Hungerstreiks verlaufen in einem Dreiecksverhältnis zwischen dem streikenden Insassen, den staatlichen Behörden und der Öffentlichkeit. Der Inhaftierte versucht mit seiner Verweigerungshaltung, die Sympathie der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen und so Druck auf die Behörden auszuüben. Er ist grundsätzlich nicht selbstmordgefährdet, denn sein Ziel ist es weiterzuleben, nachdem seine Forderungen erfüllt worden sind. Die Behörden neigen dazu, eine solche Person als geisteskrank oder suizidal hinzustellen, um eine Zwangsernährung einfacher anordnen und rechtfertigen zu können. Sie gewichten die staatliche Fürsorgepflicht für Strafgefangene und die uneingeschränkte Durchsetzung des Strafanspruchs höher als deren Selbstbestimmungsrecht.
Das tut auch Markus Müller in seinem im plädoyer 5/13 auf Seite 20 veröffentlichen Beitrag. Diese Bewertung überzeugt weder juristisch noch ethisch.
Arten und Verlauf eines Hungerstreiks
Beim trockenen Hungerstreik verweigert der Gefangene jede Flüssigkeits- oder Nahrungsaufnahme, was innert weniger Tage zum Tod durch Austrocknung führt. In der Praxis kommt diese Form selten vor, weil der Zeitraum bis zum Ableben zu kurz ist, um die Öffentlichkeit zu instrumentalisieren.
Beim totalen Fasten verzichtet eine Person auf Nahrung, trinkt aber. Ohne medizinische Behandlung führt das nach etwa sechs Wochen zu Bewusstseinsbeeinträchtigungen und eingeschränkter Zurechnungsfähigkeit. Länger als 75 Tage hat noch keine Person dieses eiserne Fasten überlebt.
Bei der partiellen Nahrungsverweigerung nimmt die streikende Person kein festes Essen zu sich, jedoch flüssige Nährstoffe wie aufgelösten Zucker, Vitamine, Milch und Honig. So kann die Dauer des Hungerstreikes über sieben Wochen hinaus verlängert und der Druck über einen ausgedehnten Zeitraum aufrechterhalten werden. Diese Variante des Hungerstreiks wurde vom schweizweit bekannten Insassen Bernard Rappaz angewendet. Auch bei dieser Form der Nahrungsverweigerung können gesundheitliche Störungen bis zum Hungertod auftreten.
Eine erneute Nahrungsaufnahme muss unter ärztlicher Kontrolle erfolgen. Je länger die Nahrungsverweigerung dauerte, desto grösser ist die Gefahr, dass der Abbruch des Hungerstreiks zu lebensbedrohlichen Komplikationen oder gar zum Tod führt.
Mittel der Zwangsernährung
Bei einer Zwangsernährung wird der Insasse am Bett festgebunden und gegen seinen Willen mit einer Sonde über die Nase und den Rachen in den Magen oder mittels Infusion direkt in die Blutbahn ernährt. Beides sind äusserst invasive Methoden und schwere Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte. Nach Ansicht der meisten Ärzte ist dieses Vorgehen inhuman und erniedrigend im Sinne von Artikel 3 der EMRK. Es verstösst gegen medizinisch-ethische Richtlinien.
Der Europäische Menschrechtsgerichtshof bezeichnet Zwangsernährung als Folter; der Tod eines Insassen infolge Hungerstreiks sei keine Verletzung der Menschenrechte, sofern der Inhaftierte Zugang zu denselben medizinischen Leistungen wie eine frei lebende Person hatte; zudem könnten die Behörden nicht dafür kritisiert werden, wenn sie den Willen eines Insassen respektierten, der sich trotz eines lebensbedrohlichen Zustandes strikt gegen jeden medizinischen Eingriff zur Wehr setzt (EGMR-Entscheid i.S. Ciorap c. Moldawien, N° 12066/02, 2007, und Horoz c. Türkei, N° 1639/03, 2009).
Ein Patient bleibt auch im Gefängnis ein Patient
Dieser allgemeine Grundsatz erlaubt es urteilsfähigen Insassen, in Selbstverantwortung und Achtung ihrer Würde zu entscheiden, ob sie sich einem medizinischen Eingriff unterziehen wollen oder nicht. Inhaftierte Personen dürfen nicht zum Objekt der Bestrafung gemacht oder erniedrigt werden. Artikel 74 Strafgesetzbuch ruft uns dies in Wiederholung der gleichlautenden Verfassungsbestimmung in Erinnerung.
Das Bundesgericht räumt ein, dass die Zwangsernährung eines Insassen eine Beschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit und der persönlichen Freiheit darstelle (BGE 136 IV 97; Fehlurteil 2010 in: plädoyer 1/11). Mangels gesetzlicher Grundlage rechtfertigte es jedoch den Eingriff unter Bezug auf die allgemeine Polizeiklausel, indem es sich auf eine juristisch wenig überzeugende Begründung abstützt. In Abänderung der konstanten Rechtsprechung hielt es im Fall Rappaz für die Anwendung dieser Klausel nicht mehr für notwendig, dass das Ereignis, das heisst im konkreten Fall der Hungerstreik, weder atypisch noch unvorhersehbar sein müsse. Wie es im Urteil richtigerweise anführte, treffe dies im Falle eines Hungerstreiks grundsätzlich nie zu, denn eine zeitweilige Nahrungsverweigerung sei ein häufiges Phänomen.
Gefangene sind mündige Rechtssubjekte, die ihr Selbstbestimmungsrecht im Freiheitsentzug ausüben dürfen. Diese Maxime verfolgt das Strafgesetzbuch, wenn es in Artikel 75 Absatz 4 anführt, dass Gefangene bei Resozialisierungsbemühungen und Entlassungsvorbereitungen aktiv mitzuwirken haben. Die Rechtsordnung geht somit davon aus, dass auch Strafgefangene grundsätzlich selbst die Verantwortung für ihr Fortkommen und Leben tragen.
Empfehlungen für die ärztliche Begleitung
Sowohl die von der World Medical Association als auch die von der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften erlassenen medizinisch-ethischen Richtlinien weisen den behandelnden Arzt an, das Selbstbestimmungsrecht des hungernden Gefangenen zu respektieren. Urteilsunfähigen Insassen muss ein Vormund bestellt werden, der dem behandelnden Arzt den mutmasslichen Willen des Mündels mitteilt.
Der Wille urteilsfähiger Inhaftierter soll schriftlich festgehalten werden. Der Arzt hat den Insassen darauf hinzuweisen, dass er diese Patientenverfügung jederzeit widerrufen kann. Zudem muss er ihn über alle gesundheitlichen Folgen eines Hungerstreiks aufklären. Ab einem Verlust von rund zehn Prozent des Körpergewichts sollten Gefangene ins Spital eingewiesen werden. Auch bei strikter Nahrungsverweigerung ist stets Essen und Trinken anzubieten.
Medizinische Eingriffe mit Gewalt sind abzulehnen
Hungerstreikende sind grundsätzlich nicht suizidal, sondern wollen Aufmerksamkeit wecken, um ihre Ziele durchzusetzen. Menschen, die bereit sind, alles zu unternehmen, um zu sterben oder sich zu schädigen, können auf Dauer im Freiheitsentzug nicht von ihrem Vorhaben abgehalten werden.
Keine zurechnungsfähige Person darf gezwungen werden, eine medizinische Intervention gegen ihren Willen zu dulden. Völlig abzulehnen ist die Anwendung von unmittelbarem Zwang oder Gewalt, um einen medizinischen Eingriff durchzuführen. Dasselbe gilt im Grundsatz auch im Freiheitsentzug.
Schliesslich erscheint es ethisch geboten, einen überzeugten Hungerstreikenden in Würde sterben zu lassen, anstatt ihn mit wiederholten Zwangseingriffen zu quälen, um ihn am Leben zu erhalten. Dieser Maxime folgten die Zuger Behörden im Frühjahr 2013, als sie einen Insassen, der mit totalem Fasten konsequent seine Freilassung erzwingen wollte, nicht zwangsernährt hatten. Das führte letztlich zu seinem Tod.