Der Bundesrat verabschiedete im Dezember 2021 die Botschaft zum kollektiven Rechtsschutz an das Parlament. Neu sollen Verbände und andere Organisationen Ersatzansprüche für eine Vielzahl von betroffenen Personen einklagen können (Verbandsklage).
Die Organisationen dürfen nicht gewinnorientiert sein, sie müssen seit mindestens zwölf Monaten bestehen, gemäss Statuten zur Wahrung von Interessen der betroffenen Personengruppe befugt und unabhängig von den Beklagten sein. Zudem muss die Organisation von mindestens zehn Personen zur Klage ermächtigt werden.
Wenn das Gericht die Klage zulässt, können sich weitere Geschädigte innert einer vom Gericht bestimmten Frist der Klage anschliessen (Opt-in). Das Gericht muss versuchen, eine Einigung zwischen den Parteien zu erzielen. Gelingt dies nicht, fällt es einen Entscheid.
Falls es zu einem kollektiven Vergleich kommt, ist bei Streuschäden, also bei geringen Ersatzansprüchen von vielen Geschädigten, auch ein Opt-out-Vergleich möglich. Das heisst: Der Vergleich gilt für alle Geschädigten, die nicht innert einer vom Gericht bestimmten Frist den Austritt aus dem Vergleich erklären.
Das Gericht hat einen Vergleich zu prüfen, zu genehmigen und für verbindlich zu erklären. Weitere besondere prozessuale Regelungen sieht der Vorschlag des Bundesrates nicht vor. Es gelten die allgemeinen Regeln der Zivilprozessordnung.
Die Stiftung für Konsumentenschutz (SKS) zeigte sich erfreut: «Mit der vorliegenden Vorlage zum kollektiven Rechtsschutz wird eine ausgewogene Lösung präsentiert», sagte Geschäftsführerin Sara Stalder. Die SKS hatte 2019 mit ihrer Verbandsklage gegen Volkswagen vor Bundesgericht eine Niederlage erlitten. Begründung: Der SKS fehle die Prozessfähigkeit, um die rund 6000 vom Abgasskandal betroffenen VW-Besitzer zu vertreten.
Der Wirtschaftsverband Economiesuisse kritisiert, der Vorschlag: öffne der «internationalen Klageindustrie Tür und Tor». Dadurch seien alle Firmen «massiven Haftungsrisiken» ausgesetzt, was zu höheren Preisen führe.
Bundesrätliche Vorlage mit «vielen offenen Fragen»
Ende Juni 2022 beugte sich die Rechtskommission des Nationalrats über den bundesrätlichen Vorschlag – und verschob den Entscheid, ob sie auf die Vorlage eintreten will. Begründung: Die Botschaft des Bundesrates lasse zu viele Fragen offen. Die Kommission verlangte umfassende Informationen zu den Auswirkungen der vorgeschlagenen Instrumente auf die Unternehmen und einen gegenüber der Botschaft umfassenderen Rechtsvergleich zu Kollektivklagerechten in ausgewählten EU-Staaten.
«Das ist ein leicht durchschaubares Hinhaltemanöver», liess sich Nadine Masshardt, SP-Nationalrätin und SKS-Präsidentin in der Zeitschrift «Beobachter» zitieren. Doch ihre Kritik war unberechtigt. Denn die bundesrätliche Botschaft enthält keinerlei Aussagen zu den Auswirkungen der vorgeschlagenen Klageinstrumente. Und sie behandelt den Rechtsvergleich zu Kollektivklagen in anderen Ländern auf gerade mal vier Seiten.
Die Ausführungen beschränken sich auf eine Zusammenfassung der EU-Richtlinien zum Umgang mit Verbandsklagen und eine Übersicht der geltenden Regeln in Deutschland, Österreich, Italien, Frankreich und den Niederlanden.
Die Rechtskommission des Nationalrats beauftragte das Justizdepartement mit einer Regulierungsfolgeschätzung und einem Rechtsvergleich zu Kollektivklagerechten in EU-Staaten.
Das Bundesamt für Justiz reichte die Aufträge an das Berner Beratungsbüro Ecoplan und die Universität Lausanne weiter. Ende Juni 2023 gaben Ecoplan und die Universität Lausanne ihre Studien zur Regulierungsfolgeabschätzung (133 Seiten) respektive zum Rechtsvergleich (112 Seiten) ab. Wie viel sie kosteten, wollte die Rechtskommission plädoyer nicht sagen.
Die Rechtsprofessorin Eva Lein von der Universität Lausanne untersuchte in ihrer rechtsvergleichenden Studie die EU-Richtlinie 2020/1828 zur Verbandsklage und deren Umsetzung in Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, den Niederlanden und Schweden.
Die EU-Richtlinie schreibt einen Mindeststandard vor, den jeder Mitgliedstaat präzisieren kann. Die Richtlinien regeln folgende Punkte:
- Anwendungsbereich (Art. 2): Grundsätzlich geht es um Konsumentenangelegenheiten. Je nach staatlicher Regel sind auch Klagen in anderen Bereichen möglich, zum Beispiel beim Klimaschutz in den Niederlanden.
- Klagebefugnis (Art. 4): Sie ist an strenge Voraussetzungen geknüpft. Nur «qualifizierte» Einrichtungen dürfen Verbandsklagen einreichen. Je nach EU-Staat kann dies eine anerkannte Organisation (Deutschland), eine öffentliche Einrichtung (Schweden) oder eine Ad-hoc-Vereinigung (Niederlande) sein.
- Grenzüberschreitende Klagen (Art. 6): Berechtigte Einrichtungen können die Klage auch in einem anderen Mitgliedstaat einreichen.
- Zulässigkeitsprüfung (Art. 7): Offensichtlich unbegründete Klagen müssen vom Gericht abgewiesen werden.
- Opt-in/Opt-out (Art. 9): Beide Systeme sind möglich. Die meisten der untersuchten Staaten folgen dem Opt-in-System, Belgien und die Niederlande dem Opt-out, Deutschland ebenfalls im Fall eines Vergleichs.
- Prozessfinanzierung durch Dritte (Art. 10): Sie ist möglich, dabei muss aber sichergestellt werden, dass Interessenskonflikte vermieden werden und der Prozessfinanzierer keinen Einfluss auf die Prozessführung hat.
- Prozesskosten (Art. 12 und 20): Die unterlegene Partei muss die Kosten tragen – nach dem Grundsatz «Loser pays». Die Staaten können aber Klagen finanziell unterstützen (zum Beispiel Belgien). In Frankreich etwa kann das Gericht dem Staat die Kosten auferlegen.
- Beweisregeln (Art. 18): Jede Partei muss grundsätzlich den Beweis für die für sie günstigen Tatsachen erbringen, es gibt aber Beweiserleichterungen. Das Gericht kann etwa die Vorlage von Beweisen durch den Prozessgegner anordnen (Italien, Schweden) oder die Beweislastverteilung umkehren (Belgien).
Kein markanter Anstieg von Sammelklagen in der EU
Ecoplan wurde von der Zürcher Rechtprofessorin Tanja Domej juristisch beraten. Das Büro untersuchte die Auswirkungen des bundesrätlichen Vorschlags auf die Unternehmen und die Gesamtwirtschaft. Es analysierte unter anderem Studien aus dem europäischen Ausland und interviewte 14 Experten aus Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Österreich und der Schweiz.
Ergebnis: Ecoplan kann nicht beurteilen, wie sich die Vorlage auf die Gesamtwirtschaft auswirken wird, weil eine Prognose der zu erwartenden Fälle und der Streitwerte und somit der damit verbundenen Kosten nicht machbar sei. Die Erfahrung in der EU zeige aber, dass nicht mit einem markanten Anstieg von Klagen zu rechnen sei. So gab es etwa in Frankreich von 2014 bis 2021 weniger als 30 Fälle.
Für Firmen führe die Vorlage zu keinen neuen Pflichten, da sie nur Instrumente zur Verfügung stellt, um Ansprüche durchzusetzen. Wer sich korrekt verhalte, habe keinen Mehraufwand zu befürchten. Wegen der grossen finanziellen Risiken der Prozessführung sei auch nicht mit einer Vielzahl von unbegründeten Klagen zu rechnen.
Kein Mehraufwand und keine Preiserhöhungen
Ecoplan geht von einer präventiven Wirkung der Vorlage in Bezug auf rechtswidriges Verhalten von Unternehmen aus. Daraus sei «ein faireres Wettbewerbsverhalten aller Marktakteure zu erwarten». Davon könnten auch KMU profitieren, die sich korrekt verhalten.
Dass die Vorlage zu einer Preiserhöhung führe, ist gemäss der Studie wenig wahrscheinlich. Ebenso, dass Unternehmen ins Ausland abwandern würden, denn die Verbandsklagerichtlinien in der EU sind wesentlich strenger.
Die Rechtskommission des Nationalrates nahm im vergangenen Juli die beiden Studien zur Kenntnis, verschob aber den Entscheid über das Eintreten auf die Vorlage erneut, weil «noch eine erweiterte Prüfung möglicher Sicherheitsmassnahmen zur Verhinderung von missbräuchlicher Nutzung der Sammelklageinstrumente sowie eine Validierung der Regulierungsabschätzung durch die Befragung von direkt betroffenen Firmen angezeigt ist».
Wer die Abklärungen macht, will die Kommission nicht sagen. Voraussichtlich im 1. Quartal 2024 wird sie die Beratung der Vorlage wieder aufnehmen.