Karl Wüthrich wäre heute Bauer, wenn er den Hof der Eltern im Kanton Thurgau übernommen hätte. Doch Wüthrich entschied sich für ein Leben im Anzug statt im Sennenhemd: gegen ein Agronomiestudium und für die Rechtswissenschaften. «Meine Eltern liessen mir diese Freiheit.» Die anderen fünf Geschwister gingen ebenfalls ihren Weg. Und die Eltern gaben den Hof auf. Wüthrich sagt dies alles mit ruhigem Ton. Fast gleichgültig. So, als würde er von einem anderen Leben erzählen.
Der 65-Jährige wird emotional, sobald das Wort Liquidation fällt: Zwei Jahre vor Abschluss des Studiums bot ihm ein Bekannter einen Ferienjob bei der damaligen Allgemeinen Treuhand AG an. Wüthrich kam so zu seinem ersten Liquidationsverfahren. Der 24-jährige Jus-Student half mit, die damalige BANKAG zu liquidieren – zuerst als Sachbearbeiter, später leitete er das Mandat.
Die praktische Tätigkeit gefiel Wüthrich. Nach dem Erwerb des Anwaltspatents kehrte er 1983 zur ATAG Ernst & Young AG zurück. Zehn Jahre später stieg er in der Anwaltskanzlei Wenger Plattner ein und baute die Zweigstelle in Zürich mit auf. Er blieb der Kanzlei bis heute treu.
In diesen mehr als 30 Jahren befasste sich Wüthrich vor allem mit grossen Verfahren nach dem Schuldbetreibungs- und Konkursgesetz (SchKG): Er begann mit der Ärzte Leasing Keller AG, war Mandatsleiter im Konkurs des Pleitiers Werner K. Rey und liquidierte als ausseramtlicher Konkursverwalter den Papierkonzern Biber. Sein Motto: «Zupacken, Entscheide fällen, Verantwortung tragen.»
Wie fühlt es sich an, über 40 Jahre als Bestatter von Unternehmen zu wirken? Ist das nicht eine trockene Materie? «Im Gegenteil», sagt Wüthrich. «Ein SchKG-Verfahren bietet alles. Viele interessante Rechtsfragen stellen sich. Dazu braucht es Erfahrung im Projektmanagement und in der Personalführung.» Vor allem müsse man praktisch vorgehen: «Wenn mich ein CEO als Sanierungsberater in sein Unternehmen ruft, gehe ich zuerst ins Warenlager. Liegt auf den eingelagerten Waren viel Staub, weiss ich sofort, dass mit dem Umsatz etwas nicht stimmen kann.»
Karl Wüthrich liquidiert in erster Linie. Was hat das mit Sanierung zu tun? «Oh, sehr viel!» Als Beispiel führt er das Swissair-Verfahren an. «Wir konnten einige Tochterfirmen wie SR Technics, Gate Gourmet oder Swissport erfolgreich aus der Liquidation herauslösen und verkaufen. Diese Unternehmen existieren heute noch. Ich behaupte, dass 60 bis 70 Prozent der Substanz der Swissair-Gruppe erhalten blieben.»
46 Millionen Honorar allein bei SAir-Group
Seit bald 17 Jahren nagt Karl Wüthrich am Knochen der Swissair. Genauer: Neben der SAir-Group als Muttergesellschaft ist er auch für die Tochtergesellschaften SAirLines, Flightlease und Swissair zuständig. Der Knochen scheint noch immer über grosse Fleischstücke zu verfügen. Wüthrich hat dabei gut verdient: Allein beim SAir-Group-Verfahren sind es bis heute rund 46 Millionen Franken Honorar. Dafür wird er am Schluss über 2,5 Milliarden Franken an die Gläubiger verteilen können. Das entspricht in der dritten Klasse einer stolzen 20-Prozent-Dividende.
Langweilt das lange Nagen am gleichen Knochen nicht? «Ganz und gar nicht», sagt Wüthrich. «Über die Jahre stellen sich unzählige Probleme, die mit Geschick, sachlichem Verstand und enormer Geduld gelöst werden müssen.» Das sporne ihn an. Zurzeit löse er eines der letzten Probleme: «Ich muss die Geldkreisläufe zwischen den Gesellschaften unterbrechen. Denn wenn eine Abschlagszahlung von der SAir-Group an die Gläubiger bezahlt wird, fliesst auch Geld an die Tochterfirmen. Wegen der engen Verflechtung der Gesellschaften untereinander fliesst ein Teil des Geldes wieder an die Muttergesellschaft zurück. So kommen wir nie zu einem Ende.»
Wüthrich wird auch dieses Problem lösen – wie dasjenige mit den Lohnforderungen der Swissair-Angestellten. «Im Gespräch mit den Personalverantwortlichen merkte ich, dass man mit Zugeständnissen an eine Mitarbeitergruppe nicht weiterkommt.» Seine Lösung: «Ich musste die Angestellten so behandeln, wie wenn ich die Swissair selber saniert hätte. Dann wäre ein Teil von ihnen entlassen, ein Teil frühpensioniert und ein Teil mit reduziertem Lohn weiterbeschäftigt worden. Dementsprechend wurden die Lohnforderungen beurteilt. Die meisten Angestellten akzeptierten diese Lösung.»
Karl Wüthrich sucht immer das Gespräch mit allen Beteiligten – manchmal auch auf unkonventionelle Art: Zu Beginn der Nachlassstundung 2001 führte das Kabinenpersonal in einer Waldhütte einen Weihnachtsanlass durch. Wüthrich ging hin und hielt mit den Swissair-Leuten eine Wurst übers Feuer. «Diese Geste hat meine spätere Arbeit erleichtert», sagt er.
Über 20 Millionen Franken Negativzinsen
Der Liquidator ist ein gelassener Mensch. Beim Gespräch über Negativzinsen, die seit drei Jahren auf die deponierten Guthaben erhoben werden, ist es mit seiner Gelassenheit aber vorbei. «Damit enteignet der Staat die Gläubiger!» Bisher musste er im Swissair-Verfahren der Zürcher Kantonalbank mehr als 20 Millionen Franken für Negativzinsen bezahlen.
Am 15. März feierte Wüthrich den 65. Geburtstag. Er ist seit 41 Jahren verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. «Dass unsere Ehe so lange gehalten hat, ist vor allem ihr Verdienst.» Er habe immer sehr viel gearbeitet, sei selten zu Hause gewesen. «Langsam will ich mich nun ins dritte Glied zurückziehen. Das Swissair-Verfahren schliesse ich aber noch ab – hoffentlich bis 2020.» Danach will er keine grossen Projekte mehr in Angriff nehmen. Aus seiner langjährigen praktischen Erfahrung hätte er Material für ein Handbuch zum Konkurs- und Nachlassverfahren. Doch Wüthrich winkt laut lachend ab: «Dafür bin ich zu faul.» Er werde künftig längere Ausfahrten mit seiner Honda CB 1000 R machen. «Vielleicht wieder mal auf die Rennstrecke im andalusischen AlmerÍa.» Auf intellektueller Ebene interessieren ihn die Politikwissenschaften. «Ich werde auch die eine oder andere Vorlesung besuchen», sagt er.
Doch ganz von der Swissair wird er auch dann nicht lassen können. Karl Wüthrich hatte das EDV-Programm selber geschrieben, mit dem die Swissair-Verfahren abgewickelt werden. «Dieses Programm möchte ich für meine Kanzlei auf einen modernen Stand bringen.»
17 Jahre Liquidation
Am 5. Oktober 2001 und drei Tage nach dem Grounding der Swissair-Flotte begann das grösste Liquidationsverfahren der Schweiz. Karl Wüthrich wurde als Sachwalter und später Liquidator der SAir-Group und ihrer Tochtergesellschaften SAirLines, Flightlease und Swissair eingesetzt. Mehrere Zehntausend Gläubiger meldeten Forderungen von über 160 Milliarden Franken an. Wüthrich anerkannte davon rund 20 Milliarden Franken. An die Gläubiger werden rund 4,5 Milliarden Franken ausbezahlt