Warum sollte man um drei Uhr nachts anklopfen, wenn man die Tür auch einfach eintreten kann? Warum sollte man die Dienstwaffe im Holster stecken lassen, wenn man sie der Hochschwangeren auch an den Kopf setzen kann? Warum sollte man ihren gefesselten Mann verhören, wenn man ihn vor seinen Kindern anbrüllen kann: «In Guantanamo ist noch Platz für dich!»
Frankreich lebt unter dem Notrecht. Und die Polizei macht reichlich Gebrauch davon. Präsident François Hollande hatte den Ausnahmezustand am 13. November 2015 am Fernsehen ausgerufen. Es war die Nacht des grossen Massakers. Junge Männer aus französischen und belgischen Vorstädten zogen eine blutige Spur durch Paris. Auf den Terrassen von Cafés, in der Konzerthalle Bataclan und beim Stade de France in Saint-Denis ermordeten sie 130 flanierende, dinierende, feiernde Menschen. Und verletzten 413. Die Terroristen taten es im Namen der Miliz «Islamischer Staat» (IS). Sie kontrolliert Teile Syriens, des Irak und Libyens.
Hollande sagte in jener Nacht, Frankreich befinde sich im Krieg, und dieses «On est en guerre» ist seither zum Mantra der regierenden Sozialdemokraten geworden. Der Satz war unbedacht, weil er die IS-Propaganda bediente. Aber er stimmte: Frankreich hatte sieben Wochen vor der Blutnacht die ersten Angriffe gegen IS-Stellungen in Syrien geflogen. Frankreich kämpft im Irak. Paris trieb die westliche Koalition gegen Libyen an. Französische Truppen führen Krieg in Mali, Niger und Zentralafrika.
Hollande verschärfte die Notstandsgesetze
Nun waren die Kriege also nach Paris gekommen, und Präsident Hollande führte sie im Inneren mit polizeilichen Mitteln weiter, gegen die eigene Bevölkerung. Zumindest jene, die Vorfahren im Maghreb haben, stehen seither unter Generalverdacht, islamischen Terror zu unterstützen. Für den Ausnahmezustand (Dekret vom 14. November 2015) nutzte Hollande das Notstandsgesetz vom 3. April 1955, als Frankreich in Algerien einen schmutzigen Kolonialkrieg (800 000 Tote) führte. Dieses Gesetz aus dem Algerienkrieg, der auch ein Bürgerkrieg in Frankreich war, verschärfte Hollande um eine entscheidende Komponente: Jetzt reicht der mögliche Vorsatz einer eventuellen Tat, um ins Visier der Behörden zu gelangen.
Der Ausnahmezustand lässt Hausdurchsuchungen rund um die Uhr zu, ohne richterliche Erlaubnis und ohne konkrete Verdachtsmomente. Organisationen können formlos aufgelöst, Versammlungen und Demonstrationen verboten werden. Das Internet wird zensuriert, der Lauschangriff systematisiert. Und der Innenminister kann Personen ausser juristisch unter Hausarrest stellen, wenn er die vage Vermutung hegt, sie könnten die Behörden bei ihrer Arbeit stören.
“Den Topf zum Kochen bringen”
In den ersten elf Wochen Ausnahmezustand fielen die Ordnungskräfte in 3210 Wohnungen, Restaurants, Läden und Gebetsräume ein (Statistik des Innenministeriums). Auffällig aber ist eine andere Zahl: In nur gerade zwei Fällen fanden sich Hinweise, die an die Anti-Terror-Staatsanwaltschaft weitergeleitet wurden. Verfolgte diese wütende Grossrazzia das Ziel, terroristische Netzwerke aufzudecken, war sie ein Schlag ins Wasser. Doch dürften ohnehin andere Absichten den Ausnahmezustand leiten. Etwa die Einschüchterung der mehr als 10 Prozent der Bevölkerung, die aus den früheren französischen Kolonien in Nordafrika stammen.
Beispiel: Eine Hundertschaft in Vollmontur besetzte eine Kneipe unter dem Hinweis, sie sei der Treffpunkt von Verdächtigen. Doch dann «vergassen» die Polizisten, die Identität der Gäste zu prüfen. «Faire chauffer la marmite», den Topf zum Kochen bringen, heisst dies im Polizeijargon.
Meist wussten die Polizisten nicht, wonach oder wen sie suchten. Ihre Ahnungslosigkeit kompensierten sie mit Brutalität. Schon am 7. Dezember musste Innenminister Bernard Cazeneuve per Zirkularschreiben Zurückhaltung befehlen. Vergeblich. Hunderte von Wohnungen wurden verwüstet, zahlreiche Betroffene dabei verletzt, offiziell 541 Mal setzte die Polizei eine Waffe ein. Es kam zu Fehlgeburten und Herzinfarkten, ungezählte Kinder wurden durch die nächtlichen Überfälle traumatisiert.
Wollte Hollande etwas für die Radikalisierung tun, so ist ihm das gelungen. Wahrscheinlich haben weit über 1000 Menschen ihren Job verloren – nach Hausdurchsuchungen oder weil sie unter Hausarrest gestellt wurden. In einem gut dokumentierten Fall begründete der Innenminister einen Hausarrest mit dem Hinweis, der Mann habe am Tag des Attentats seinen Bart rasiert.
Darum schieben Rechtshilfe-NGOs Sonderschichten. Am 4. Januar stapelten sich allein beim Anwalt Yasser Louati vom Kollektiv gegen Islamophobie 161 Dossiers. Die Diagnose der Organisationen für Bürgerrechte lautet: Nichts an Sicherheit gewonnen, aber einiges an Demokratie und zivilem Frieden verloren. Die Menschenrechtsliga LDH verlangt – genauso wie Amnesty, Human Rights Watch und rund 200 Organisationen der Zivilgesellschaft – die sofortige Rücknahme des Ausnahmezustandes. Die Gewerkschaft der Richter, Staatsanwälte und Anwälte, das Syndicat de la magistrature CSM, brachte es auf den Punkt: «Das Soziale ist der wahre Notstand, nicht die Sicherheit!»
Früher sah das auch Hollandes Regierungschef Manuel Valls so. Nach dem Anschlag auf die Satirezeitschrift «Charlie Hebdo» im Januar 2015 beklagte er die «soziale, ethnische und kulturelle Apartheid» im Lande. 2005 hatten die Vorstädte gebrannt. Zehn Jahre später waren die Verhältnisse in der Banlieue unverändert – Apartheid eben. Zehntausende bestens Ausgebildete finden keinen Job, weil sie Mohamed, Amir oder Soumaya heissen. Das Problem ist nicht ihre Integration. Sie sind integriert. Das Problem ist ihre Desintegration. Ein gewalttreibender Unterschied.
EMRK-Bestimmungen ausgesetzt
Doch nach dem 13. November interessierten Valls die Gründe für die hausgemachte Bereitschaft zu selbstmörderischer Gewalt und ihre Bewältigung nicht mehr. Der Premier sprach Denkverbote aus: «Verstehen wollen heisst entschuldigen.» Das war absurd, aber enthüllte die neue Strategie Hollandes: Spannungen erzeugen, regieren mit dem Ausnahmezustand. Einer seiner Spin-Doctors nennt dies zynisch die «Bürgerkriegsstrategie».
Zu Hollandes Dispositiv gehört, die Menschenrechtsverletzungen billigend in Kauf zu nehmen. Beleg: Bereits am 24. November 2015 liess er den Europarat über seine Absicht informieren, einen Teil der Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK auszusetzen. Human Rights Watch vermutet, der Brief diente dem Versuch, Frankreich vor Verurteilungen des Gerichtshofs für Menschenrechte zu schützen. Seither dürfte Frankreich zumindest gegen das Recht auf Sicherheit (Artikel 5), das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Artikel 8), die Meinungsäusserungsfreiheit (Artikel 10) und die Versammlungsfreiheit (Artikel 11) verstossen haben. Und wohl gegen das Diskriminierungsverbot (Artikel 14).
Höchste Staatsdiener schlagen Alarm
Ist Frankreich noch ein Rechtsstaat? Dominique Rousseau, prominenter Verfassungsrechtler an der Sorbonne, sagt es so: «Ein Rechtsstaat ja. Aber im Innern des Rechtsstaats wird ein Polizeistaat installiert.» Frankreich, die europäische Wiege der Menschenrechte als Polizeistaat?
Heftig, doch Professor Rousseaus Wort hat Gewicht. Mit seinem neuesten Buch «Radicaliser la démocratie» hat er in Frankreich kürzlich eine grundlegende Debatte über demokratische Institutionen, die Krise der Politik und die Verfassung angestossen.
Rousseaus Sorge teilen längst nicht nur demokratische Juristen, sondern auch höchste Diener der Republik. Am 18. Februar geschah Aufsehenerregendes: Die 60 Wächter der Nationalen Konsultativkommission für Menschenrechte (CNCDH) schlugen Alarm. Ungewöhnlich, die CNCDH wirkt sonst eher im Stillen. Ihr Communiqué überschrieben sie mit dem Titel: «Die Auswüchse des Notstandes oder die nicht zu rechtfertigende Zurückdrängung des Rechtsstaates.»
plädoyer hat sich den «rechtlichen Ratschlag» besorgt. Es ist eine veritable Anklageschrift.
15 dichte Seiten harter Klartext. Zahlreiche Verstösse gegen demokratische Rechte werden haargenau beschrieben, der Ausnahmezustand wird juristisch seziert. Urteil: unnötig, kontraproduktiv, brandgefährlich für Frankreich. Das ordentliche Recht stelle alle nötigen juristischen Instrumente längst zur Verfügung.
Hollande, schreiben die Professoren und Richter weiter, habe den Ausnahmezustand ohne Not, aus Gründen politischer Nützlichkeit verhängt: «Frankreich darf auf keinen Fall unter dem Eindruck des Entsetzens seine Werte opfern. Es muss im Gegenteil seine Demokratie verstärken.»
Bei Hollande drang das nicht durch. Unbeirrt liess er danach den Ausnahmezustand zweimal vom Parlament verlängern, nun auch über die Fussball-Europameisterschaft und die Tour de France im Juli hinaus.
Vom Ausnahme zum Dauerzustand
Notrecht ist eine scharfe Waffe, und sie ist zweischneidig. Der Ausnahmezustand beraubt die Bürger nicht nur elementarer Rechte. Indem er die Polizeigewalt über die richterliche stellt, zerstört er das Gleichgewicht zwischen den staatlichen Gewalten, eine Grundlage der Demokratie.
Entscheidender noch: Der Ausnahmezustand sollte, wie sein Name sagt, vorübergehender Natur sein. Etwa, um eine aussergewöhnliche Bedrohung für das staatliche Gewaltmonopol abzuwenden. Doch er neigt dazu, permanent zu werden. Laurence Blisson, Generalsekretärin der Justizgewerkschaft CSM, sagt: «Was wir bekämpfen, ist der perverse Effekt, dass immer mehr Bestimmungen des Ausnahmezustands, welche die Rechte beschneiden, ins ordentliche Recht übernommen werden. Sie vergiften das Strafrecht. Und wie ineffizient diese Massnahmen auch immer sind: Es gibt nie einen Weg zurück.»
Den Regierenden ist das Volk generell verdächtig
Blisson beschreibt die Entwicklungen des Rechts nicht nur in Frankreich. Das polizeiliche und administrative Arsenal wird seit Jahren in vielen Ländern verschärft. Gesetzesnovellen zielen auf die Aushebelung der Grundrechte. In Deutschland wurde nach 2001 die Unschuldsvermutung verwässert und die Beweislast umgedreht. Der US-amerikanische Patriot Act ist permanenter Ausnahmezustand in seiner härtesten Form. Und in der Schweiz sollen präventive Strafmassnahmen ergriffen werden können, bevor eine Tat auch nur in Angriff genommen wurde. Den Regierenden ist das Volk generell verdächtig geworden.
So sind, unter dem dünnen Vorwand islamistischer Gewalt, die meisten Demokratien unterwegs in eine autoritäre Ordnung. Die Islamisten erweisen einmal mehr ihre hohe Nützlichkeit für den Westen.
Die These, im kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem sei der Ausnahmezustand eigentlich Normalzustand, hatte der deutsche Philosoph Walter Benjamin schon in den 1920erJahren formuliert. Carl Schmitt, später Kronjurist der Nazis, schrieb zur selben Zeit: «Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.» Gewiss also nicht der Souverän der Demokratie, das Volk. Für den italienischen Denker Giorgio Agamben ist der Ausnahmezustand Recht, in dem jede Rechtsgültigkeit aufgehoben ist. Also Nicht-Recht.
Dieses Nicht-Recht in die Verfassung einschreiben, das unternimmt nun ausgerechnet der «Sozialist» Hollande, «le président normal», wie er sich gerne nennt. Zwei Tage nach den Attentaten rief er Abgeordnete und Senatoren zu einem Kongress nach Versailles (der Monarch ruft) und setzte eine grosse Verfassungsnovelle an («der Geist des 16. November»). Für die Konstitutionalisierung des Ausnahmezustandes fand er Mehrheiten. In einem Punkt aber scheiterte Hollande: Er wollte Personen mit einer zweiten Staatsbürgerschaft nach einer Verurteilung wegen Terrorismus die französische Nationalität absprechen. Die Idee stammt aus dem neofaschistischen Programm des Front National. Hollande hatte sie wenige Monate zuvor noch eine «Ungeheuerlichkeit» genannt.
Doch das Projekt geriet zum Fiasko. Frankreichs Zivilgesellschaft stand auf. Die eigene Partei ging in Widerstand zu ihrem Staatschef. Justizministerin Christiane Taubira quittierte gar ihr Amt, mit der Bemerkung: «Nicht auszudenken, wenn dieser permanente Ausnahmezustand in die Hände des Front National fiele.»
Auf Stimmenjagd bei den Rechtsextremen
Spätestens da wurden die wahren Motive des Ausnahmezustands klar: Hollande und Valls suchen die Stimmen des Front National einzusammeln, indem sie gegen den maghrebstämmigen Teil der Bevölkerung agitieren. Die Rechtsextremen legten in den letzten drei Regional- und Lokalwahlen massiv zu. Jetzt hofft ihre Führerin Marine Le Pen, 2017 als Präsidentin im Elysée einzuziehen.
Hollande bereitet ihr den Weg, gerade mit dem Ausnahmezustand. Seine Sprecher lässt er über «französische Identität» schwadronieren, statt die brennenden sozialen Fragen anzugehen. Wo die Klasse verleugnet wird, redet man über Rasse. Er spielt den Kriegspräsidenten und macht auf Law and Order. Der Ausnahmezustand hält für alles her. Als im Dezember die Weltklimakonferenz in Paris tagte, verbot die Regierung kurzerhand die grosse internationale Demonstration der Umweltschützer. Zahlreiche Umweltaktivisten wurden vorsorglich unter Hausarrest gestellt.
Dasselbe Spiel wiederholt sich, in anderer Form, seit die Jugend und die Gewerkschaften gegen das neue Arbeitsgesetz des neoliberalen Wirtschaftsministers Emmanuel Macron protestieren. Mit dem Arbeitsgesetz haben die Sozialisten das letzte ihrer Wahlversprechen gebrochen. Valls befahl: Knüppel raus, Hausarrest à gogo.
Nur können das die Rechten um den früheren Präsidenten Nicolas Sarkozy noch besser. Aus der Bewegung gegen das Arbeitsgesetz wächst jetzt «Nuit debout»: Nacht um Nacht proben Zehntausende auf dem Platz der Republik in Paris und auf Plätzen in drei Dutzend Städten neue Formen der Demokratie. Sarkozy hat dafür die Lösung: Räumen, wegputzen, vertreiben – im Namen des Ausnahmezustandes.