Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Kriegsverbrechen können vor allen Strafgerichtshöfen der Welt angeklagt werden. Dieses Weltrechtsprinzip ist im Völkerrecht schon lange verankert. Die Justiz eines Landes handelt dabei gewissermassen im allgemeinen Interesse aller Rechtsstaaten.
Kein Land hat dieses Prinzip so konsequent verfochten wie Spanien. Der spanische Untersuchungsrichter Baltasar Garzón hat dem Weltrechtsprinzip einst zum Durchbruch verholfen, als er 1998 den früheren chilenischen Diktator Pinochet in London festnehmen liess. Garzón konnte sich erfolgreich auf die universelle Jurisprudenz berufen, um Verbrechen der chilenischen und argentinischen Diktaturen zu ahnden.
Würde Garzón heute das Gleiche nochmals versuchen, würde er scheitern. Erst kürzlich hat die spanische Regierung unter Mariano Rajoy die weltweite Zuständigkeit spanischer Richter bei Menschenrechtsverletzungen eingeschränkt. Künftig können spanische Richter nur noch tätig werden, wenn sich das Verfahren gegen einen Spanier oder einen in Spanien lebenden Ausländer richtet.
Zu dieser Einschränkung kam es, weil sich Spanien kurz zuvor diplomatischen Ärger mit China eingehandelt hatte. Ein Richter des Nationalen Gerichtshofes hatte internationale Haftbefehle gegen den ehemaligen chinesischen Präsidenten Jiang Zemin, den einstigen Regierungschef Li Peng und drei weitere ehemalige Spitzenpolitiker verhängt. Eine tibetische Initiative hatte in Madrid Klage eingereicht und den Beschuldigten Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Tibet vorgeworfen. Der Pekinger Regierung missfielen die Haftbefehle und sie drohte Spanien mit wirtschaftlichen Sanktionen. China gilt als einer der wichtigsten Gläubiger des Landes. Es hält rund zwanzig Prozent aller spanischen Staatsanleihen.
China und Israel intervenierten
Die Drohung zeigte Wirkung: Die universelle Justiz müsse eingeschränkt werden, um unnötige Streitereien zu vermeiden, die nur diplomatische Konflikte auslösten, verlangte Alfonso Alonso, parlamentarischer Sprecher des regierenden Partido Popular (PP). Damit stellte er klar: Politische und ökonomische Interessen sind höher zu gewichten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Auch Belgien, das wie Spanien bekannt war für sein eifriges Vorgehen gegen Menschenrechtsverletzungen, schränkte die universelle Justiz ein. Hintergrund: Belgien handelte sich mit Israel diplomatischen Ärger ein, als ein belgischer Richter gegen den ehemaligen Premier Ariel Scharon ein Verfahren wegen Kriegsverbrechen eröffnet hatte.
Diese Beispiele zeigen die politischen Grenzen der universellen Justiz. Kommt hinzu: Laut Frank Meyer, Strafrechtsprofessor an der Universität Zürich, ergibt sich aus dem Universalitätsprinzip nicht, «dass alle Rechtsstaaten aufgefordert sind, weltweit solche Täter verfolgen zu müssen».
Bardo Fassbender, Völkerrechtsprofessor an der Universität St. Gallen, ist ähnlicher Meinung: «Man muss die völkerrechtliche Kompetenz eines Staates zur Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen von einer entsprechenden Pflicht unterscheiden. Eine allgemeine, sich nicht aus besonderen Verträgen ergebende Pflicht, Verletzungen strafrechtlich zu verfolgen, die weder auf dem eigenen Gebiet noch durch eigene Staatsangehörige verübt worden sind, kennt das Völkerrecht nicht.»
Das Vorgehen der spanischen und belgischen Richter sollte man laut Meyer deshalb nicht als selbstverständlich betrachten: «Spanien und Belgien waren Aussenseiter. Denn sie ermittelten proaktiv gegen Menschenrechtsverletzungen in anderen Staaten. Doch dazu besteht keine völkerrechtliche Pflicht. Die Staatenpraxis ist vielmehr gegenläufig.»
Staaten könnten auch untätig bleiben, sagt der Zürcher Staatsrechtsprofesssor – demnach also wegschauen –, «es ist eine Sache des politischen Willens und der Sorge um mögliche Missbräuche». Dies ändere sich allenfalls dann, wenn sich der Täter (aus welchen Gründen auch immer) in einem Drittstaat aufhält oder aufgegriffen werde. Es gelte dann der Grundsatz «aut dedere aut judicare». Er besagt: «Wenn sich ein Täter im Land aufhält, hat man zwei Optionen: Entweder man verfolgt ihn strafrechtlich – gestützt auf den Universalitätsgrundsatz – oder man liefert ihn an einen interessierten Staat aus.» Grundsätzlich sollte laut Meyer der Tatortstaat oder der Heimatstaat des Täters den Fall behandeln.
«Drittstaaten haben allenfalls eine Auffangzuständigkeit.» Könne die beschuldigte Person nicht an den Tatortstaat ausgeliefert werden – zum Beispiel aus Gründen der Staatsangehörigkeit –, dann müsse der Aufenthaltsstaat das Strafverfahren führen. «Es sei denn, er findet einen Drittstaat beziehungsweise einen internationalen Strafgerichtshof, an den er ihn ausliefern könnte.»
Viele westliche Staaten schauen lieber weg: Die Schweiz, Deutschland oder Frankreich zum Beispiel sind von Diktatoren besonders beliebte Nationen, um sich ärztlich behandeln zu lassen. Kein Grund für die Regierungen dieser Länder, Verfahren einzuleiten. Anders in Argentinien. Als 2013 die Verbrechen unter General Franco vor die argentinische Justiz gezogen wurden, weil Rechtsverfahren in Spanien von höheren Stellen und von der Politik unterbunden wurden, befand die argentinische Bundesrichterin María Servini: Werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit in einem Land nicht verfolgt, ist nach dem Prinzip der Universaljustiz jede ausländische Gerichtsbarkeit zur Untersuchung und zur Beurteilung berechtigt.
Rolle des Internationalen Strafgerichtshofs
Rechtsstaaten sind jedoch nicht die einzigen Akteure, die bei Menschenrechtsverletzungen handeln können. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag kann das auch. Er ist zuständig für die Beurteilung der schwersten Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Er hat somit ein Mandat, gegen solche Taten vorzugehen. Und sein Strafverfolger – der Staatsanwalt beim IStGH – kann Ermittlungen aufnehmen.
Gemäss dem Zürcher Professor beruft sich der Strafgerichtshof aber dazu nicht auf den Universalitätsgrundsatz: Sein Jurisdiktionsprinzip stützt sich auf die Nationalität des Opfers und muss entweder in einem Vertragsstaat liegen oder der Täter muss Staatsbürger eines Vertragsstaates sein. Dann erst ist der Strafgerichtshof zuständig. Meyer: «Das Universalitätsprinzip ging nämlich den Staaten auf der Rom-Konferenz aus rein politischen Gründen zu weit. Sie wollten vielmehr sicherstellen, dass er nur dann ermitteln kann, wenn Tat oder Täter eine Verbindung zu einem Vertragsstaat haben.» Daneben gebe es nur noch die Möglichkeit einer Überweisung durch den Uno-Sicherheitsrat oder betroffene (Dritt-)Staaten. Der Internationale Strafgerichtshof soll erst einspringen, wenn ein Vertragsstaat als Tatortstaat unfähig oder nicht willens ist, ein Ermittlungsverfahren zu eröffnen.
«Ein Meilenstein für die irakischen Opfer»
Ein aktuelles Beispiel der Aktivitäten des Internationalen Strafgerichtshofs: Kürzlich entschied das Gericht in Den Haag, Vorermittlungen gegen britische Militärs wegen Folter von Gefangenen im Irak aufzunehmen. «Die Wiedereröffnung der Untersuchung ist ein Meilenstein für die irakischen Opfer und für die internationale Strafjustiz», sagt dazu Wolfgang Kaleck, Generalsekretär der Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Man erwarte jetzt ernsthafte Ermittlungen – «sei es durch die Anklagebehörde beim Strafgerichtshof oder durch die britische Justiz».
Wie sieht die Situation in der Schweiz aus? «Innerhalb der Bundesanwaltschaft besteht ein speziell eingerichtetes Kompetenzzentrum Völkerstrafrecht, das diese Verbrechen gemäss Art. 264 ff. StGB nach dem Weltrechtsprinzip verfolgt», sagt Jeannette Balmer von der Bundesanwaltschaft. Die Frage, ob denn die Schweiz jetzt, ähnlich wie Spanien, die Zuständigkeit ihrer Richter ebenfalls stutzt, verneint Informationschef Folco Galli vom Bundesamt für Justiz: «Es ist nicht geplant, die bestehende Zuständigkeit einzuschränken.»
Die Schweiz kennt bezüglich der Verfolgung der schwersten Straftaten (Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen) ein eingeschränktes Universalitätsprinzip: Der Angeschuldigte, der auf Schweizer Territorium angehalten wird und im Verdacht steht, im Ausland ein solches Delikt begangen zu haben, muss entweder an einen Staat, der mit der Tat in einem näheren Zusammenhang steht, ausgeliefert werden – oder an ein internationales Strafgericht. Zudem kann sich die Schweizer Justiz des Falles annehmen. «Der Schweizer Richter ist aber nicht zuständig für die Verfolgung von reinen Auslandtaten – ohne Konnex zur Schweiz und ohne Anwesenheit des Angeschuldigten. Ein solches reines Universalitätsprinzip wird durch das Völkerrecht nicht gefordert», so Galli. Bénédict de Moerloose vom Verein Trial sieht das Kompetenzzentrum Völkerstrafrecht der Bundesanwaltschaft als ein Zeichen des Willens der Schweiz, gegen schwere Verbrechen vorzugehen. Er kritisiert aber, dass es in der Schweiz im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern keine spezialisierte Polizei gebe, die mit dem Zentrum zusammenarbeite. Er kritisiert auch Spanien wegen der Einschränkung der Zuständigkeit spanischer Richter bei Menschenrechtsverletzungen. «Diese Änderung steht im Widerspruch zum Völkerrecht und missachtet die Empfehlungen der Uno.»
Diese Entwicklung sollte jedoch die Fortschritte in anderen Ländern nicht schmälern. Mehrere Studien für internationale Verbrechen belegen nämlich laut Moerloose, dass vor allem in Ländern wie Frankreich oder Deutschland grosse Fortschritte in diese Richtung gemacht wurden. «Es ist wahrscheinlich, dass die Schweiz diesem positiven Trend in den nächsten Jahren folgen wird.»