Der Backsteinbau von Mario Botta sieht imposant aus. Doch das Bundesstrafgericht muss sich im «Business Center Bellinzona» mit einem und einem halben Stockwerk bescheiden. Erst Ende 2013 kann es sein eigenes Haus beziehen. Wie knapp der Raum im Provisorium ist, zeigt sich im Büro von Gerichtspräsident Andreas J. Keller. Neben dem Schreibtisch bleibt bloss Platz für ein kleines Gestell mit Büchern und Familienfotos. Das Gespräch beginnt mit der überraschenden Erklärung Kellers: «Grundsätzlich geben wir keine persönlichen Interviews. Wir sind der Auffassung, dass eine solche Personifizierung nicht dienlich ist für das Gericht und seine Glaubwürdigkeit.» Nur für Fachzeitschriften wie plädoyer mache man eine Ausnahme.
In der Folge zeigt sich der überaus schlank und asketisch wirkende Jurist locker und offen. Geradezu ins Schwärmen gerät der 60-Jährige, wenn er von den Anfängen des Gerichts erzählt. Am 1. Oktober 2003 hatte die Bundesversammlung die ersten elf Richter und Richterinnen des Bundesstrafgerichts gewählt. Ein halbes Jahr später musste das Gericht betriebsbereit sein.
Viel Improvisation war gefragt, die Richter mussten ohne Personal und Infrastruktur loslegen. Für Keller, der von Beginn als Vizepräsident amtete, eine sehr intensive Phase. Er musste seine Arbeit als Staatsanwalt in St. Gallen erledigen und sich in Bellinzona mit dem Präsidenten um Aufbau der Infrastruktur und die Rekrutierung der Gerichtsschreiber kümmern. Im Zug büffelte Keller, der bei seiner Wahl kein Wort Italienisch konnte, italienische Vokabeln. «Es war eine ganz coole Zeit. In Bellinzona herrschte eine tolle Stimmung», erinnert er sich.
Weniger erfreuliche Erinnerungen hat er an seine Schulzeit. Da es im Rheintal kein Gymnasium gab, schickten ihn die Eltern in das von Kapuzinern geführte Internat Appenzell. Der Schüler empfand das dort erlebte Mass an Freiheitsentzug als geradezu traumatisierend. Alles, was nicht explizit erlaubt wurde, war verboten. «Es war strenger als der offene Vollzug im Gefängnis», sagt Keller - das sei kein Scherz.
Dann kam das Rechtsstudium in Freiburg. Nichts deutete darauf, dass der Student Strafrechtler werden würde. Das Obligationenrecht begeisterte ihn weit mehr. Nach Doktorat und Anwaltspatent arbeitete er drei Jahre als Rechtskonsulent in einem Treuhandbüro und kam so zum Handels- und Bilanzrecht.
Zum Strafrecht fand er erst als Gerichtsschreiber am Kantonsgericht St. Gallen, als er der Anklagekammer zugeteilt wurde. Die prozessuale Strenge des Kammerpräsidenten beeindruckte ihn und prägte seine Rechtsüberzeugung: «Nur ein faires Strafverfahren kann zu einem guten Urteil führen.» 1991 wurde er Staatsanwalt und entwickelte sich zum «blendenden Strafrechtler». Das Lob kommt von Niklaus Oberholzer, der im Juni ans Bundesgericht gewählt worden ist. Keller sei ein wichtiger Gesprächspartner gewesen, wenn es um fachliche Probleme ging.
Eine andere Seite Kellers zeichnete die Presse nach der Wahl ans Bundesstrafgericht. Er gelte als Hardliner und sei durch drakonische Strafanträge aufgefallen, war zu lesen. Keller widerspricht: Bei kleineren Delikten sei er nie hart gewesen. Nicht hinnehmen wollte er jedoch die Verharmlosung von Gewalttaten, die nur dank einem glücklichen Umstand nicht zum Tode oder einer schweren Verletzung des Opfers geführt hatten: «Es ist ja nichts passiert, hat es da schnell geheissen.» Mit seinen Anträgen versuchte er, diese allzu milde Praxis der Neunzigerjahre zu korrigieren.
Aufsehen erregte er als ausserordentlicher Zürcher Staatsanwalt im Mordfall Zollikerberg. Er warf dem Gefängnisdirektor und Justizbeamten vor, sie hätten fahrlässig gehandelt, als sie dem Täter Hafturlaub gewährten. Zu ihrem anschliessenden Freispruch will Keller heute nur so viel sagen: «Eigentlich hätte ich viel lieber das System angeklagt. Das sagte ich auch dem Hauptbeschuldigten.»
Mit dem Bundesstrafgericht eröffnete sich die Chance, nach 13 Jahren Staatsanwalt etwas Neues zu machen. Keine Rolle beim Wechsel ins Tessin spielte die Niederlage bei den Kantonsrichterwahlen. Er habe das nicht persönlich genommen, versichert Keller. Tatsächlich war er ein Opfer eines Parteienstreits. Die SVP hatte von der CVP Unterstützung für ihren Kandidaten erhofft. Doch dann trat die CVP mit Keller an. Das ärgerte die SVP-Kantonsräte derart, dass sie am Schluss dem SP-Anwalt Niklaus Oberholzer den Vorzug gaben.
Vielleicht ist Keller ganz froh, dass es so gekommen ist. Er geniesse es, bei der Arbeit in drei Kulturen daheim zu sein, sagt er heute. Unter der Woche wohnt er bei Bellinzona, am Wochenende kehrt er heim in die Ostschweiz. Manchmal kommt auch seine Frau ins Tessin. Stolz erzählt der 60-Jährige, dass er zum zweiten Mal Grossvater wird.
Am Bundesstrafgericht hat die neue Strafprozessordnung laut Keller zu erstaunlich wenigen Problemen geführt. «Die StPO ist nicht nur ein gutes, sondern ein sehr gutes Gesetz», lobt Keller. «Ich finde es richtig, dass der Gesetzgeber Untersuchung und Anklage in einer Hand konzentriert hat. Auf der andern Seite war es auch notwendig, dass man Schutzmechanismen wie etwa den Anwalt der ersten Stunde einbaute.»
Keller gehört seit Beginn seiner Zeit in Bellinzona der Beschwerdekammer an, die auch für die internationale Rechtshilfe zuständig ist. Ende 2013 endet seine Amtszeit als Präsident. Dann wird er wieder öfter als Richter amten können.
Vielleicht hat er dann auch mehr Zeit, sich seiner Passion, der Philosophie und der Geschichte zu widmen. In St. Gallen hatte er noch Vorlesungen besucht. Das will er spätestens nach der Pensionierung wieder aufnehmen. Inzwischen liest er so viel wie möglich. Bücher über die Geschichte des 20. Jahrhundertes und «alles, was mit der res publica zu tun hat».