Ende 2023 überwies der Ständerat ein Postulat von Andrea Caroni (FDP, AR). Es verlangt vom Bundesrat eine «Auslegeordnung zu Asylverfahren und zum Wegweisungsvollzug im Ausland, insbesondere in Drittstaaten». Der Bundesrat nahm es entgegen und kündigte einen Bericht darüber an, ob eine Auslagerung von Flüchtlingen in einen anderen Staat mit dem hiesigen Recht sowie den internationalen Verpflichtungen vereinbar sei.
Auf europäischer Ebene diskutieren Politiker drei Modelle einer Auslagerung. Alle drei Varianten verfolgen ein Ziel: Abschreckung. Die Zahl der nach Europa Flüchtenden soll reduziert werden.
Im ersten Modell geht es um sogenannte extraterritoriale Asylverfahren, also um die räumliche Verlagerung von Asylverfahren in einen Drittstaat. Dabei wird nach wie vor das Recht des Staats angewandt, der die Auslagerung vornimmt. Dieses Modell kommt im aktuellen Abkommen zwischen Italien und Albanien zur Anwendung. Es regelt den Aufbau und den Betrieb von zwei Aufnahmezentren in Albanien. Dabei gilt vor Ort durchgehend italienisches Recht. Wer Asyl bekommt, darf nach Italien und erhält dort Schutz.
Das zweite Modell überträgt die Verantwortung für das Verfahren und den Schutz vor Verfolgung vollständig auf den Drittstaat. Hier findet also nebst der räumlichen auch eine rechtliche Verlagerung statt. Aktuelles Beispiel dafür ist das Abkommen zwischen Grossbritannien und Ruanda: Asylbewerber sollen von Grossbritannien nach Ruanda gebracht werden, unter das dortige Asylrecht fallen und bei positivem Bescheid dort Schutz erhalten.
Das dritte Modell steht für eine Rücküberstellung in Transitstaaten. Ein Beispiel dafür ist das Abkommen zwischen der EU und der Türkei. Hier beruht die Kooperation auf der Annahme, dass im Transitstaat gute Voraussetzungen für den Schutz der Geflüchteten gegeben sind.
An dieses Modell lehnt sich ein Vorstoss von FDP-Ständerätin Petra Gössi an, den der Ständerat im letzten März mit 26 zu 16 Stimmen guthiess. Gössi will abgewiesene eritreische Asylsuchende über ein Drittland in die Heimat zurückbringen. Ihr Vorschlag: mit einem anderen Staat ein Transitabkommen anstreben.
Eine Forschergruppe um den deutschen Migrationsexperten Steffen Angenendt lehnt in einem aktuellen Beitrag für die Stiftung Wissenschaft und Politik die Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten aus völkerrechtlichen und menschenrechtlichen Gründen ab. Es gebe keine Belege dafür, «dass die mit einer Externalisierung verbundenen Hoffnungen auf weniger Todesfälle an den EU-Aussengrenzen und auf eine Zerstörung des Geschäftsmodells von Schleppern und Schleusern realistisch sind».
«Haftbedingungen schwer überprüfbar»
Dieser Meinung ist auch Sarah Progin, Professorin für Europa- und Migrationsrecht an der Universität Freiburg: «Die Frage, was mit Menschen passieren soll, die im betreffenden Drittstaat einen negativen Asylentscheid erhalten, wird bisher nicht thematisiert.» Diesen Menschen drohe ein dauerhafter illegaler Aufenthalt in diesem Staat. «Zudem könnten sie in Haft genommen werden», sagt Progin.
Und sie weist darauf hin, dass die Haftbedingungen schwer überprüfbar sein würden. Theoretisch müssten Länder, die für andere Staaten Asylverfahren übernehmen, die Genfer Flüchtlingskonvention und die Menschenrechte beachten und Zugang zu Rechtsschutz garantieren.
Die Zürcher Anwältin und Migrationsrechtlerin Stephanie Motz konkretisiert: Die Europäische Menschenrechtskonvention sichere Asylsuchenden eine menschenwürdige Behandlung im Asylverfahren zu. «Bei vulnerablen Personen, wie etwa Minderjährigen oder Opfern von Folter oder geschlechtsspezifischer Gewalt, kommen zudem besondere Sorgfalts- und Schutzpflichten zur Geltung.» Das gelte auch, wenn das Asylverfahren in einen Drittstaat ausgelagert werde.
Wie für Sarah Progin ist auch für Stephanie Motz klar: «Die Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten mit dubioser Menschenrechtspraxis ist aus flüchtlings- und menschenrechtlicher Sicht nicht zulässig.»
Der deutsche Migrationsforscher Gerald Knaus schlägt vor, dass das Uno-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) die Verfahren in rechtstaatlich schwachen Staaten selbst durchführt. Das UNHCR lehnt aber eine Externalisierung der Verfahren grundsätzlich ab. Diese Vorschläge würden «die Grundlagen des Flüchtlingsschutzes untergraben», sagt Vincent Bürgy von UNHCR Schweiz. Man sei zutiefst besorgt über alle Bestrebungen, die in diese Richtung gehen würden.
Gemäss einem Faktenblatt des Uno-Flüchtlingshilfswerks geht die Externalisierung von Asylverfahren «regelmässig mit Verletzungen grundlegender Flüchtlings- und Menschenrechte einher». Konkret werde das Non-Refoulement-Prinzip (Artikel 33 Genfer Flüchtlingskonvention, Artikel 3 EMRK) verletzt: Die schwachen Asylsysteme in den Drittstaaten gewährleisteten häufig nicht, dass Asylsuchenden ein diskriminierungsfreier Zugang zu einem fairen Asylverfahren mit ausreichenden Ressourcen offenstehe.
«Xenophob und völlig inakzeptabel»
Eine Auslagerung widerspricht laut Bürgy auch den Grundsätzen der internationalen Solidarität. Rund 85 Prozent der Flüchtlinge würden von Ländern des globalen Südens aufgenommen. «Die Auslagerung von Schutzverpflichtungen von Staaten des globalen Nordens auf Staaten im globalen Süden, die dafür keine ausreichenden Kapazitäten haben, steht im Widerspruch zu Verpflichtungen, gemeinsam für mehr Solidarität und Lastenteilung einzutreten.»
In Gesprächen mit verschiedenen Migrationsforschern taucht immer wieder die zentrale Frage auf, ob sich überhaupt Drittstaaten finden lassen, die erstens die internationalen menschenrechtlichen Standards erfüllen und zweitens bereit sind, bei solchen Massnahmen mitzumachen.
Die jüngst gescheiterte Tunesienreise der EU-Kommissarin Ursula von der Leyen, begleitet von hochrangigen Vertretern aus EU-Ländern, zeigte, wie Drittstaaten reagieren können, wenn von ihnen zusätzliche Dienste für europäische Länder gefordert werden. Die Afrikanische Union sprach sich unlängst deutlich gegen solche Externalisierungsbestrebungen aus und bezeichnete diese als «xenophob und völlig inakzeptabel».
Inakzeptabel wäre für Professorin Sarah Progin auch, wenn die Schweiz ähnlich wie Grossbritannien vorgehen würde. Die britische Regierung will alle Leute, die illegal ins Land einreisen, nach Ruanda abschieben – egal, woher sie kommen. Sie sollen dort einen Asylantrag stellen. Auch bei einem erfolgreichen Ausgang des Asylverfahrens müssen sie in Ruanda bleiben. Eine Aufnahme in Grossbritannien ist in diesem Abkommen nicht vorgesehen.
Progin weist darauf hin, dass der Supreme Court des Vereinigten Königreichs die Pläne bereits einmal gestoppt hatte. Die Richter hatten grosse Zweifel daran, ob die Betroffenen in Ruanda ein faires Asylverfahren bekommen werden. Auch der EGMR hatte im Juni 2022 einen Flug nach Ruanda gestoppt. Mehrere Menschenrechtsorganisationen werfen Ruandas Präsidenten Paul Kagame vor, Regimegegner zu verfolgen und die Meinungsfreiheit einzuschränken. Und das UNHCR berichtet über aussergerichtliche Hinrichtungen, Folter und Todesfälle in der Haft.
Das hinderte den britischen Premierminister Rishi Sunak und eine Mehrheit des Parlaments nicht, sich über die beiden Gerichtsurteile hinwegzusetzen und per Gesetz Ruanda zu einem sicheren Drittstaat zu erklären. «Dies ändert nichts an der faktischen Lage in Ruanda, sondern erschwert nur den Rechtsschutz», kritisiert Progin. Auch in der Schweiz wird vorgeschlagen, Drittstaaten zu sicheren Staaten zu erklären. Weil die Schweiz keine Verfassungsgerichtsbarkeit kennt, müssten laut der Professorin dann einzelne Fälle vor Gericht und letztlich vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht werden.
Mehr Hilfe vor Ort statt Auslagerung der Verfahren
Sarah Progin schlägt statt einer Auslagerung der Asylverfahren vor, die Situation in den Herkunftsländern der Flüchtlinge zu verbessern. «Dazu können Massnahmen wie Förderung von Demokratie, Bildung sowie das Verbot von Waffenlieferungen in diese Länder gehören.»
Die Schweiz tendiert in die entgegengesetzte Richtung. So beschloss der Ständerat seit Anfang Juni zusätzliche Gelder für die Armee – die Hälfte davon auf Kosten der Entwicklungshilfe. Schweizer Hilfswerke sind entsetzt.
Alliance Sud schreibt, die rund 500 Millionen Franken pro Jahr, die wegfallen, seien mehr als die gesamte Unterstützung der Schweiz für Afrika. Eine solche Kürzung könnte jahrzehntelang aufgebaute Strukturen gefährden.