Seit dem 1. Januar ist Jean-Luc Baechler, 55, Präsident des Bundesverwaltungsgerichts. Er erscheint in einem feinen, massgeschneiderten Schurwollanzug – oder ist es gar Merino? – mit perfekt sitzendem Gilet, sein Händedruck ist fest. «Prenez place!», bittet Baechler zum Interview und lächelt. Er wird während eineinhalb Stunden lächeln, selbst bei den bissigsten Fragen zur Zerstrittenheit im Gericht wird er lächeln – galant bis in die Zehenspitzen, die in einem rahmengenähten Qualitätsprodukt stecken.
«Le Roi de la Broye» nannten sie ihn im freiburgischen Broye-Bezirk. Mit erst 32 Jahren schafft der gelernte Anwalt 1991 den Sprung ins stolze Schloss Chenaux über dem Neuenburgersee. Hier, in Estavayer-le-Lac, thront der Préfet, der Oberamtmann. «Da habe ich meine Liebe zum Verwaltungsrecht entdeckt», sagt Baechler. Zu seiner Zeit war der Oberamtmann auch Baubewilligungsbehörde, zudem beriet er Gemeinden bei Fusionen.
Er musste aber auch bei ausserordentlichen Todesfällen vor Ort sein. In dieser Gegend greift man bei Suiziden nicht zum Revolver oder geht ins Wasser, hier erhängt man sich. «Auch die Frauen», erzählt Baechler. Bewegte Jahre. Er setzt Zeichen im verzettelten Grenzgebiet zwischen der Waadt und Freiburg mit den historischen Städtchen Payerne, Estavayer, Moudon und Avenches. Er treibt das erste Spital an, das die Kantonsgrenzen überschreitet, oder das erste interkantonale Gymnasium der Schweiz.
Baechler – le Roi de la Broye. Er lächelt. Geholfen haben ihm die Dragoner: «Waadtländer und Freiburger ritten oft gemeinsam aus, da war Zeit, um einen Zusammenhalt aufzubauen.» Hoch zu Ross, da ist er behende – der Bauernsohn: «Mein Vater stellte zum allgemeinen Entsetzen schon in den 1960er-Jahren auf einen reine Getreidebetrieb um und verkaufte die Kühe.» Noch heute reitet er mit seiner Frau aus, die er ebenfalls über den Reitsport kennenlernte. Oder er spielt eine Runde Golf, sein Handicap liegt bei 19.
2001 kandidiert Baechler als CVP-Mann für die Freiburger Regierung und scheitert klar – ein Bruch in der Karriere. Er wendet sich von der Politik ab und wird Bezirksgerichtspräsident. Der zweite Bruch folgt drei Jahre später. Baechler wechselt zur SVP. «Die Partei ist mir im Verlauf der Zeit mit ihrer klaren Haltung zur Landwirtschaft, aber auch in Fragen der Sicherheitspolitik einfach näher gerückt.» Stolz schiebt er nach, dass sein Grossvater Gründungsmitglied der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) gewesen sei, der Vorläuferin der SVP.
Parteipolitik spiele am Bundesverwaltungsgericht keine Rolle. «Hier wird in Dreier- oder Fünfergremien entschieden.» St. Gallen sei nicht Bern. Bei der Wahl 2006 ins Bundesverwaltungsgericht boykottiert die CVP-Bundeshausfraktion seine Wahl – aus Groll wegen des Parteiwechsels. Ihn kümmerts nicht mehr. 64 Richterkollegen von 68 Anwesenden schlugen ihn letztes Jahr zum Präsidenten vor – ein Glanzresultat.
«Homme de terrain», so charakterisiert sich Baechler im Gespräch immer wieder selbst. Man könnte das mit «bodenständig» übersetzen. Baechler ist einer, der gerne rausgeht, mit den Leuten redet, vermittelt und überzeugt. Und nun schichtet er in seinem Büro mit Aussicht auf die Stadt St. Gallen Dossiers um. Etwa 9000 Urteile fällt das Gericht pro Jahr, die überwiegende Mehrheit im Aktenverfahren. Das muss für einen «Homme de terrain» nicht gerade spannend sein. Er lächelt.
Wer einen Blick auf das Organigramm des Bundesverwaltungsgerichts wirft, realisiert sofort: Da gibt es grösseren Klärungsbedarf. Wer befiehlt wem? Wer darf was? «Die Kompetenzen sind noch nicht genügend definiert», gibt Baechler zu. Es sei ein Hauptziel seiner zweijährigen Präsidialzeit, da Klarheit zu schaffen.
Seit gut einem Jahr läuft das Projekt Gerichtsorganisation 2016. Es soll zusammen mit einer externen Coaching-Firma die Organisation des Gerichts verbessern. Ein Minenfeld. Welcher Richter gibt schon gerne Kompetenzen ab? Verbessern will Baechler auch die interne Kommunikation: «Wir machen einen monatlichen Newsletter.»
Von den rund 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Gerichts reden 67 Prozent Deutsch, 25 Prozent Französisch, 7 Prozent Italienisch und 1 Prozent eine andere Sprache als Hauptsprache. Der Frauenanteil beträgt rund 56 Prozent. «Wir repräsentieren die Schweiz im Miniaturformat», sagt Baechler. Und wie wird kommuniziert? «Jeder in seiner Sprache, wobei die Tessiner meist Deutsch oder Französisch sprechen.» Ihm ist wichtig, dass er als Romand auch in St. Gallen Französisch sprechen kann.
Er bedauert, dass er in seiner Jugend nicht besser Deutsch gelernt hat – ihn zog es mehr nach England. Ein Jahr belegte er in Oxford «Common law», aber auch Seminare in «Old history». Daneben schloss er auf der Insel eine Liebe fürs Leben: Er entdeckte die Whiskys. Gut 250 Jahrgangsflaschen umfasst seine Sammlung. «Der McCallahan ist mein Favorit – ein Single Highland Malt.»
Er habe sich in St. Gallen gut eingelebt, «das gastronomische Angebot für die Freizeit ist sogar besser als in Freiburg», staunt der Welsche. Vielleicht auch deshalb sind die Vorbehalte der welschen Fraktion verschwunden.
Baechler ist Oberstleutnant im Generalstab und Berater der Armeespitze in juristischen Fragen. Mit der Feststellung konfrontiert, militärische Führung bestehe doch in «Kommandieren, Kontrollieren, Korrigieren», gefriert für einmal sein Dauerlächeln: «Ganz sicher spiele ich hier nicht den Feldweibel», betont er dann. Richterliche Zusammenarbeit beruhe auf «Confiance, auf Vertrauen». Es gebe für die Richter keine Arbeitszeitkontrolle, regelmässig würden Dossiers auch zu Hause studiert. «Wir sind ein Leuchtturm, wir liefern exzellente Arbeit.» Die Stimme ist etwas forscher, senkt sich aber schnell. Keine Sekunde verliert der Mann die Contenance.
Dann leuchten seine blau-grauen Augen wieder. Baechler erzählt von seinen Träumen. Gerne würde er wieder mehr Klavier spielen. Am liebsten habe er Mozart und Chopin. Oder auch in einem Chor würde er gerne wieder mitsingen, wie in seiner Jugend. Er sinniert, stützt sein Kinn auf einer Hand auf, blickt auf die antiquarisch erstandene, schlichte Rolex («zum fünfzigsten Geburtstag»).
Und jetzt fällt er auf, dieser Henri-IV-Bart, benannt nach dem französischen Heinrich dem IV., dem ersten Bourbonenkönig. Er befriedete Frankreich mit dem Edikt von Nantes. Ein Bart, der in der Pflege viel Geduld erfordert – wie die 72 Bundesverwaltungsrichter.