht schützte in BGE 123 IV 29 eine Verurteilung gestützt auf eine Verordnung des Bundesrats. Es ging um ein Waffenverbot für Bürger aus dem ehemaligen Jugoslawien.
plädoyer: Durfte die Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich in der Notverordnung also auch eine Freiheitsstrafe androhen?
Kuster: Die Strafkompetenz für Verbrechen und Vergehen liegt grundsätzlich beim Bund. Das Bundesrecht schliesst hingegen nicht aus, dass die Kantone Widerhandlungen gegen ihr Verwaltungsrecht mit Freiheitsstrafe bedrohen.
plädoyer: Der Kanton Aargau verordnete eine Totalüberwachung des öffentlichen Raums, um das Versammlungsverbot zu kontrollieren. Verhältnismässig?
Kuster: Grundsätzlich fällt die Frage in die kantonale Polizeihoheit. Die Kantone dürfen in diesem Bereich Regelungen treffen. Ich kann nicht beurteilen, ob diese Regelung verhältnismässig ist. Das ist die Aufgabe eines Gerichts.
Müller: Verschiedene Kantone trafen konkrete polizeiliche Massnahmen, um ihrer Vollzugsaufgabe nachzukommen. Die Stadt Grenchen beispielsweise verhängte ein Alkoholverbot auf dem Marktplatz, einem beliebten Treffpunkt, um dort Ansammlungen von mehr als fünf Personen zu verhindern.
plädoyer: In der Stadt Zürich wurde der Zugang zum See gesperrt.
Müller: Hier stellt sich die Frage der Verhältnismässigkeit. Die Behörde vor Ort muss sich fragen, ob dies das mildeste Mittel ist oder ob es gleich wirksame, aber mildere Alternativen gäbe. Die Verhältnismässigkeitsbeurteilung ist immer stark von nichtjuristischem Fachwissen abhängig. Wenn ein Polizeikommandant aufgrund seines Erfahrungswissens ein Zugangsverbot für notwendig hält, weiss ich es als Jurist nicht einfach besser. Meinen Studierenden rate ich daher immer, vorsichtig und bescheiden zu bleiben. Als Juristen können wir vor allem Fragen stellen: Was bringt die Massnahme? Was gibt es für Alternativen? Um die Fragen dann zu beantworten, muss man den Experten zuhören, das dürften hier vor allem Polizisten und Psychologen sein.
Kuster: Der Kanton Uri hatte für kurze Zeit eine Ausgangssperre für Senioren verfügt. Das Bundesamt für Justiz sagte dazu, dass eine generelle Ausgangssperre nicht verhältnismässig wäre. Wir sind der Ansicht, wenn kein zusätzlicher Nutzen zur Bekämpfung der Epidemie dargelegt werden kann, dann ist dies keine erforderliche Massnahme.
plädoyer: Der Bundesrat verfügte die Restaurant- und Ladenschliessungen, als die Ansteckungsquote laut einer Studie der ETH-Zürich nahe bei eins war. Die Zahl der Ansteckungen war also bereits ohne die Schliessungen stark rückläufig. Die Prognosen der Virologen für die weitere Entwicklung gingen weit aus einander. Reichen umstrittene Prognosen, um Notmassnahmen zu erlassen?
Müller: Ja, Prognosen reichen. Es geht kaum anders. Der Bundesrat musste auf unsicherer Basis entscheiden. Er muss abschätzen, ob es diese Massnahme trotz schwerwiegenden Einbussen für die Wirtschaft braucht, um den Schutz der Bevölkerung und das Funktionieren der Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Vielleicht war der Entscheid zu vorsichtig, vielleicht aber auch genau richtig. Wir werden es vielleicht nie genau wissen.
Kuster: Der Bundesrat ergriff bereits vor dem Lockdown Massnahmen. Damals lag noch ein exponentielles Wachstum vor. Die Massnahmen zeigten Wirkung. Aber sie reichten noch nicht. Man wusste auch nicht, wie sich die Massnahmen bezüglich der Kapazitäten bei den medizinischen Einrichtungen entwickeln. Es ist wichtig, die Massnahmen nicht aus nachträglicher Sicht zu beurteilen. Man muss sich in den damaligen Zeitpunkt hineinversetzen.
plädoyer: Wer beurteilt die Verhältnismässigkeit beim Erlass einer Notverordnung?
Kuster: Vor jedem Erlass des Bundesrates erfolgt bei genügend Zeit eine sogenannte Ämterkonsultation. Das Bundesamt für Justiz und die Finanzverwaltung werden immer einbezogen. Zu unserer Aufgabe gehört die Prüfung der Rechtmässigkeit und damit auch der Verhältnismässigkeit.
plädoyer: Wurde das Staatssekretariat für Wirtschaft um seine Meinung angefragt, bevor der Bundesrat die Betriebsschliessungen gemäss der Covid-19-Verordnung 2 erliess?
Kuster: Ja. Grundsätzlich fragte man alle Ämter an, die sachlich involviert sind. Die ersten Massnahmen wurden aber praktisch im Zweitagestakt eingeführt. Da ist es nicht mehr möglich, die ordentlichen Prozesse einzuhalten.
Müller: Wir haben in der Schweiz die Kultur, gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Auch die Kantone waren stets involviert. Soll das Ganze etwas bringen, ist man auf die Akzeptanz der Vollzugsorgane und der Bevölkerung angewiesen. Diese erreicht man nur, wenn man soweit möglich und sinnvoll alle mitnimmt. Ich bin von der Gesamtleistung sehr beeindruckt.
plädoyer: In der Schweiz sind bisher rund 1570 Menschen mit oder an Covid-19 gestorben. Zum Vergleich: Gemäss Zahlen des Bundes gibt es in der Schweiz pro Jahr rund 2200 Leute, die wegen der Luftverschmutzung vorzeitig sterben. Wo liegt die Schwelle für eine Anrufung der Ausnahmeklausel von Artikel 185 der Bundesverfassung?
Kuster: Die Luftverschmutzung ist kein unmittelbar, sofort eintretendes Ereignis, sondern ein langsamer Prozess. Für nicht unmittelbar drohende Gefahren ist der Bundesrat nicht zu sofortigem Handeln berechtigt. Das muss der Bundesgesetzgeber, also das Parlament regeln.
plädoyer: Zurzeit gilt immer noch die ausserordentliche Lage. Sind die Voraussetzungen dazu noch erfüllt? Es gibt kaum mehr Ansteckungen und die Spitäler sind halbleer.
Müller: Ja. Die Situation hat sich epidemiologisch seit Februar nicht wesentlich geändert. Zwar hat die Bevölkerung neue Verhaltensregeln gelernt und diese bis zu einem gewissen Grad verinnerlicht. Das Virus ist aber nach wie vor da. Eine Rückkehr zur «alten» Normalität würde die Ansteckungen wohl rasch wieder in die Höhe treiben. Bis man abschätzen kann, wie die schrittweisen Lockerungen funktionieren, muss der Bundesrat die Zügel daher weiterhin in seinen Händen behalten.
Kuster: Wir sind heute eventuell besser in der Lage, die Epidemie zu bekämpfen. Die Verwaltung beobachtet die Lage laufend – auch gemeinsam mit den kantonalen Vollzugsorganen. Artikel 7 des Epidemiengesetzes sagt nur, wie man in die ausserordentliche Lage kommt – aber nicht, wie zurück. Es gibt noch keine Praxis dazu. Im Vordergrund steht zudem die Frage, wie man das Notverordnungsrecht in normale Gesetze überführen kann. Es gibt Artikel 7d des Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes. Er besagt: Der Bundesrat muss dem Parlament innerhalb von sechs Monaten eine Botschaft unterbreiten, wenn die Massnahmen über diesen Zeitpunkt hinaus dauern sollen.
plädoyer: Sollte für Notsituationen ein Gericht geschaffen werden, das Notverordnungen des Bundesrats überprüft?
Kuster: Notverordnungsrecht wird von der Exekutive rasch erlassen. Das unterscheidet es von einem ordentlichen Gesetz. Aber sobald das Recht erlassen ist, gibt es keinen Unterschied. Bei normalen Bundesgesetzen gibt es auch keine abstrakte Normenkontrolle. Über diese Frage kann man aber selbstverständlich diskutieren. Daher drängt sich nicht spezifisch beim Notverordnungsrecht ein Verfassungsgericht auf. Aber vergessen Sie nicht die anderen Kontrollmechanismen: Das Parlament ist wieder handlungsfähig. Es tagt wieder. Das Parlament hat alle Instrumente zur Hand, um den Bundesrat zu beaufsichtigen.
Müller: Es klingt gut, eine Notverordnung vor ein Verfassungsgericht zu bringen. Aber das würde die Führung in einer schwierigen Zeit destabilisieren und das dringend notwendige Vertrauen unterminieren. Für eine Notsituation genügt der vorliegende Rechtsschutz vollauf. Auch in einem Rechtsstaat.
plädoyer: Ist Ihr Vertrauen in die Exekutive grösser als in die Judikative?
Müller: Ja, in der gegenwärtigen Krise auf jeden Fall. Das hängt natürlich mit der Gewaltenteilung und vor allem auch mit der aktuellen personellen Zusammensetzung unserer Exekutive zusammen. Ich fühle mich von ihr umsichtig und verantwortungsvoll regiert.
Kuster: Der Bundesrat arbeitet nicht für sich im stillen Kämmerchen. Das Parlament wird über die laufenden Entwicklungen informiert. Auch die Medien haben eine Kontrollfunktion. Ich finde es gut, wenn Massnahmen in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Dann kann man auch nachbessern. Das war etwa bei den Sortimentsbeschränkungen der Fall. Zuerst wollte man den Grossverteilern beim Lockerungsschritt das ganze Sortiment erlauben. Das gab dann einen Aufschrei wegen Wettbewerbsverzerrungen. Der Bundesrat reagierte darauf und korrigierte das.
plädoyer: Der deutsche Professor, ehemalige Richter und Journalist Heribert Prantl sagte: «Man muss nicht nur entschlossen gegen das Virus kämpfen, sondern auch gegen die Stimmung, welche die Grundrechte in Krisenzeiten als Ballast, Bürde oder Luxus betrachtet.» Stimmen Sie ihm zu?
Müller: Ich bin mit der Annahme nicht einverstanden, die der Aussage zugrunde liegt. Denn Bürgerrechte werden von niemandem als Ballast beurteilt. Was man aber oft vergisst: Es gibt nicht nur Bürgerrechte, sondern auch Bürgerpflichten. Diese sind gemeinwohlorientiert. Die Leute müssen wissen, dass sie auch die Pflicht haben, auf Rechte zu verzichten, zum Wohle der Allgemeinheit.
Kuster: Bürger- und Grundrechte sind nie Luxus, sondern notwendig. Sie müssen auch in Krisenzeiten so gut wie möglich gewahrt werden. Grundrechte gelten nicht absolut, sie dürfen nur in einem bestimmten Rahmen eingeschränkt werden.
Markus Müller, 59, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht, Bern. Dissertation: Zwangsmassnahmen als Instrument der Krankheitsbekämpfung – Das Epidemiengesetz und die Persönliche Freiheit, 1992.
Susanne Kuster, 47, stellvertretende Direktorin des Bundesamts für Justiz und Leiterin des Direktionsbereichs für öffentliches Recht
Kritik von Rechtsprofessoren: “Wir sind dem Bundesrat ausgeliefert”
Die Massnahmen des Bundesrates im Zusammenhang mit dem Coronavirus führten in den letzten Wochen zu Widerspruch. Mehrere Staatsrechtsprofessoren übten über die Medien Kritik an Bundesrat und Parlament.
Der Zürcher Staatsrechtler Andreas Kley bezeichnet es als «mehr als fragwürdig», dass der Bundesrat das Verbot von Veranstaltungen auch auf kantonale Parlamente ausweitete. Kley schrieb in der «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ): «Parlamentarische Sitzungen sind keine politischen Versammlungen, sondern das Herzstück der Demokratie.» Und die Polizeigeneralklausel dürfe nicht direkt gegen demokratische Verfahren angerufen werden.
Verfassungsrechtler Giovanni Biaggini von der Universität Zürich war an der Ausarbeitung der Bundesverfassung vor zwanzig Jahren beteiligt. Er zeigt sich in der NZZ überrascht, welche Bedeutung die einst polizeilich motivierte Notrechtsklausel in der Verfassung innert kürzester Zeit erlangt habe. Die Notverordnungskompetenz sei damals bewusst zurückhaltend ausgestaltet worden. Nun sei sie nicht wiederzuerkennen. Biaggini: «Ich mache mir Sorgen, dass hier ein Präzedenzfall geschaffen wird.»
Die Verwaltungsrechtler Felix Uhlmann und Martin Wilhelm kritisieren in einem Gutachten den Abbruch der Session des Parlaments durch die Ratsbüros als «rechtlich problematisch». Dies sei vorschnell und unter Umgehung der Regeln geschehen.
Die Berner Staatsrechtler Thomas Cottier und Jörg Paul Müller bemängeln in der NZZ die ungleichen Ellen bei den Laden- und Sortimentsschliessungen. Gewerbebetriebe, welche die gesundheitspolitischen Vorschriften einhalten könnten, müssten alle gleich behandelt werden: «Die Unterscheidung nach Geschäftsfeldern oder die Beschränkung auf lebensnotwendige Güter und Dienstleistungen müsste unter dem Gesichtspunkt der Rechtsgleichheit und Verhältnismässigkeit überprüft werden.» Der Luzerner Paul Richli sagt zum Streit um die Geschäftsmieten, die Landesregierung dürfe zur Eindämmung der Pandemie zwar Notrecht anwenden, aber das legitimiere nicht «jedweden entschädigungslosen Eingriff in Wirtschaftsfreiheit und Eigentumsgarantie». In einem Brief an Bundesrätin Keller-Sutter und die Mitglieder beider Räte fordert er den Bund auf, einen Teil der Geschäftsmieten wegen Lockdowns zu bezahlen.
Der Freiburger Strafrechtler Marcel Alexander Niggli vertrat in der NZZ die Ansicht, weder die Bundesverfassung noch das Epidemiengesetz würden es erlauben, neue Strafnormen einzuführen, wie es der Bundesrat getan habe. «Wer dem Bundesrat Strafkompetenz zuspricht, meint daher nicht Notrecht, also Massnahmen zur Gefahrenabwehr, sondern den Ausnahmezustand, also die Abkehr vom Recht.»
Der Basler Staats- und Verwaltungsrechtler Markus Schefer ortet laut dem Internetmagazin «Republik» beim Erlass neuer Regeln und bei ihrer Umsetzung zunehmend eine Geisteshaltung, die «nicht mehr mit der Idee des Polizei-Notrechts in Einklang zu bringen» sei. «Wir sind dem Bundesrat ausgeliefert. Die Juristen vom Bundesamt für Justiz beraten den Bundesrat, dass die Massnahmen verfassungskonform sind. Wenn der Bundesrat diese Massnahmen aber anders gestalten will, ist zurzeit niemand da, der ihn daran hindert. Höchstens die Kantone bei der Umsetzung. Sie können faktisch entscheiden, wie weit sie den Vorgaben folgen. Der Föderalismus kann eine Chance sein für mehr Rechtsstaatlichkeit.»
Die Notrechtskompetenzen des Bundesrats
Bundesverfassung, Artikel 185 Absatz 3
Der Bundesrat kann, unmittelbar gestützt auf diesen Artikel, Verordnungen und Verfügungen erlassen, um eingetretenen oder unmittelbar drohenden schweren Störungen der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicherheit zu begegnen. Solche Verordnungen sind zu befristen.
Artikel 7 Epidemiengesetz
Wenn es eine ausserordentliche Lage erfordert, kann der Bundesrat für das ganze Land oder für einzelne Landesteile die notwendigen Massnahmen anordnen.