Jede vierte Person wird gegen ihren Willen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Zu diesem Schluss kam eine Studie des Winterthurer Rechtsanwalts Jürg Gassmann bereits 2011. Gassmann stützt sich dabei auf statistische Zahlen aus dem Jahr 2009.1
Daran hat sich bis heute nichts geändert. Beispiel Psychiatrische Universitätsklinik Zürich: Laut Chefarzt Paul Hoff lag im Jahr 2011 bei 31 Prozent aller Eingewiesenen eine fürsorgerische Unterbringung vor, 2012 waren es 27,2 Prozent und 2013 25,9 Prozent. Bei den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel lag die entsprechende Quote laut der Sprecherin Anna Lüthi von 2011 bis 2014 im Durchschnitt bei rund 10 Prozent: «Letztes Jahr zum Beispiel sind von 3112 Eintretenden 316 Personen per fürsorgerische Unterbringung eingewiesen worden.»
Rund 13 000 Betroffene pro Jahr
Zuverlässige absolute Zahlen zu den Zwangseinweisungen auf gesamtschweizerischer Ebene gibt es nicht. Laut Paul Camenzind, stellvertretender Leiter am Schweizerischen Gesundheitsobservatorium (Obsan), kennt man zwar die Gesamtzahl der psychiatrischen Hospitalisierungen. Aber, so Camenzind: «Die psychiatrischen Kliniken und Abteilungen können selbst entscheiden, ob sie für diese Fälle die sogenannten Psychiatriezusatzdaten an das Bundesamt für Statistik liefern wollen oder nicht. Nur aus diesen Zusatzdaten geht hervor, ob jemand freiwillig, unfreiwillig oder per fürsorgerische Unterbringung in die Psychiatrie eingewiesen wurde.»
Im Jahr 2013 zum Beispiel kam es in der Schweiz zu 92 251 psychiatrischen Hospitalisierungen. Die psychiatrischen Kliniken lieferten jedoch nur für 62 117 Fälle die erwähnten Zusatzdaten – knapp ein Drittel der Fälle bleibt so im Dunkeln. Unter diesem Vorbehalt kommt man für 2013 auf 8696 fürsorgerische Unterbringungen. Camenzind: «Da ein Drittel der Zusatzdaten nicht geliefert wurde, kann man auf diese Zahl noch einen Drittel zuschlagen, womit man auf rund 13 000 fürsorgerische Unterbringungen im Jahr 2013 kommt.»
Camenzind kritisiert zudem, dass sich die Vollzugsabläufe der Kantone bei der fürsorgerischen Unterbringung stark unterschieden und nicht einmal die Terminologie einheitlich geregelt sei. Daran kranke die Statistik ebenfalls. Gassmann verlangte deshalb bereits in seiner Studie aus dem Jahre 2011 die lückenlose Erfassung aller fürsorgerischen Unterbringungen zumindest in der Psychiatrie.
Gassmanns Studie zeigt zudem: Die Schweiz gehört bei der Anzahl psychiatrischer Zwangseinweisungen zusammen mit Finnland und Österreich zu den europäischen Spitzenreitern. Sein Fazit: In Ländern, in denen eine medizinische Stelle entscheide, sei die Quote an Zwangsunterbringungen höher als in solchen, in denen eine nichtmedizinische Stelle entscheidet. Länder mit obligater Einbeziehung eines Rechtsbeistands wiesen zudem klar niedrigere Unterbringungsquoten auf.
Massiver Eingriff in die persönliche Integrität
Die Voraussetzungen für eine fürsorgerische Unterbringung sind in Artikel 426 Absatz 1 ZGB geregelt. Sie darf nur angeordnet werden, wenn eine psychische Störung, eine geistige Behinderung oder eine schwere Verwahrlosung, das heisst eine Selbst- oder Fremdgefährdung, vorliegt, die Hilfe nötig macht. Voraussetzung ist zudem, dass diese Hilfe nicht anders erbracht werden kann als durch die Unterbringung in einer geeigneten psychiatrischen Einrichtung.
Ein solcher Freiheitsentzug stellt einen massiven Eingriff in die persönliche Integrität des Betroffenen dar. Christoph Lüthy von Pro Mente Sana, einer Stiftung, die sich für psychisch beeinträchtigte Menschen einsetzt, sagt: «Das Motto sollte lauten: So viel wie notwendig, so wenig wie möglich!» Chefarzt Hoff erachtet die hohe Zahl von Zwangseinweisungen als echtes Problem. Er sagt: «Ich habe zwar Verständnis für den Notfallarzt, der mitten im Trubel handeln muss. Aus meiner Sicht ist die Schwelle für eine Einweisung aber oft zu tief.» Könnten sich die Ärzte beim Entscheid mehr Zeit lassen, liessen sich laut Hoff viele unangemessene Einweisungen vermeiden.
Wer mit einer fürsorgerischen Unterbringung nicht einverstanden ist, kann sich dagegen wehren. Das Verfahren hängt dabei davon ab, ob die Erwachsenenschutzbehörde oder ein Arzt die Unterbringung angeordnet hat. «In den meisten Fällen handelt es sich um ärztliche Einweisungen, obwohl gemäss Gesetz die Erwachsenenschutzbehörde die ordentliche Einweisungsinstanz wäre», sagt Lüthy.
Hat ein Arzt die Zwangseinweisung angeordnet, muss gemäss Art. 429 Abs. 1 und 2 ZGB innert sechs Wochen ein vollstreckbarer Unterbringungsentscheid der Erwachsenenschutzbehörde vorliegen, ansonsten wird die betroffene Person entlassen. Hat dagegen die Erwachsenenschutzbehörde die Einweisung verfügt, muss die betroffene Person Beschwerde erheben (Art. 450 ZGB). Die Beschwerdefrist beträgt dabei zehn Tage seit Mitteilung des Entscheids. Die Beschwerdeinstanz hört die betroffene Person in der Regel an und entscheidet meist innert fünf Arbeitstagen seit Eingang der Beschwerde.
Laut Gassmann hat das neue Erwachsenenschutzrecht Verbesserungen beim Rechtsschutz gebracht, obwohl immer noch Mängel bestehen würden. Lüthy ist der Ansicht, der Rechtsschutz habe sich nicht wesentlich verändert. Er sei jedoch grundsätzlich ausreichend.
Ganz anderer Meinung ist Rechtsanwalt Edmund Schönenberger vom Verein Psychex, der sich für Menschen einsetzt, die gegen ihren Willen in Psychiatrien eingewiesen und zwangsbehandelt werden. Der Rechtsschutz sei in diesem Bereich «überhaupt nicht ausreichend». Er kritisiert: «Die fürsorgerische Unterbringung ist der schwerwiegendste Eingriff in der Schweiz. Durch sie verliert man nicht nur die Freiheit, sondern auch das Selbstbestimmungsrecht.»
Schönenberger kritisiert zudem, dass die Anhörungen im Beschwerdeverfahren meist bloss eine halbe Stunde oder maximal eine Stunde dauern: «Wie will man in so kurzer Zeit einen wildfremden Menschen kennenlernen?» Er habe unzählige Protokolle solcher Anhörungen gesehen. Sein Fazit: «Die Biografie des Betroffenen interessiert dabei überhaupt nicht!» Dieser stehe mutterseelenallein der Phalanx von Richter, Gutachter und Anstaltspsychiater gegenüber, die alle ins gleiche Horn blasen würden. «Eine solche Person, aufgewühlt durch Freiheitsberaubung und Zwangsbehandlungen, kann sich gar nicht verteidigen.» Nur schon deshalb müsse sie anwaltlich vertreten werden.
«Richter, Arzt und Gutachter sind eine Equipe»
Laut Schönenberger kommt es bei den Beschwerdeverfahren auch immer wieder zu Absprachen: «Der Richter, der Gutachter und der Anstaltsarzt kennen sich mit der Zeit und werden zu einer Equipe.»
Das bestätigt der Zürcher Rechtsanwalt Guido Brusa. Er schrieb in einer Aufsichtsbeschwerde zu einem Fall vor dem Bezirksgericht Horgen ZH: «Anlässlich der Durchführung der Hauptverhandlung in unserem Verfahren mussten wir erkennen, dass das Urteil zwischen dem Gericht, der Gutachterin und der Klinik, in der sich mein Klient befand, vorbesprochen und vorab gefällt worden war.» Brusa sagt gegenüber plädoyer zu diesem Fall: «Das Gericht und die zuständigen Ärzte der Klinik verstehen sich sehr gut, sie kennen sich aus vielen anderen Fällen mit vergleichbarer Konstellation.»
Schönenberger und Brusa kritisieren zudem, dass bei den Beschwerdeverfahren oft nicht alles protokolliert werde. Schönenberger: «Ist der Betroffene allein, hat er weder Zugang zu den Anstalts- noch zu den Gerichtsakten.» Man mache alles, um die Betroffenen im Ungewissen zu lassen.
Laut Schönenberger müsste vor jeder psychiatrischen Zwangseinweisung ein Prüfverfahren durchgeführt werden – analog dem nachträglichen Haftprüfungsverfahren im Strafrecht: «Weil der Eingriff schwerwiegender ist, muss es einen strengeren Rechtsschutz als im Strafrecht geben.» Zudem fordert er, dass Betroffene in sämtlichen Stadien des Verfahrens notwendig anwaltlich vertreten sein müssen.
Lüthy von Pro Mente Sana sieht dringenden Änderungsbedarf bei den Kosten: «Von Bundesrecht wegen müsste die gerichtliche Beurteilung kostenlos sein.» Seine Begründung: «Es ist stossend, wenn psychisch kranke Menschen, die gegen ihren Willen in einer Klinik sind und sich dagegen wehren, für eine gerichtliche Überprüfung bei Abweisung oder Rückzug auch noch bezahlen müssen.»
«Es kommt zu konspirativen Absprachen»
Der Zürcher Rechtsanwalt Guido Brusa behandelt gelegentlich Fälle des Erwachsenenschutzrechts. Er übt scharfe Kritik.
plädoyer: Sie kritisieren, dass es in Beschwerdeverfahren oft zu Absprachen zwischen Ärzten und Gericht kommt. Können Sie das belegen?
Guido Brusa: Der Arzt der Institution, in der die fürsorgerische Unterbringung durchgeführt wird, und der Arzt, der als Experte beigezogen werden muss, sowie der Mitarbeiter des Gerichts besprechen den Fall immer vor der Verhandlung. Der Kreis dehnt sich regelmässig auch auf den Anwalt des Patienten aus, sofern ein solcher vorhanden ist. Das muss nicht schlecht sein. Das Problem liegt im formfreien, offiziösen Charakter der Vorbesprechung. Damit wird sie zur konspirativen Absprache. Sie umfasst meist nur einen Teil der genannten Personen.
Weshalb werden die Inhalte dieser Besprechungen nicht zu den Akten genommen?
Das ist ein Problem, das aus der fehlenden Transparenz erwächst. Das Offizialverfahren wird als inquisitorisches Verfahren fehlinterpretiert. Die wirkliche Kalamität des Verfahrens liegt aber im Umstand, dass das Obergericht des Kantons Zürich an diesen groben Verletzungen der Verfahrensfairness keinen Anstoss nimmt. Wahrscheinlich wird schon alles protokolliert. In der Regel werden diese Protokolle aber nicht vorgelegt und deren Existenz bestritten. Das ist der Angelpunkt: Die typischen Risiken einer Vorbesprechung verwirklichen sich erst, wenn sie nicht verurkundet werden oder den Parteien nicht zugänglich sind. Dann wird das Offizial- zum Geheimverfahren – der Lehrbuchfall eines unfairen Prozesses.
Weshalb beachten die Gerichte in solchen Verfahren die Waffengleichheit der Parteien zu wenig?
Der Gesetzgeber hat in Verfahren, bei denen eine schwächere einer stärkeren Partei gegenübersteht, oft die Offizialmaxime eingeführt, um ein faires Verfahren zu garantieren. Im Alltag tritt genau das Gegenteil ein: Das Offizialverfahren gibt der Verfahrensleitung grossen Spielraum, auch ihren Vorurteilen und unsachlichen Präferenzen. Fairness und Unfairness überschneiden sich, sobald die Offizialmaxime Absprachen institutionalisiert. Die Offizialmaxime fördert Narrenfreiheit und Filz.