plädoyer: Das Recht auf ein faires Verfahren und effektive Verteidigung garantiert den Beizug des Verteidigers bei allen wichtigen Verfahrensschritten wie Einvernahmen oder Verhandlungen. Weshalb nicht beim Explorationsgespräch für ein psychiatrisches Gutachten?
Georges Frey: Das Gesetz sieht eine Präsenz der Verteidigung nicht vor. Auch das Bundesgericht spricht sich in einem Leiturteil gegen eine Teilnahme der Verteidigung aus (BGE 144 I 253). Der Gesetzgeber war bei der Einführung der neuen Strafprozessordnung zu Recht der Meinung, ein Explorationsgespräch sollte zwischen Beschuldigtem und Gutachter möglichst unter vier Augen stattfinden. Denn in diesen Gesprächen zählt nicht nur das Verbale, sondern vor allem auch das Nonverbale. Über Mimik oder Gestik können gesundheitliche Probleme sichtbar werden.
plädoyer: Gewährleistet die heutige Praxis ein faires Verfahren?
Thierry Urwyler: Nein. Man muss sich fragen, was verfassungs- und konventionsrechtlich als Mindeststandard erforderlich ist. Im erwähnten Leiturteil hat das Bundesgericht wesentliche Aspekte nicht analysiert – etwa die Möglichkeit der Selbstbelastung. In meiner Dissertation zeige ich auf, dass es heute bei Explorationsgesprächen an Transparenz fehlt. Zudem geht es bei Gutachten um wichtige Beweise zum Verschulden und zu einer allfälligen Rückfallgefahr. Deshalb ist ein Teilnahmerecht der Verteidigung sowie die audiovisuelle Aufzeichnung unbedingt nötig.
Frey: Die Staatsanwaltschaft orientiert die Verteidigung im Vorfeld, wenn ein forensisch-psychiatrisches Gutachten in Auftrag gegeben wird. Diese kann sich dann zur Person des Gutachters äussern und sogar dessen Ausstand verlangen. Zudem kann sie ergänzende Fragen stellen und am Schluss zum Gutachten Stellung nehmen. Das genügt unter rechtsstaatlichen Aspekten.
plädoyer: Sind damit die Mindestanforderungen der Menschenrechtskonvention eingehalten?
Urwyler: Es gibt noch kein Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR), das eine audiovisuelle Aufzeichnung fordert. Strassburg verlangt aber, dass der Inhalt von Gutachten überprüfbar ist. Gutachten sind zentrale Beweismittel, Neutralität und Transparenz sind zwingende Mindestanforderungen. Der EGMR verlangt das Recht auf Zugang zu einem Anwalt ab der ersten Einvernahme. Meiner Auffassung nach gibt es keine wesentlichen Unterschiede zwischen Exploration und Einvernahme. Also braucht es bei beiden Formen der Befragung ein Teilnahmerecht der Verteidigung. Deshalb hält die aktuelle Praxis in der Schweiz vor dem EGMR nicht stand.
Frey: Nein, ein Explorationsgespräch ist mit einer Einvernahme nicht gleichzusetzen. Auch nicht beweisrechtlich. Würde der Beschuldigte in einem Explorationsgespräch ein Geständnis ablegen, würde das Gericht es anders werten, als wenn er das an einer Einvernahme im Beisein der Verteidigung täte. Aber ein Geständnis würde bei der freien richterlichen Beweiswürdigung natürlich mitberücksichtigt.
plädoyer: Ein Teil der Professoren spricht sich für die Teilnahme der Verteidigung an Explorationen aus. Andreas Donatsch etwa betont im Kommentar zu Artikel 185 der Strafprozessordnung, dass Beschuldigte durch die Delegation der Einvernahmekompetenz an Sachverständige nicht schlechtergestellt sein dürfen als bei Befragungen durch die Strafbehörde.
Frey: Das kann ich nicht nachvollziehen. Beim Teilnahmerecht geht es nicht um die blosse Teilnahme, sondern primär um ein Interventionsrecht der Verteidigung. Sie will aktiv intervenieren können, nicht nur stumm dabei sein. Beim Explorationsgespräch hingegen geht es um die Suche nach der materiellen Wahrheit. Könnte der Verteidiger im Sinne des Beschuldigten intervenieren, würde die Wahrheitssuche erschwert oder eine Exploration gänzlich verunmöglicht.
plädoyer: Was spricht gegen mehr Transparenz durch Bild- und Tonaufnahmen?
Frey: Ich befürworte beides. Damit würde das Explorationsgespräch überprüf- und nachvollziehbar. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen wären ebenfalls dafür. Bei Explorationsgesprächen ist ja immer die Rede von einer «Dunkelkammer». Audiovisuelle Aufnahmen brächten Licht ins Dunkel. Es wäre klar, was gesprochen wurde, ob es beispielsweise vorab eine hinreichende Rechtsbelehrung durch den Gutachter gab. Und die Parteien könnten nachträglich überprüfen, ob etwa Suggestivfragen gestellt wurden.
plädoyer: Die Staatsanwaltschaft kann eine Aufzeichnung verlangen. Warum hat der Beschuldigte nicht das gleiche Recht?
Frey: Auch Beschuldigte können einen solchen Antrag stellen. Die Staatsanwaltschaft müsste dann zustimmen. Zudem müsste man einen «progressiven» Gutachter finden, der gegen eine solche Dokumentation der Explorationsgespräche nichts einzuwenden hätte. Bei uns im Kanton Luzern kam dies meines Wissens noch nie vor.
Urwyler: Die Praxis ist in den Kantonen unterschiedlich. Es gibt vereinzelt Gutachter, die im Rahmen von Strafverfahren audiovisuelle Aufnahmen durchgeführt und eingereicht haben. Aber ich stimme Ihnen zu: Es braucht progressive Sachverständige, die sich dazu bereit erklären. Ich plädiere für eine gesetzliche Vorschrift. Eine Aufzeichnung darf nicht vom Ermessen der sachverständigen Person abhängen, sondern muss von der beschuldigten Person und ihrer Verteidigung generell-abstrakt eingefordert werden können.
plädoyer: Gibt es in der Schweiz genügend zertifizierte und fähige Gutachter?
Frey: Nein. Es fehlen Leute mit den nötigen Qualifikationen. Im Kanton Luzern beispielsweise haben wir aktuell keine eigene Forensik mehr – alle Mitarbeiter haben gekündigt. Wir vergeben Gutachten nun an Professor Elmar Habermeyer, den Direktor der Klinik für Forensische Psychiatrie in Zürich. Zum Stichwort «Qualifikation»: Es gibt sehr gute, aber auch sehr unfähige Experten. Der Markt sortiert in aller Regel die Unfähigen von selbst aus. Es spricht sich schnell herum, wenn jemand inkompetent ist.
Urwyler: Das Bundesgericht befürchtet, dass sich bei einer gesetzlichen Aufzeichnungspflicht keine Gutachter mehr finden würden (BGE 132 V 443). Diese Befürchtungen sind unbegründet. Immerhin verdienen sachverständige Personen bis zu 350 Franken pro Stunde für die Erstellung eines Gutachtens. Einzelne Sachverständige räumen durchaus ein, eine Videoaufnahme sei sinnvoll. Es gibt sogar Sachverständige, die ein Teilnahmerecht akzeptieren.
plädoyer: Sind Verteidiger schon zu Explorationsgesprächen zugelassen worden?
Frey: Bei uns in Luzern meines Wissens noch nie. Wir erhielten zwar Anträge, wiesen sie aber mit Verweis auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung ab.
Urwyler: In Zürich wies das ehemalige Kassationsgericht auf die Zulässigkeit der Verteidigerteilnahme hin. Weiter bestätigten mir zwei Sachverständige mündlich, sie hätten in der Vergangenheit Explorationsgespräche im Beisein der Verteidigung durchgeführt, da sie so wenigstens in limitiertem Rahmen die Möglichkeit hatten, die beschuldigte Person zu explorieren. Dabei handelt es sich aber um Ausnahmen.
plädoyer: Wenn Beschuldigte keine Aussagen machen, erstellen die Gutachter einen Bericht aufgrund der Akten. Dient das der Wahrheitssuche?
Frey: Es gibt Krankheitsbilder, die relativ offen zu Tag treten. Dann kann man aus einem Aktengutachten viel herauslesen. Aber es gibt auch Persönlichkeitsstörungen, bei denen man mit der beschuldigten Person reden muss, um der Sache auf den Grund gehen zu können. Hier ist es fraglich, wie weit ein Aktengutachten brauchbar ist und der Person gerecht wird. In einem mir bekannten Fall schwieg der Beschuldigte beim Gutachter. Vor Gericht redete er und äusserte sich auch zum Gutachten. Das veränderte die Sicht des Gerichts beträchtlich.
Urwyler: Das zeigt doch: Wenn eine Person bereit ist zu sprechen, ist das für die Begutachtung viel mehr wert, als wenn sie schweigt. Will sie im Explorationsgespräch nur bei Anwesenheit des Verteidigers etwas sagen, sollten wir ihr das nicht verwehren.
Frey: Das geht Richtung Erpressung. Man muss sich fragen, welches Gewicht das Explorationsgespräch im Begutachtungsprozess hat. Gibt es kaum andere Informationen, hat es einen höheren Wert. Können wir aber aus anderen Quellen – dem beruflichen oder familiären Umfeld oder aus der Krankengeschichte – Informationen einholen und ist die Straftat gut dokumentiert, ist das Explorationsgespräch nicht mehr so relevant.
Urwyler: Weshalb besteht trotzdem die Befürchtung, dass der Beizug des Verteidigers am Explorationsgespräch die Wahrheitssuche beeinträchtigt? Je mehr Beweismaterial vorliegt, desto geringer ist ja die Gefahr, dass Interventionen des Verteidigers zu Verfälschungen führen.
Frey: Bei einem Teilnahmerecht des Verteidigers gäbe es weitere Probleme. Wir wollen alle Parteien gleich behandeln. Somit hätten auch Privatkläger/Opfer und ihre Anwälte ein Teilnahmerecht. Gleiches gilt für die Staatsanwaltschaft. Sie will dann ebenfalls dabei sein und intervenieren können. Öffnen wir hier nur einen Spalt weit, zieht das viele weitere Probleme nach sich.
Urwyler: Würde ein Explorationsgespräch audiovisuell aufgezeichnet, hätten die Parteien Zugang zur Aufnahme und die Waffengleichheit wäre gewährleistet. Zudem stellt sich die Frage, wozu die jeweiligen Parteien anwesend sind. Die Verteidigung begründet mit ihrer Intervention eine ganz bestimmte Funktion. Sie ermöglicht etwa dem Beschuldigten, sein Aussageverweigerungsrecht wahrzunehmen. Das Interesse der andern Parteien gilt «nur» der Überprüfung des Gutachtens. Dafür müssten sie nicht anwesend sein.
plädoyer: Die Aussageverweigerung ist ein unbestrittenes Recht von Angeschuldigten. Besteht im Explorationsgespräch ohne Verteidiger nicht die Gefahr, dass dieses Recht ausgehebelt wird?
Frey: Erstens geht keine beschuldigte Person in ein Explorationsgespräch, ohne vorher mit dem Verteidiger zu sprechen. Zudem macht der Gutachter die beschuldigte Person im Vorfeld auf ihr Aussageverweigerungsrecht aufmerksam und erklärt ihr, dass die ärztliche Schweigepflicht gegenüber der auftragserteilenden Behörde nicht gilt. Im Übrigen hat ein Explorationsgespräch nicht nur die Anlasstat zum Inhalt. Man spricht über die Kinder- und Jugendzeit und geht soweit notwendig auch auf besondere Vorkommnisse in der Familie ein. Die Themen Gesundheit oder Sexualität werden angesprochen. Auch die Zukunft. Also alles Themen, die mit dem Tatvorwurf wenig zu tun haben.
Urwyler: Ein Explorationsgespräch kann mehrere Stunden dauern. Den meisten Beschuldigten ist es ohne Anwalt nicht möglich, sich wirksam zu verteidigen, also etwa sich nicht unwissentlich zu belasten. Dies gilt umso mehr, wenn die begutachteten Personen an psychischen Störungen leiden.
plädoyer: Wie gut können die Strafverfolgungsbehörden, Gerichte und Anwälte ein gutes Gutachten von einem schlechten unterscheiden?
Frey: Staatsanwaltschaft und Gerichte haben in Weiterbildungen dazugelernt. Die Vorstellung vom Gutachter als «Herrgott in Weiss» ist überholt. Man bewegt sich heute auf Augenhöhe. Die Strafbehörden schauen die Gutachten sehr kritisch an und würdigen sie entsprechend. Sind wir der Meinung, es sei ein falsches Prognoseinstrument angewendet worden oder erscheint uns die Diagnose nicht schlüssig, sagen wir das auch und verlangen Korrekturen.
Urwyler: Diese Kontrolle betrifft die Methodologie. Das ist aber nur eine einzige Dimension. Problematischer ist die Feststellung des Sachverhalts im Gutachten. Die grundsätzliche Haltung von Staatsanwaltschaften und Gerichten ist: Was der Gutachter schreibt, trifft zu. Das erachte ich als sehr problematisch. Es ist ein Irrglaube zu meinen, Staatsanwälte oder Richter hätten Zeit, bei jedem Gutachten eine genaue Qualitätskontrolle durchzuführen. Es geht hier um ein generelles Verfahrensproblem, nicht um das individuelle Versagen eines Staatsanwalts oder Richters.
plädoyer: Braucht es also mehr Personal?
Frey: Nein, darum geht es nicht primär. Heute muss jeder Staatsanwalt ein Gutachten, das er in Auftrag gab, anschliessend kritisch prüfen. Kein Staatsanwalt will vor Gericht mit einem qualitativ schlechten Gutachten auftreten, um dann vom Verteidiger kritisiert zu werden. Wir schauen die Gutachten wirklich genau an. Es kommt auch vermehrt vor, dass wir ein Gutachten zur Korrektur oder Ergänzung zurückschicken. Sei es, weil wir konkrete Punkte nicht nachvollziehen können oder Widersprüche feststellen. Oder weil der Beschuldigte kritisiert, er habe etwas nicht so gesagt und die Schlussfolgerung sei falsch. Wir fragen dann explizit nochmals nach. Es gibt auch Gutachter, die den Teil über die Exploration gleich nach Fertigstellung dem Beschuldigten zuschicken, damit er und die Verteidigung allfällige Korrekturen oder Ergänzungen einbringen können.
Urwyler: Das schriftliche Vorgehen genügt nicht. An ein mehrstündiges Gespräch kann man sich Tage oder Wochen später nicht mehr präzise oder nur noch in Bruchstücken erinnern. Wir müssen hier die Limiten des menschlichen Gedächtnisses anerkennen. Gefragt ist nicht mehr Personal, sondern mehr Transparenz.
Georges Frey, 53, SP, ist leitender Staatsanwalt in Sursee LU und Mitglied der Fachkommission für gemeingefährliche Straftäter des Strafvollzugskonkordats Nordwest- und Innerschweiz.
Thierry Urwyler, 33, ist akademischer Mitarbeiter beim Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung des Kantons Zürich und Lehrbeauftragter im
Fachbereich Strafrecht der Universität Luzern.
Das Teilnahmerecht der Verteidigung bei der Begutachtung
Artikel 185 der Strafprozessordnung ermächtigt die Staatsanwaltschaft und die Gerichte, eine sachverständige Person beizuziehen. Der Gutachter darf der einzuvernehmenden Person Fragen stellen. Thierry Urwyler hat zu diesem Problem eine Dissertation verfasst. Titel: «Das Teilnahmerecht der Verteidigung am Explorationsgespräch des psychiatrischen Sachverständigen im Lichte der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten». Darin vertritt er die Ansicht, dass sich die Schweizer Praxis nicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbaren lasse. Aus Artikel 6 EMRK ergebe sich der Anspruch der Beschuldigten auf eine effektive Überprüfbarkeit des Gutachtens. Zudem enthalte dieser Artikel den Anspruch der Beschuldigten auf Teilnahme des Verteidigers ab der ersten Einvernahme des Strafverfahrens.