Mit dem Schrems-Urteil1 sorgte der Europäische Gerichtshof in Luxemburg (EuGH) in den Schweizer Medien für Schlagzeilen.2 Landauf, landab wurde über die Folgen des Entscheids diskutiert, der zum Schluss kam, dass die USA nicht über ein genügendes Schutzniveau für personenbezogene Daten verfügen.
Nur selten schafft es ein EuGH-Urteil, über den akademischen Bereich hinaus breite Medienaufmerksamkeit zu erzeugen. Dies ist auf den ersten Blick verständlich, ist die Schweiz im Unterschied zu ihrer Mitgliedschaft im Europarat und dem zur selben Organisation gehörenden Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg (EGMR) schliesslich nicht Teil der Europäischen Union mit ihrem obersten rechtsprechenden Organ, dem EuGH. Damit sind die EuGH-Urteile für die Schweiz grundsätzlich nicht verbindlich.
Da die Schweiz durch die bilateralen Verträge teilweise am europäischen Binnenmarkt partizipiert, gibt es jedoch einige Besonderheiten. So wurden zwar keine Gesetzgebungskompetenzen an eine supranationale Instanz übertragen, weshalb die Mehrheit der Verträge auf dem Prinzip der Gleichwertigkeit der Gesetzgebung der Parteien gründet.3 Ebenso sind diese Abkommen mehrheitlich statisch ausgestaltet, was bedeutet, dass die Schweiz gesetzgeberische Entwicklungen in der EU- und EuGH-Rechtsprechung nach der Unterzeichnung des Abkommens nicht automatisch übernehmen muss. Dennoch kann die Schweiz die Rechtsprechung des EuGH nicht einfach ignorieren. Hierfür sprechen einerseits wirtschaftliche Gründe; so würde ein stetiges Auseinanderdriften der Rechtsordnungen einem anfänglichen Ziel der bilateralen Verträge, vereinfachten grenzüberschreitenden Handel zu ermöglichen, zuwiderlaufen. Marktzutrittsschranken würden so entstehen und die Kosten für grenzüberschreitend tätige Unternehmen steigen. Andererseits sieht ein Teil der bilateralen Verträge explizit vor, dass die EuGH-Rechtsprechung berücksichtigt wird.4 Hierzu sind die Abkommen über die Personenfreizügigkeit,5 zum Luftverkehr6 sowie Schengen7 und Dublin8 zu zählen.
Zu unterscheiden ist damit die Berücksichtigung der EuGH-Urteile im Rahmen der bilateralen Verträge und der autonome Nachvollzug. Letzterer sieht eine freiwillige, nicht staatsvertraglich ausgelöste Anpassung des schweizerischen Rechts an die korrespondierenden Entwicklungen in der EU an.9
Die formellen Schnittstellen der Schweiz zur Rechtsprechung des EuGH sind beschränkt. Betrachtet man zusätzlich die jährliche Anzahl der Urteile des EuGH, so bleiben die Konsequenzen jener Urteile sowohl zahlenmässig als auch von der Wirkung her für die Schweiz begrenzt. Nichtsdestotrotz sollte die Wirkung der EuGH-Urteile auf die Schweiz nicht unterschätzt werden.
Nachfolgend in einer Übersicht – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – einige jüngere Urteile, die sich in unterschiedlicher Art und Weise auf die Schweiz auswirken.
Mehrere Urteile über Fluggastrechte
Eine wichtige Rolle spielt der EuGH im Bereich der Luftfahrt, wo die Schweiz durch das bilaterale Luftverkehrsabkommen (LVA) in den Binnenmarkt eingebunden ist. Art. 8 und 9 LVA statuieren die Übernahme des EU-Wettbewerbsrechts für den Sektor, wobei die Europäische Kommission über die Einhaltung der entsprechenden Regeln wacht (Art. 11) und der EuGH für etwaige Streitigkeiten zuständig ist (Art. 20 LVA). Art. 1 Abs. 2 verpflichtet die Schweiz darüber hinaus, bei der Anwendung des Abkommens die Rechtsprechung des EuGH zu übernehmen. Dies jedoch nur, sofern entsprechende Präjudizien vor der Unterzeichnung des Abkommens ergangen sind. Aufgrund dieser weitreichenden Übertragung von Kompetenzen wird das LVA auch als Teilintegrationsabkommen bezeichnet.10
Aktiv hat sich der EuGH insbesondere im Bereich der Fluggastrechte gezeigt. Die Schweiz hat die einschlägige EU-Verordnung (EG) 261/2004 (Fluggastrechte-VO)11 per 1. Dezember 2006 übernommen. Diese ist direkt anwendbar.12 Zwar ist die Fluggastrechte-VO erst nach Unterzeichnung des Luftverkehrsabkommens in den Anhang des LVA übernommen worden, sodass im Hinblick auf Art. 1 Abs. 2 LVA fraglich ist, ob die EuGH-Rechtsprechung in diesem Bereich verbindlich ist.
Kaddous / Tobler argumentieren mit Hinweis auf die vom Bundesgericht bestätigte parallele Rechtsprechung im Bereich der Personenfreizügigkeit allerdings, dass die Übernahme der EU-Rechtsprechung aufgrund des besonderen Charakters des LVA in diesem Bereich angezeigt ist.13 Ob die Übernahme der konsumentenfreundlichen EuGH-Rechtsprechung in Sachen Fluggastrechte auch vom Schweizerischen Bundesgericht in Gänze bestätigt würde, soll hier nicht weiter ausgeführt werden. Ein Blick auf die EuGH-Rechtsprechung ist angesichts der praktischen Relevanz der Fluggastrechte dennoch geboten.
Im Fall van der Lans präzisierte der EuGH beispielsweise den Begriff der ‹aussergewöhnlichen Umstände› nach Art. 5 Abs. 3 der Fluggastrechte-VO.14 Der Gerichtshof hielt fest, dass Fluggesellschaften auch dann Entschädigungen leisten müssen, wenn eine Verspätung oder Annullierung durch unvorhersehbare technische Probleme verursacht wurde. Im Ausgangsverfahren hatte die Reparatur verschiedener technischer Mängel eine Verspätung von mehr als 29 Stunden verursacht. Eine Berufung auf aussergewöhnliche Umstände liessen die Richter nicht gelten.
Von aussergewöhnlichen Umständen ist gemäss EuGH auch dann nicht auszugehen, wenn ein Treppenfahrzeug mit einem Flugzeug kollidiert und damit eine entschädigungspflichtige Verspätung auslöst.15
In einem weiteren Urteil zu den Fluggastrechten konkretisierte der EuGH, wann von einer Ankunft im Sinne der Fluggastrechte-VO auszugehen ist.16 Dies ist erst der Fall, wenn mindestens eine der Flugzeugtüren geöffnet ist. Erst zu diesem Zeitpunkt könne das Ausmass der Verspätung und damit die Höhe einer möglichen Entschädigung bestimmt werden.
Wie beim Luftverkehrsrecht wird auch beim Schengen- und Dublin-Abkommen sowie bei der Personenfreizügigkeit eine Berücksichtigung der EuGH-Rechtsprechung nahegelegt.17 Aus Platzgründen wird hier jedoch auf eine nähere Betrachtung der zahlreichen entsprechenden Urteile verzichtet und auf die Rechtsprechungsübersicht im Schweizerischen Jahrbuch für Europarecht vergewiesen.18
Medienwirksame Entscheide
Das eingangs genannte Urteil im Fall Schrems betraf einen Österreichischen Facebook-User, der sich dagegen wehrte, dass seine Daten in die USA geliefert wurden. Hatte die Europäische Kommission im Jahr 2000 in einer Entscheidung festgehalten, dass das Schutzniveau für die übermittelten Daten genügend ist, so kam der EuGH heuer zum Schluss, dass dies angesichts der in der Zwischenzeit bekannt gewordenen NSA-Zwischenfälle nicht mehr der Fall sei.
Der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte wies in einer Stellungnahme darauf hin, dass auch das Schweizer Abkommen mit den USA zum Austausch von personenbezogenen Daten in Frage gestellt sei.19 Zwar ist der Austausch im bisher geltenden Rechtsrahmen nach wie vor möglich, doch weist der Datenschutzbeauftragte darauf hin, dass im Falle einer Neuverhandlung nur ein international koordiniertes Vorgehen zielführend sein könne. Da die Rechtsgrundlagen der Schweiz zum Datenschutz weitgehend vergleichbar sind, ist eine gänzlich andere Beurteilung des Datenschutzniveaus in den USA durch die Schweizer Behörden schwer denkbar.20
In einem Urteil, das einen anderen US-Internetgiganten, nämlich Google, betraf, kam der EuGH zum Schluss, dass unter gewissen Umständen ein Recht auf Löschung von Sucheinträgen besteht.21 Dieses Recht auf Vergessen, das dem individuellen Recht auf Privatsphäre und dem Datenschutz eine höhere Gewichtung verleiht als der Informationsfreiheit und den wirtschaftlichen Interessen des in Frage stehenden Unternehmens, wurde von Google auch in der Schweiz angewendet.22 So löschte Google im Zuge des Urteils auf Antrag 4910 Links.23
Ebenfalls für Aufsehen sorgte das EuGH-Urteil zur Vorratsdatenspeicherung.24 Die entsprechende EU-Richtlinie verfolgte das Ziel, gewisse Kommunikationsdaten den Ermittlungsbehörden zwecks Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von schweren Straftaten zur Verfügung zu stellen.25 Die Luxemburger Richter kamen jedoch zum Schluss, dass die Richtlinie aufgrund verschiedener darin enthaltener Bestimmungen in unverhältnismässigem Ausmass in die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens sowie auf Schutz personenbezogener Daten eingreift und damit ungültig ist.
In der Schweiz wird die Diskussion über die Vorratsdatenspeicherung und deren Auswirkungen auf die Grundrechte im Rahmen der BÜPF-Revision geführt.26 Dabei wurde das EuGH-Urteil insbesondere von Gegnern der Revision angeführt, um auf die Grundrechtsauswirkungen aufmerksam zu machen.27 Befürworter der Revision machen hingegen geltend, dass das geplante BÜPF die vom EuGH gerügten Mängel der Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie gar nicht enthält.28
Eine Auswirkung könnte das EuGH-Urteil für die Schweiz insofern haben, als die Gegner der Vorratsdatenspeicherung planen, ihre Beschwerde gegen die Vorratsdatenspeicherung bis vor den EGMR zu ziehen,29 wo das Luxemburger Urteil als Anhaltspunkt fungieren dürfte.
Freier Kapital- und Zahlungsverkehr
Erhöhte Aufmerksamkeit wird EuGH-Urteilen in der Schweiz auch dann zuteil, wenn sie den freien Kapital- und Zahlungsverkehr betreffen (Art. 63 ff. AEUV). Dieser ist eine der vier Grundfreiheiten der EU und im Gegensatz zu den anderen drei können sich auch natürliche und juristische Personen aus Drittstaaten – von einigen Ausnahmen abgesehen – darauf berufen.30 Landolf und Widrig-Giallouraki erwähnen hierzu zwei neuere relevante Urteile.31 Im Urteil zur Rechtssache C-190/12 ging es um einen US-amerikanischen Investmentfonds, der sich darauf berief, dass Dividenden, die von in Polen ansässigen Gesellschaften an ihn ausgeschüttet wurden, nicht von der Steuer befreit waren, während polnische Investmentfonds von solchen Abgaben befreit waren. Der EuGH hielt fest, dass eine solche Diskriminierung nicht mit EU-Recht vereinbar ist.
Im Urteil C-127/12 hielt der EuGH sodann fest, dass Spanien mit der Ungleichbehandlung von im In- und Ausland ansässigen Erblassern und -berechtigten sowie von Immobilien gegen die Bestimmungen des freien Kapital- und Zahlungsverkehrs verstösst.32
Auch in Steuersachen hat der EuGH ein Urteil gefällt, das insbesondere Schweizer Unternehmen betrifft. In der Rechtssache C-7/13, die die Auslegung der Mehrwertsteuerrichtlinie betraf,33 entschied der EuGH, dass Dienstleistungen, die eine in einem Drittland ansässige Hauptniederlassung gegen Entgelt einer in einem Mitgliedstaat ansässigen Zweigniederlassung derselben Gesellschaft erbringt, der Mehrwertsteuer unterliegen.34 Der EuGH war der Ansicht, dass die Zweigniederlassung durch Aufnahme in die Mehrwertsteuergruppe nicht mehr Teil des Unternehmens des Stammhauses ist, sondern Teil der Mehrwertsteuergruppe wird. Die empfangende Zweigniederlassung wird in diesem Fall mehrwertsteuerpflichtig.
Um die Ermittlung des Gerichtsstandes ging es im Fall Kainz.35 Entscheidungen zum Gerichtsstand sind für die Schweiz im Rahmen des LugÜ 36 relevant und daher von Interesse.37 In casu stand die Bestimmung des Orts eines schädigenden Ereignisses im Rahmen einer Produkthaftungsklage im Zentrum. Nach einem Fahrradunfall in Deutschland erhob Andreas Kainz mit Verweis auf Art. 5 EuGVO 38 bzw. Art. 7 Nr. 2 Verordnung (EU) 1215/12 39 (die EuGVO ist inzwischen aufgehoben und durch die Verordnung [EU] 1215/2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ersetzt worden) eine Produkthaftungsklage in Österreich, da sein Fahrrad dort in Verkehr gebracht worden war. Der EuGH entschied jedoch, dass der Ort des den Schaden verursachenden Ereignisses in Deutschland liegt, wo das betreffende Produkt hergestellt wurde. Somit ist nicht der Ort des Inverkehrbringens, sondern der Herstellungsort der für den Gerichtsstand entscheidende Anknüpfungspunkt.
Ein weiteres interessantes Urteil fällte der EuGH in der Rechtssache C-242/13, die den Transport von Tieren betraf .40 Die Luxemburger Richter verhalfen EU-Recht dabei zu extraterritorialer Anwendung, indem sie entschieden, dass EU-Vorschriften bezüglich Tiertransporte auch ausserhalb der EU-Grenzen anwendbar sind, wenn die Transporte in Drittstaaten auf EU-Territorium begonnen haben. Zwar ist nicht anzunehmen, dass Schweizer Gesetze zum Tierschutz beim Transport wesentlich von den Europäischen Normen abweichen, womit das in Frage stehende Urteil keine grosse praktische Bedeutung für die Schweiz hat, dennoch ist diese territoriale Ausdehnung des EU-Rechts bemerkenswert.41