plädoyer: Der Allgemeine Teil des Obligationenrechts (OR) ist über hundert Jahre alt. Er wird heute noch von vielen Rechtswissenschaftern als «grosser Wurf» bezeichnet. Ist das Werk tatsächlich revisionsbedürftig?
Reto M. Hilty: Ich hatte eine persönliche Motivation für einen Revisionsentwurf, die mit Heinrich Honsell zusammenhängt. Unter seiner Mitbetreuung habilitierte ich zum Lizenzvertrag. Dabei stellte ich fest, dass der Allgemeine Teil des OR dafür und überhaupt für Dauerschuldverhältnisse in vielen Bereichen keine Antworten gibt.
plädoyer: Es gibt aber neben dem Wortlaut des Gesetzes auch die Gerichtspraxis. Sie hat das OR doch im Laufe der Jahrzehnte verfeinert und verbessert.
Hilty: In den erwähnten Bereichen genügt auch die Gerichtspraxis nicht. Allgemein war es übrigens das Anliegen der ursprünglichen Autoren des OR, dass das Gesetz im Wesentlichen selbsterklärend ist. Das heisst nicht, dass das heutige OR nicht nach wie vor ein hervorragendes Gesetz ist. Aber in über hundert Jahren sind viele Dinge zusammengekommen, in denen Gesetz und Rechtsprechung zu weit auseinanderliegen. Dies rechtfertigt ein Nachtragen der wichtigsten Entwicklungen.
plädoyer: Warum beschränken sich die Revisionsvorschläge auf den Allgemeinen Teil?
Hilty: Schon die Revision des Allgemeinen Teils war eine riesige Aufgabe. Den Besonderen Teil zeitgleich mitzurevidieren war unrealistisch.
plädoyer: In der Wirtschaft haben sich neue Verträge herausgebildet, etwa Leasing- oder Franchiseverträge. Die gab es vor hundert Jahren noch nicht. Trotzdem ist die Justiz damit gut zurechtgekommen. Heinrich Honsell, sehen Sie dennoch Renovationsbedarf?
Heinrich Honsell: Kommt man vom Lizenzvertrag her, so ist es verständlich, dass man sagt, vieles sei nicht geregelt. Lösungen kann man aber in Analogie zum Pachtvertrag finden. Im OR fehlt vor allem eine allgemeine Vorschrift über die Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund und eine Regelung der Geschäftsgrundlage. Die Judikatur hat aber diese Lücken gefüllt. Der Entwurf OR 2020 versucht weitgehend nur, die Ergebnisse der Rechtsprechung in vernünftiger Form ins Gesetzbuch zu schreiben. Das ist prima vista nicht verkehrt. In Wahrheit enthält er aber viele kosmetische Korrekturen. Da gibt es sprachliche Überarbeitungen, bei denen nicht klar ist, ob sie nicht auch mit einer materiellen Änderung verbunden sind. So entstehen Unsicherheiten und Streit.
plädoyer: Mit dem neuen Entwurf tauscht man also Gewissheit gegen Unsicherheit?
Honsell: Ja, das ist meines Erachtens der zentrale Einwand gegen die Totalrevision. Mit ihr macht man eine ganze Bibliothek von Judikatur und Literatur zu Makulatur. Das Alte gilt ab sofort nicht mehr. Alles muss nach den neuen Artikeln entschieden werden. Daraus entsteht ein unnötiger Lernbedarf, der für das rechtskundige Publikum eine Zumutung ist.
plädoyer: Teilen Sie den Befund der 23 Wissenschafter nicht, dass der Allgemeine Teil überarbeitungsbedüftig ist?
Honsell: Namentlich der Allgemeine Teil des OR funktioniert sehr gut – warum soll man ihn revidieren? Das OR ist ein Jahrhundertdenkmal! Es ist auch nicht so abstrakt und schwierig formuliert wie das deutsche BGB. Für die überraschende Diagnose, der Allgemeine Teil sei lückenhaft, zu detailliert und widersprüchlich, gibt es keine Belege. Das OR 2020 stellt jedenfalls gesamthaft keine Verbesserung dar.
plädoyer: Reto Hilty, ist Ihr Entwurf eine Verbesserung?
Hilty: Auf alle Fälle. Eigentlich handelt es sich um ein Generationenproblem. Wir formulieren das OR so, dass es der heutige Mensch von der Strasse versteht. In unseren Augen stellt sich die Frage, wie elitär ein Gesetz sein soll. Wollen wir ein Gesetz, das nur versteht, wer einen Juristen beizieht, der die Rechtsprechung kennt? Oder wollen wir ein Gesetz, das ein Kaufmann in die Hand nehmen und verstehen kann? Der darin beispielsweise liest: Wenn sich die Umstände verändert haben, kann man den Vertrag anpassen.
Honsell: Bei vielen Änderungen geht es nicht um eine inhaltliche Reform, sondern um stilistische Anpassungen mit fragwürdigem Wert. Soll man etwas, das funktioniert, austauschen zugunsten von etwas Neuem, das einem besser gefällt, aber nun frisch eingeübt werden muss? Es läuft ja alles sehr gut mit dem gegenwärtigen OR und es gibt gerade beim Allgemeinen Teil überhaupt keinen Grund, etwas zu ändern. Ich sehe den Änderungsbedarf im Besonderen Teil des OR: etwa im Gesellschaftsrecht. Das Wertpapierrecht könnte man vielleicht ganz streichen. Aber jetzt liegt eine Totalrevision des Allgemeinen Teils vor, obwohl hier kein Änderungsbedarf besteht. Der Allgemeine Teil des OR ist relativ abstrakt und funktioniert gerade deshalb auch unter geänderten Verhältnissen gut.
Hilty: Die Frage, warum nicht auch eine Revision des Besonderen Teils des OR in Angriff genommen wird, ist berechtigt. Aber ich meine, man muss irgendwo beginnen und dann selbstverständlich die Anschlussstellen revidieren.
Honsell: Ich würde da beginnen, wo Bedarf besteht. Schauen Sie einmal an, wie oft der Gesetzgeber im Besonderen Teil etwas geändert hat und wie wenig im Allgemeinen Teil.
Hilty: Wer etwas ändern will, hat es immer schwerer als jener, der behauptet, Bisheriges habe sich bewährt. Die Pfahlbauten im Zürichsee haben sich auch bewährt –und trotzdem sitzen wir heute hier, weil nachfolgende Generationen auf die Idee kamen, etwas Neues zu bauen. Im Ernst: Es gibt Teile im OR 2020, die sehr innovativ sind, etwa das Liquidationsregime oder überhaupt die Regelungen bei Leistungsstörungen. Auch die Systematik wurde verbessert. Deshalb kann man nicht einfach sagen, alles sei nur umgeschrieben.
plädoyer: Wie gingen die 23 Wissenschafter vor, um den Renovationsbedarf zu definieren?
Hilty: Wir wollten Bewährtes behalten und Überholtes renovieren. Wir versuchten, das in einen einheitlichen, konzisen Guss zu bringen. Unsere Motivation war stark vom Gedanken geprägt: Ein Gesetz sollte verständlich sein. Und man sollte die Rechtsprechung nicht kennen müssen, um aus dem Gesetz eine Antwort zu erhalten. Wir haben ja kein Case Law, sondern ein Zivilrechtssystem mit einem Erlass, der gerade für das Wirtschaftsleben von grosser Bedeutung ist. Die Marktbeteiligten sollten in der Lage sein, mit dem Recht klarzukommen, ohne dass sie jedes Mal einen Anwalt beiziehen müssen.
Honsell: Das Streben nach Allgemeinverständlichkeit ist löblich. Nur bestreite ich, dass der Versuch erfolgreich war. Denn das geplante neue OR ist nirgendwo einfacher und selbsterklärender als das alte. Das geht auch gar nicht. Ich kann doch nicht eine so hochabstrakte Materie wie den Allgemeinen Teil des OR so umschreiben, dass ihn jeder Bürger ohne Anleitung versteht. Das ist schlicht unmöglich.
plädoyer: Können Sie ein missglücktes Beispiel nennen?
Honsell: Ausgesprochen missglückt ist das von Herrn Hilty gelobte Liquidationsregime: Die Vereinheitlichung der anfänglichen Ungültigkeit eines Vertrages und des späteren Wegfalls durch Anfechtung, Rücktritt und so weiter. Nichtigkeit und Erfüllungsmängel sind zwei Paar Stiefel, die nicht über einen Leisten geschlagen werden können. Auch das Bereicherungsrecht wird dadurch völlig atomisiert und das Verhältnis zur Vindikation ist nicht geklärt.
plädoyer: Ist der Entwurf zu wenig durchdacht?
Hilty: Nein, anscheinend wird er nur nicht von allen verstanden. Lassen Sie mich erklären: Es gibt im Grunde Konstellationen, in denen ein Vertrag zustande kommt, und solche, in denen er nicht zustande kommt. Wenn ein Vertrag überhaupt nicht zustande kommt, aber trotzdem Leistungen erbracht werden, dann löst man dies mit den Normen der ungerechtfertigten Bereicherung oder der Vindikation. Wenn der Vertrag hingegen (vielleicht auch nur vermeintlich) zustande gekommen ist, aber nicht gültig sein kann, sollen die Parteien im Geiste dessen, was sie ursprünglich wollten, auseinanderdividiert werden. Dazu dienen die Normen zum Liquidationsverhältnis.
Honsell: Ich glaube, dass die Verfasser das Bereicherungsrecht und die ganze Causa-Lehre nicht verstanden haben. Die ist nicht nur im OR, sondern auch im Sachenrecht von Bedeutung. Es war eine enorme dogmatische Leistung zu sagen: Wenn ein Vertrag nichtig ist, wird genauso rückabgewickelt, wie wenn kein Vertrag da ist. Die Lösungen waren in sich stimmig. Der Entwurf OR 2020 bringt hier nur Unklarheit. Eher diskutabel ist zudem der Vorschlag, die Formnichtigkeit nach dem Formzweck zu variieren und gestützt darauf die Rechtsfolge zu definieren. Bisher führten Formmängel, abgesehen von den Fällen missbräuchlicher Berufung auf die fehlende Form, praktisch immer zur Nichtigkeit des Vertrags. Der Entwurf geht freilich auch hier zu weit. Denn die Formstrenge repräsentiert Rechtssicherheit. Wenn ich aber sage, alles hängt vom konkreten Zweck des Vertrages ab, also vom Einzelfall, dann weiss kein Mensch mehr, ob der Vertrag nichtig ist oder nicht. Das bringt für die Rechtsanwendung keine Verbesserung.
Hilty: Die Rechtsfolge einer Formungültigkeit hängt nicht nur vom Einzelfall ab, sondern von der jeweiligen Norm, die in einem Spezialgesetz stehen kann. Nach dem Entwurf OR 2020 kommt es darauf an, welchen Zweck die jeweilige Formvorschrift verfolgt. Es kann zum Beispiel um Verkehrssicherheit oder um Übereilungsschutz gehen etc. Dabei wird eine Schutznorm abstrakt betrachtet, es herrscht also gerade kein Einzelfalldenken. Dieses Konzept spiegelt letztlich nur die Rechtsprechung zu den Folgen von Formmängeln.
plädoyer: Die Praxis wartet schon lange auf einen Artikel im OR zu den AGB. Bringt der Entwurf eine Regelung?
Hilty: Wir haben heute eine Regelung im Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG). Da gehört sie nicht hin. Aber im Parlament war ein OR-Artikel zu den AGB bislang nicht konsensfähig. Unser Entwurf regelt in Artikel 32 den Grundsatz «in dubio contra stipulatorem», also die Auslegung im Zweifel zulasten des Verfassers. Artikel 33 regelt die Ungültigkeit von AGB, die «in gegen Treu und Glauben verstossender Weise ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis» zwischen vertraglichen Rechten und Pflichten begründen. Wir glauben, dass das vertretbar und vielleicht konsensfähig ist. Aber es ist sicher nicht so, dass alle damit zufrieden sind – die einen wollen mehr, die andern weniger Schutz.
Honsell: Der Artikel 33 ist inhaltlich im Wesentlichen der heutige Artikel 8 UWG mit zivilrechtlicher Folge. Dieser Artikel hat heute zwei Fehler. Erstens steht er im falschen Gesetz, weil es kein UWG-Problem ist, sondern ein Konsumentenschutzproblem. Der zweite Fehler ist ein materieller: Das AGB-Problem beschlägt beileibe nicht nur den Konsumentenschutz. Das wurde verkannt. Auch im Handelsverkehr ist es oft so, dass die Grossen die Kleinen mit AGB benachteiligen, etwa Autohersteller ihre Zulieferer. Dort muss eine neue Lösung ansetzen. Das macht der Entwurf OR 2020. Jetzt gilt der Artikel generell.
plädoyer: Im Allgemeinen Teil des OR ist auch die Verjährung geregelt. Hier besteht nach überwiegender Meinung ein Revisionsbedarf. Deshalb liegt bereits ein Gesetzesentwurf von Experten vor.
Honsell: Wie der Entwurf des Justizdepartements will auch das OR 2020 aus jeder Verjährung eine relative und eine absolute machen. Das hatten wir früher nur bei Artikel 60 OR – im Deliktsrecht. Dort hat es einen Sinn: Man muss innert einer gewissen Zeit klagen, damit Rechtsklarheit entsteht. Die Frist beträgt bisher ein Jahr. Neu soll sie auf drei Jahre erweitert werden. Dieses eine Jahr gilt aber erst ab Kenntnis des Schadens und der Person des Schädigers. Das ist vernünftig. Wenn ich also weiss, wer mich am Fussgängerstreifen angefahren hat, dann muss ich mir binnen eines Jahres – neu binnen drei Jahren – klar werden, ob ich gegen diese Person vorgehen will. Die Frage, ob ein Deliktsanspruch geltend gemacht wird, soll nicht auf die lange Bank geschoben werden. Es ergibt aber keinen Sinn, eine solche relative Frist, die ab Kenntnis des Schadens und des Schädigers läuft, ins Vertragsrecht zu übernehmen. Denn beim Vertrag kenne ich ja meinen Partner. Ich weiss auch, ob er schon geleistet hat oder nicht. Die neue Regelung würde die vertragliche Verjährungsfrist für die Mehrzahl der Fälle im Ergebnis von zehn auf drei Jahre reduzieren.
plädoyer: Bei Schäden, die erst nach langer Zeit auftauchen, wie beim Asbestkrebs, hilft die neue Regelung nicht weiter.
Honsell: Das ist ein ganz anderer Fall. Er betrifft den zweiten Einwand gegen die Neuerung: Die Verlängerung der absoluten Verjährungsfrist auf 30 Jahre – eine viel zu lange Frist. Die heutige vertragliche Verjährung von 10 Jahren ist vernünftig. Wegen der Asbest- und ähnlicher Fälle sollte man aber keine überlangen Verjährungsfristen einführen. Die Lösung liegt darin, dass man für den Beginn der Verjährungsfrist nicht mehr allein auf die Handlung abstellt, sondern auf den Eintritt des Erfolgs. Dann kann es nicht passieren, dass wegen der langen Latenzzeit bestimmter Erkrankungen der Anspruch verjährt, bevor die Erkrankung überhaupt sichtbar geworden ist.
plädoyer: Was bringt der Entwurf OR 2020 im Vergleich zu diesen neu vorgeschlagenen Verjährungsregeln?
Hilty: Eine einheitliche und einfache Lösung, die auch eine Entwicklung spiegelt, die sich international abzeichnet: Es gibt eine relative Verjährungsfrist von drei Jahren seit Kenntnis der Forderung und des Schuldners sowie eine absolute von 10 Jahren seit Fälligkeit der Forderung. Die Verjährung kann nicht mehr dauernd durch Unterbrechung abgewendet werden wie heute: Eine Verjährungsfrist von 30 Jahren seit dem forderungsbegründenden Ereignis gilt absolut. Für Forderungen aus Körper- und Umweltschäden gilt eine Frist von drei Jahren, seit der Geschädigte von der Person des Schädigers und vom Schaden Kenntnis erlangt hat. Damit wäre auch der Asbestproblematik gedient.
Honsell: Noch ein Mal: Ich kritisiere die dreijährige relative Frist im Vertragsrecht. Die Zehnjahresfrist würde durch die stets eingreifende dreijährige praktisch obsolet. Denn bei Verträgen kennt man den Gegner immer – also muss man Forderungen innert drei Jahren einklagen, um eine Verjährung zu vermeiden. Das ist unüberlegt. Warum soll ich zum Beispiel nur drei Jahre Zeit haben, um mein Darlehen zurückzuverlangen?
Hilty: Weil der Schuldner sonst zehn Jahre warten muss, bis er Rechtssicherheit hat. Dem Gläubiger kann zugemutet werden, die Forderung innerhalb von drei Jahren geltend zu machen oder zumindest die Frist zu unterbrechen.
Honsell: Ja, aber warum soll ich das tun? Warum wird eine allgemeine Regel geschaffen, welche die Verjährungsfrist bei Verträgen faktisch auf drei Jahre verkürzt? Das ist doch eine Falle für Laien, die ihre vertraglichen Forderungen bisher während zehn Jahren einklagen können.
plädoyer: Reto Hilty, eine Totalrevision des Allgemeinen Teils des OR hat Gegner. Halten Sie einen Erfolg im Parlament für möglich?
Hilty: Es ist selten, dass 23 Wissenschafter gemeinsam einen Gesetzesentwurf machen. 105 Nationalräte und 34 Ständeräte haben ein entsprechendes Postulat unterschrieben und der Bundesrat hat es angenommen. Jetzt liegt das weitere Vorgehen beim Bundesamt für Justiz. Es ist denkbar, dass der Entwurf überarbeitet wird. Ich bin aber durchaus zuversichtlich. Vermutlich führen einige hier angesprochene Details zu Grundsatzdebatten. OR 2020 muss ja nicht gleich zum Gesetz erhoben werden. Wir haben aber einen in sich selbst kohärenten Entwurf vorgelegt. Es ist wichtig, dass diese Kohärenz erhalten bleibt. Einzelne Teile herauszubrechen und andere zu integrieren, geht nicht so leicht. Man muss schon das Gesamte im Auge behalten. Aber Änderungen sind denkbar, gerade beispielsweise bei Verjährungsrechtsfristen.
plädoyer: Widerstand gibt es offenbar aber auch von Seiten der Lehre.
Hilty: Ich höre nicht viele kritische Stimmen, im Gegenteil.
Honsell: Na ja, es kommt eben darauf an, ob die Stimmen nur gezählt oder ob sie auch gewichtet werden. Ich habe mit vielen Leuten gesprochen, von denen ich Zustimmung bezüglich meiner Kritik erhielt. Es ist auch nicht so, dass jeder, der sich in der Öffentlichkeit nicht äussert, dem Entwurf zustimmt. Ich glaube, dass man mit dem Entwurf etwas zerstört, das gewachsen ist und 2000 Jahre alte Wurzeln hat. Das bedeutet nicht, dass man das, was nicht funktioniert, nicht beseitigen sollte. Aber dieser Entwurf ist zu rigoros, er ist zu sehr von Vorstellungen und Vorlieben seiner Verfasser geprägt und er geht auch nicht tief genug.
Hilty: Man kann zurückschauen – oder vorwärts. In ganz Europa gibt es neue Entwürfe. Wir halten es für wichtig, dass sich auch die Schweiz zu diesen Entwicklungen Gedanken macht.
Honsell: In Brüssel wird am ganzen Zivilrecht herumgeschraubt. Das sollte man nicht nachahmen. Es sind viele Wissenschafter an der Arbeit, darunter aber nur ganz wenige Historiker. Weder Rechtsvergleich noch Rechtsgeschichte werden berücksichtigt. Das ist ein Fehler. Ich bedaure auch den Schweizer Alleingang. Vor allem finde ich aber, dass man bei jeder Reform zuerst zurückgehen müsste, ad fontes.
plädoyer: Zurück zu den Römern?
Honsell: Eigentlich schon. Viele Institutionen lassen sich bis ins römische Recht zurückverfolgen. Das ist ein wenig aufwendig – aber man lernt sehr viel und wird auch vorsichtiger gegenüber vorschnellen Gesetzesvorhaben.
Hilty: Europa macht einen sehr schwierigen Spagat zwischen den römisch-rechtlichen Wurzeln und dem Common Law. Man wächst zusammen. Deshalb kann man jetzt nicht sagen: Wir machen immer so weiter, wie das die Römer gemacht haben.
Honsell: Das angelsächsische Recht enthält sehr viel römisches Recht. Solange es das römische Reich gab, gab es dort zwei Rechtsmassen wie in England Common Law and Equity. Auch wenn es wie eine Platitüde klingt, muss man einem Missverständnis vorbeugen: Nichts ist deshalb gut, weil es alt ist. Und genauso wenig ist irgendetwas gut, weil es neu ist. Es geht stets und allein nur um den Inhalt.
plädoyer: Ist der Titel des Entwurfs «OR 2020» nicht etwas sehr blauäugig. Müsste er nicht eher «OR 2030» oder «OR 2040» heissen?
Hilty: Im Gegenteil. 2020 ist realistisch. Ob es 2022 oder 2023 in Kraft gesetzt wird – das spielt keine Rolle.
Reto M. Hilty, 56, ist Direktor am Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb in München und ordentlicher Professor für Immaterialgüterrecht an der Universität Zürich. Überdies ist er als Konsulent für Nater Dallafior Rechtsanwälte, Zürich/München, tätig.
Heinrich Honsell, 71, war an der Universität Zürich Professor für Privatrecht. Er ist heute Honorarprofessor für Unternehmens- und Wirtschaftsrecht an der Universität Salzburg und seit 2007 Konsulent bei der Zürcher Kanzlei Rutschmann Schwaibold & Partner, Salzburg/Zürich.
Das Jahrhundertprojekt «OR 2020»
«OR 2020» ist ein viersprachiger Entwurf (D/F/I/E) für einen neuen Allgemeinen Teil des Schweizerischen Obligationenrechts. Zu jeder Bestimmung können Erläuterungen (in D oder F) sowie rechtsvergleichende Hinweise abgerufen werden. Während fünf Jahren haben insgesamt 23 Rechtswissenschafterinnen und -wissenschafter aus allen schweizerischen Fakultäten mit Unterstützung durch den Schweizerischen Nationalfonds den allgemeinen Teil des OR systematisch aufgearbeitet und an aktuelle Entwicklungen angepasst. Mehr dazu in «Obligationenrecht 2020: Aufgeräumter Entwurf» von Claire Huguenin (plädoyer 5/13), und in «Kritische Bemerkungen zum OR 2020» von Heinrich Honsell in der Schweizerischen Juristen-Zeitung (SJZ) Nr. 20 vom 15. Oktober 2013.