Anfang Juni forderte die damalige griechische Regierung von Alexis Tsipras Deutschland zu Verhandlungen über Kriegsreparationen auf. Das Athener Parlament hatte sich Ende April mit überparteilicher Mehrheit für diesen Vorstoss ausgesprochen.
Nazi-Deutschland verursachte während der Besetzung Griechenlands von 1941 bis 1944 riesige Schäden. Mindestens 100 000 Griechen verhungerten, rund 50 000 wurden getötet, ein Grossteil von ihnen als Zivilisten bei sogenannten «Sühnemassnahmen» für Partisanenangriffe. 60 000 Juden wurden deportiert, 800 Dörfer, 73 Prozent der Handelsflotte und 80 Prozent der Infrastruktur des Landes zerstört, Ressourcen in grossem Stil ausgebeutet. In Bezug auf Reparationen kam Griechenland aber im Vergleich zu andern Ländern ausgesprochen schlecht weg.
Deutschland und seine ehemaligen Kriegsgegner schlossen 1945 keinen Friedensvertrag, da sich die grossen drei Westalliierten USA, England und Frankreich politisch immer weiter von der sowjetischen Siegermacht entfernten. Die Alliierten beriefen eine Reparationskonferenz in Paris ein, an der Deutschland nicht beteiligt war. Griechenland legte dabei eine erste Schadensbilanz vor. Dem Land wurden Entschädigungen im Wert von 7,18 Milliarden US-Dollar zugesprochen. Erhalten hat Griechenland aber nur einen Bruchteil davon. Sein Anspruch auf Rückerstattung eines Kriegskredits an die deutschen Besatzer wurde gestrichen. Gemäss dem Pariser Abkommen präjudiziert dies aber weder den Gesamtbetrag der von Deutschland zu leistenden Reparationen noch das jeder Signatarmacht möglicherweise zustehende Recht bezüglich der endgültigen Regelung jeglicher weiteren Ansprüche. Auf der Londoner Konferenz über deutsche Auslandsschulden 1953 stand für die Westalliierten im Vordergrund, dass die Bonner Republik als wichtiges Frontland im Kalten Krieg wieder auf die Beine kam. Daher wurde die Reparationsfrage ausgeklammert und implizit bis zur deutschen Wiedervereinigung vertagt. In Artikel 5, Absatz 2 des Londoner Schuldenabkommens heisst es: «Eine Prüfung der aus dem Zweiten Weltkrieg herrührenden Forderungen von Staaten, die sich mit Deutschland im Kriegszustand befanden oder deren Gebiet von Deutschland besetzt war, und von Staatsangehörigen dieser Staaten gegen das Reich […] einschliesslich der Kosten der deutschen Besatzung, der während der Besetzung auf Verrechnungskonten erworbenen Guthaben […] wird bis zu der endgültigen Regelung der Reparationsfrage zurückgestellt.» Damit waren Reparationsforderungen nicht ausdrücklich an einen Friedensvertrag gekoppelt.
Londoner Moratorium war kein Forderungsverzicht
Griechenland hatte als einer der ersten ehemals besetzten Staaten seine Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland normalisiert. Es wollte aber das Moratorium des Londoner Schuldenabkommens nicht als Forderungsverzicht verstanden haben. Es war auch kein Verzicht, wie der wissenschaftliche Dienst des deutschen Bundestages in einem vertraulichen Papier von 2013 einräumt.
Westdeutschland musste seinen Bürgern, die aufgrund von Rasse, Religion oder Weltanschauung durch die Verfolgung durch Nationalsozialisten geschädigt wurden, Schadenersatz zugestehen. In diesem Zusammenhang forderten westeuropäische Regierungen, darunter auch die griechische, die Verfolgten ihrer Länder einzuschliessen. Die deutsche Bundesregierung schloss in der Folge mit elf Staaten entsprechende «Globalabkommen», bezeichnete sie aber als einen freiwilligen Akt «humanitärer» Leistungen, der unter Berufung auf das Londoner Schuldenabkommen Rechtsansprüche auf Reparationen ausschloss. Griechenland erhielt 1960 vor allem als Kompensation für die Deportation griechischer Juden 115 Millionen Deutsche Mark. Das Land behielt sich aber unter Berufung auf das Londoner Schuldenabkommen schriftlich vor, «mit dem Verlangen nach Regelung weiterer Forderungen, die aus nationalsozialistischen Verfolgungsmassnahmen während Kriegs- und Besatzungszeit herrühren, bei einer allgemeinen Prüfung» an Deutschland heranzutreten.
Der Zeitpunkt zur abschliessenden Regelung schien mit der deutschen Wiedervereinigung gekommen. Kurz zuvor erstellte das deutsche Auswärtige Amt ein Gutachten, in dem es auf das «vorrangige Interesse» Deutschlands hinwies, «sich jeder Forderung nach Abschluss eines Friedensvertrags zu widersetzen». Andernfalls sei «nicht zu vermeiden, dass die Reparationsfrage als Ganzes und in Form konkreter Ansprüche auf den Tisch kommt».
Reparationsfrage 1990 erneut ausgeklammert
Tatsächlich wurde dann im «Zwei-plus-vier-Vertrag» zwischen den beiden deutschen Staaten und den vier Siegermächten USA, England, Frankreich und der Sowjetunion im Jahr 1990 die Reparationsfrage ausgeklammert – mit stillschweigendem Zugeständnis der Ex-Westalliierten und dank der «indirekten» Reparationen für die Sowjetunion in Form eines zinslosen Darlehens.
Griechenland argumentiert, dieser implizierte Reparationsverzicht sei für die übrigen ehemaligen Kriegsgegner und die von Nazi-Deutschland besetzten Staaten nicht bindend. Es beruft sich dabei auf das völkerrechtliche Verbot von Verträgen zulasten Dritter.
Athen widerspricht auch der deutschen Sichtweise, dass es mit der Unterzeichnung der KSZE-Charta «für ein neues Europa» eine Stellvertreterkompetenz der vier Hauptsiegermächte in der Reparationsfrage anerkannt habe. In der Charta heisst es: «Wir nehmen mit grosser Genugtuung Kenntnis von dem am 12. September 1990 in Moskau unterzeichneten Vertrag über die abschliessende Regelung in Bezug auf Deutschland und begrüssen aufrichtig, dass das deutsche Volk […] sich in einem Staat vereinigt hat.»
Daraus leitet die deutsche Regierung ab, dass das im Londoner Schuldenabkommen vereinbarte Moratorium ausgelaufen und die Reparationsfrage abschliessend geregelt ist. Hätte Griechenland das anders gesehen, hätte es 1990 seinen klaren Vorbehalt vorbringen müssen. Athen argumentiert dagegen, dass sich «wir nehmen zur Kenntnis» auf die Regelung der deutschen Einheit beziehe und es in der Charta keinen Hinweis auf Reparationsfragen gebe.
1991 testete der griechische Premier Konstantinos Mitsotakis auf innenpolitischen Druck der Öffentlichkeit die Verhandlungsbereitschaft der Deutschen auf höchster Ebene. Und holte sich schroffe Abfuhren mit den von nun an immer gleichen Argumenten: Die Reparationsfrage habe sich durch Nichtbehandlung im Zwei-plus-vier-Vertrag von selbst erledigt. Die Ansprüche seien «de facto» verjährt, Deutschland habe 1960 die 115 Millionen D-Mark Wiedergutmachung gezahlt.
Griechische Politiker dagegen erneuerten bei jeder Gelegenheit öffentlich die Forderungen nach Reparationen sowie nach Rückerstattung der Zwangsanleihe. Verhandlungen über Letzteres forderte dann 1995 auch Premier Andreas Papandreou.
Das Massaker von Distomo
Im gleichen Jahr strengten Nachkommen der Opfer von Distomo vor einem griechischen Gericht eine Sammelklage zur individuellen Kompensation an. Im zentralgriechischen Dorf Distomo hatte die Waffen-SS am 10. Juni 1944 in einer sogenannten «Sühnemassnahme» 218 Menschen ermordet und sich in einem wahren Blutrausch an den Opfern vergangen. Dem Geistlichen wurden die Augen aus dem abgeschlagenen Kopf gestochen, Schwangeren das Baby aus dem Bauch geschnitten, ein Kleinkind fand man mit der abgetrennten Brust seiner Mutter im Mund. Der Sammelklage schlossen sich insgesamt 60 000 Nachkommen von Opfern von vielen anderen Orten an.
Deutschland wurde in diesem Verfahren zu Entschädigungen von knapp 60 Millionen D-Mark verurteilt. Der Areopag, das höchste griechische Gericht, bestätigte dieses Urteil im Jahr 2000 und gab damit den Weg für die Pfändung deutschen Eigentums frei. Die griechische Regierung stoppte aber eine Zwangsversteigerung etwa des Athener Goethe-Instituts oder der Deutschen Schule, um die Beziehungen zu Deutschland nicht zu gefährden.
Deutschland bezeichnete das Urteil als völkerrechtswidrigen Akt, der die Immunität eines Staates verletze. Einige Nachfahren von Distomo-Opfern klagten daraufhin in Deutschland bis zum Bundesgerichtshof. Dieser wies die Klage ab, genau wie 2011 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Beide Gerichte verwiesen in ihrer Begründung auf einen Verstoss gegen die Staatenimmunität. Dieser völkerrechtliche Grundsatz verbietet die Zwangsvollstreckung gegen Vermögen eines Staates im Ausland.
Dem Standpunkt des Bundesgerichts- und des Menschenrechtsgerichtshofs schloss sich 2012 auch der Internationale Gerichtshof an. Dort hatte allerdings Deutschland Italien verklagt, nachdem der Kassationshof in Rom befunden hatte, Vollstreckungsmassnahmen für die Entschädigung von Opfern aus Distomo und Italien seien auf italienischem Boden zulässig.
Die inzwischen abgewählte Regierung von Alexis Tsipras hatte sich Pfändungen zur Zwangsvollstreckung von Entschädigungsurteilen vorbehalten. Ein offener Konflikt mit der Bundesrepublik war aber kaum zu erwarten, zumal diese dagegen vor den Internationalen Gerichtshof gezogen wäre. In Tsipras’ Forderungskatalog war die Schadensgruppe des Verlusts von Menschenleben gar nicht enthalten. Die Sonderkommission des griechischen Rechnungshofs hatte dafür 2014 22,1 bis 107,3 Milliarden Euro veranschlagt.
Reparationsschuld von bis zu 330 Milliarden Euro
Bei der Berechnung der nun gestellten griechischen Forderungen über Reparationen für Raub- und Beuteaktionen, finanzielle Ausbeutung und Zerstörungsmassnahmen sowie über die Rückerstattung des Kriegskredits hat die Sonderkommission in zwei Berechnungen einmal das Pariser Reparationsabkommen und einmal Archivmaterial zugrunde gelegt und mit Zinsen hochgerechnet. Nach der ersten Methode ergibt sich eine Summe von gut 332, nach der zweiten eine Summe von 269 Milliarden Euro für Reparationen aus dem Zweiten Weltkrieg.
In ihren Dokumentationen über deutsche Reparationsschuld kommen die deutschen Forscher Karl Heinz Roth und Hartmut Rübner auf einen Betrag von 185 Milliarden Euro. Sie ersetzten die Zinsrechnung durch eine Zeitwertberechnung unter Berücksichtigung der Kaufkraft. Nach dieser Berechnung entsprechen die 665 Millionen Euro, die Griechenland bisher erhalten hat, weniger als 1 Prozent der ausstehenden Reparationen.
Verzögerungstaktik bei Besatzungskredit
Einen Sonderfall stellt der Besatzungskredit dar, mit dem die Deutschen, über die durch die Haager Landkriegsordnung legitimierten «regulären Besatzungskosten» hinaus, unter anderem ihren Afrikafeldzug finanziert hatten. Das Deutsche Reich hatte bereits Raten auf ein griechisches Tilgungskonto zurückgezahlt und damit de facto anerkannt, dass es sich um einen regulären Kredit handelte. Argumentiert Griechenland in diese Richtung, würde das eine Vereinbarung zwischen zwei souveränen Staaten und nicht die Erpressung einer Zwangsanleihe bedeuten, die als Kriegsschaden schwer aus dem Reparationspaket herauszulösen wäre.
Berlin hatte 1945 die «Restschuld des Reichs gegenüber Griechenland» mit 476 Millionen Reichsmark angegeben, wie der Historiker Hagen Fleischer in deutschen Archiven nachgelesen hat. Allerdings war die NS-«Vereinbarung» ein zinsloser Kredit. Griechenland verlangt heute Zinsen. Ob dafür 10,34 Milliarden Euro berechtigt sind, ist auch wegen der damaligen Inflation schwer zu verifizieren, böte aber einen ersten Verhandlungsansatz.
Leitet Griechenland juristische Schritte gegen Deutschland ein, müssten sich beide Seiten der Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshofs unterwerfen. Berlin war dazu bisher nicht bereit. Der Internationale Gerichtshof müsste dann entscheiden, ob das deutsche Argument der Verjährung oder Verwirkung greift. Deutschland tat bis 1990 eine Regelung unter Berufung auf das Londoner Schuldenabkommen als «zu früh» ab – nach der deutschen Wiedervereinigung wies es alle griechischen Anfragen als «zu spät» ab. Eine offensichtliche Vermeidungspolitik, die der griechischen Öffentlichkeit sauer aufstösst.
1995 hatte dann auch das Auswärtige Amt – nachzulesen bei Roth und Rübner – intern die Weisung ausgegeben, nicht mehr zu behaupten, Griechenland habe seine Ansprüche verwirkt oder zu spät vorgebracht. «Die juristische Argumentation sollten wir ganz in den Hintergrund treten lassen: Damit provozieren wir nur die Forderung, nunmehr mit allen Vertragspartnern des Londoner Schuldenabkommens zu einer Konferenz über die endgültige Regelung der Reparationsfrage zusammenzutreten. Unsere Hauptsorge muss es sein, zu verhindern, dass sich auf Betreiben Griechenlands gegen uns eine Allianz bildet, die auf Einberufung einer solchen Reparationskonferenz drängt.»
Während der griechischen Schuldenkrise wurde Deutschland zum Hauptgläubiger Athens und diktierte die Sparprogramme. Auf beiden Seiten brachen alte Ressentiments auf. Aber es gab auch sachliche Vorschläge zu Kompromisslösungen, etwa zur Verhandlung über den Kriegskredit. Von 2014 bis 2017 förderte das Auswärtige Amt Deutschlands seinerseits als Zeichen des guten Willens einen «Zukunftsfonds» mit 1 Million Euro jährlich, der die Besatzungszeit im Sinne einer «deutsch-griechischen Erinnerungskultur» aufarbeiten sollte.
Derweil überstellte die Sonderkommission des griechischen Rechnungshofs dem Parlament ihre Kalkulationen über die Höhe der Forderung an Deutschland. Tsipras legte sie erst zur Abstimmung vor, als er sich rühmen konnte, die EU-Hilfsprogramme beendet zu haben.
Die neue griechische Regierung des konservativen Kyriakos Mitsotakis müsste wohl eine internationale Allianz schmieden, die Deutschland vor den Internationalen Gerichtshof zwingt, um Rechtsklarheit über die Reparationsforderungen zu erreichen. Ob Mitsotakis das gerade jetzt anstrebt, ist fraglich. Denn für die Umsetzung seines Programms ist er auf eine Lockerung der Sparvorgaben vor allem seitens deutscher Kreditgeber angewiesen.