1. Staats- und Verfassungsrecht
1.1 Grundrechte
1.1.1 Grundrechtsträger
Die Volksinitiative «Grundrechte für Primaten» im Kanton Basel-Stadt verlangte ein grundrechtlich geschütztes Recht auf Leben sowie körperliche und geistige Unversehrtheit für nichtmenschliche Primaten. Gemäss Bundesgericht erscheine die Gewährleistung solcher Rechte im öffentlichrechtlichen Bereich für bestimmte Tiere aufgrund der anthropologischen Ausrichtung der Grundrechte in BV und EMRK zwar als ungewohnt, widerspreche indessen nicht übergeordnetem Recht. Insbesondere konfligiere die Initiative nicht mit der ausschliesslichen Legiferierungskompetenz des Bundes im Bereich des Zivilrechts. Auch wenn die auf dem Unterschriftenbogen abgedruckte Begründung der Initiative teilweise fragwürdig und irreführend sei, könne dieser ein Sinn beigemessen werden, der sie als zulässig erscheinen lasse. Bei der Prüfung der Initiative auf ihre Vereinbarkeit mit übergeordnetem Recht gelte der gefestigte Grundsatz, dass auf den Wortlaut der Initiative und nicht auf den subjektiven Willen der Initianten abzustellen ist (BGE 147 I 183). Das Stimmvolk lehnte die Initiative am 13. Februar 2022 ab.
1.1.2 Eigentumsgarantie
Im Rechtsstreit um ein Überleitungsrecht betreffend eine bereits bestehende Starkstromleitung entschied das Bundesgericht, dass der am 1. Januar 2018 neu in Kraft getretene Art. 83 lit. w BGG nicht nur bei Plangenehmigungsverfahren, sondern auch bei reinen Enteignungsverfahren zur Anwendung komme. Der genannte Ausschlussgrund greife auch, wenn einzig die Höhe der Entschädigung streitig sei. Im vorliegenden Fall war der Vergleichsmassstab der Prüfung der adäquaten Kausalität der Enteignung für die Wertminderung des Grundstücks umstritten: Bei der Beantwortung der Frage, ob die aktuelle Freileitungsführung mit einer hypothetischen erdverlegten Leitung am Parzellenrand verglichen werden könne, handle es sich um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung. In Bestätigung der «Schutzschildtheorie» wurde die Zulässigkeit des Vergleichs mit einer hypothetischen erdverlegten Leitung am Parzellenrand verneint (BGE 147 II 201).
1.1.3 Schutz der Privatsphäre
Die Installation eines elektronischen Wasserfunkzählers, der während 252 Tagen die Stundenwerte speichert und alle 30 Sekunden Daten per Funk aussendet, stellt gemäss Bundesgericht ohne gesetzliche Grundlage einen unzulässigen Grundrechtseingriff dar. Daten dürften nur bearbeitet werden, soweit sie für den Zweck der Datenbearbeitung notwendig seien. Eine derart lange Speicherung sowie die Funksendung von Daten alle 30 Sekunden seien für die Rechnungsstellung nicht erforderlich. Daran ändere auch der Umstand nichts, dass die Daten gut geschützt seien (BGE 147 I 346).
Gemäss einer abstrakten Normenkontrolle durch das Bundesgericht verstösst das revidierte bernische Polizeigesetz (PolG/BE) gleich mehrfach gegen die Bundesverfassung (BV) und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK): Sowohl Art. 84 Abs. 1 PolG/BE, der eine Verbindung der Wegweisungs- und Fernhaltemassnahmen mit einer Strafandrohung nach Art. 292 StGB vorsieht, als auch Art. 83 Abs. 1 lit. h in Verbindung mit Art. 84 Abs. 4 PolG/BE, eine Wegweisungsbestimmung, die sich gegen Fahrende richtet, erwiesen sich als unverhältnismässig. Schliesslich bilde Art. 118 Abs. 2 PolG/BE, der eine präventive polizeiliche Überwachung durch ein an einem Fahrzeug befestigtes GPS-Gerät ermöglicht, einen unzulässigen Eingriff in den Schutzbereich der Privatsphäre im Sinne von Art. 13 BV und Art. 8 EMRK (BGE 147 I 103).
1.1.4 Diskriminierung
Das gegen eine Tessiner Studentin ausgesprochene Verbot der Benutzung eines italienisch-deutschen Wörterbuchs bei der Prüfung in physikalischer Chemie in einem Bachelorstudiengang an der ETH verstösst gemäss Bundesgericht gegen das Diskriminierungsverbot nach Art. 8 Abs. 2 BV. Zwar könne aus dem Grundsatz der Chancengleichheit aller Kandidierenden nicht gefolgert werden, dass auf persönliche Nachteile einer Person in einem bestimmten Gebiet Rücksicht genommen werden müsse, wenn durch das Examen gerade jene Fähigkeit überprüft werden solle, in der diese ein Defizit aufweise. Allerdings seien im vorliegenden Fall die Fachkenntnisse in physikalischer Chemie und nicht die Fähigkeiten in deutscher Sprache Gegenstand der Prüfung gewesen, weshalb das Verbot der Benutzung eines Wörterbuchs eine unzulässige Einschränkung der Chancengleichheit darstelle (BGE 147 I 73).
Ein togolesischer Staatsangehöriger mit einem Bachelordiplom in Theologie ersuchte umErteilung einer Aufenthaltsbewilligung zwecks Absolvierung eines Masterstudiums an der Universität Freiburg. Die Verweigerung der Erteilung der beantragten Aufenthaltsbewilligung alleine aufgrund des Umstands, dass er bereits 35 Jahre alt ist, bildet laut Bundesgericht eine unzulässige Diskriminierung aufgrund des Alters im Sinne von Art. 8 Abs. 2 BV. Die Praxis der freiburgischen Migrationsbehörden, Aufenthaltsbewilligungen zu Ausbildungszwecken über 30-jährigen Personen grundsätzlich zu verweigern, könne weder mit dem öffentlichen Interesse an einer restriktiven Migrationspolitik (nicht gesicherte Wiederausreise) noch mit dem Interesse einer Privilegierung junger Studierender gerechtfertigt werden. Der Entscheid des Bundesgerichts dürfte auch für andere kantonale Migrationsbehörden (Art. 27 AIG) relevant sein (BGE 147 I 89).
1.1.5 Verfahrensgrundrechte
Im Verfahren um Prüfung einer Entlassung aus der strafrechtlichen Verwahrung gemäss Art. 64a in Verbindung mit Art. 64b StGB muss das Verwaltungsgericht als Gericht im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK amten und seine Kognition vollumfänglich ausschöpfen. Es besteht jedoch weder ein Anspruch auf eine mündliche Anhörung noch auf eine öffentliche Verhandlung. Hingegen lasse sich ein neunmonatiges verwaltungsgerichtliches Verfahren nicht mit dem in Art. 5 Ziff. 4 EMRK geforderten Entscheid «innerhalb kurzer Frist» vereinbaren (BGE 147 I 259).
Eine angemessen befristete finanzmarktrechtliche Publikationsanordnung gestützt auf Art. 34 Finmag ist nicht als strafrechtliche Anklage oder Strafe im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 und Art. 7 EMRK zu qualifizieren. Viel eher handelt es sich um eine repressive verwaltungsrechtliche Sanktion. Gemäss bundesgerichtlicher Analyse erfülle die Publikationsanordnung keines der drei sogenannten «Engel-Kriterien». Diese stammen aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Engel c. Niederlande. Gemäss den drei Kriterien kommt es darauf an, inwieweit die Norm dem nationalen Strafrecht zugeordnet wird, auf die Art des Vergehens und auf die Schwere der Sanktion. Es verstosse in casu nicht gegen den Nemotenetur-Grundsatz, wenn die Finanzmarktaufsichtsbehörden den Betroffenen unter Hinweis auf die Auskunftspflicht (Art. 29 Finmag) und unter Strafandrohung (Art. 45 Finmag) zur Kooperation, zur Beantwortung von Fragen und zur Edition von Unterlagen anhielten (BGE 147 I 57).
Das anwaltsrechtliche Disziplinarverfahren nach Art. 17 des Bundesgesetzes über die Freizügigkeit von Anwältinnen und Anwälten (BGFA) sieht als mögliche Sanktion unter anderem ein temporäres oder dauerhaftes Berufsausübungsverbot vor und bildet deshalb eine «Streitigkeit über zivilrechtliche Ansprüche» im Sinne der Rechtsprechung zu Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Der Betroffene hat gemäss Bundesgericht demnach gestützt auf die Verfahrensgarantien von Art. 6 Ziff. 1 EMRK Anspruch auf eine öffentliche Verhandlung. Dies gelte selbst für den Fall, dass kein Berufsausübungsverbot, sondern nur eine Verwarnung angeordnet wurde oder im Gerichtsverfahren streitig ist (BGE 147 I 219).
Unter «Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche» («civil rights») fallen nicht bloss zivilrechtliche Streitigkeiten im engeren Sinne, sondern auch Verwaltungsakte einer hoheitlich handelnden Behörde, die massgeblich in Rechte und Verpflichtungen privatrechtlicher Natur eingreifen. Bei einer Spitaltaxe als Kausalabgabe handelt es sich um eine öffentlich-rechtliche Forderung, die als abgaberechtliche Verpflichtung grundsätzlich nicht in den Anwendungsbereich von Art. 6 Ziff. 1 EMRK falle. Allerdings greife eine vom Universitätsspital Zürich geforderte Spitaltaxe von 16 030 Franken massgeblich in Rechte und Verpflichtungen privatrechtlicher Natur ein, weshalb es sich um eine zivilrechtliche Verpflichtung im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK handle. Die Verweigerung einer öffentlichen und mündlichen Verhandlung verletzte im vorliegenden Fall demnach die Garantien von Art. 6 Ziff. 1 EMRK (BGE 147 I 153).
Das Recht auf eine wirksame Beschwerde im Sinne von Art. 13 EMRK kann bei der Kabel- und Funkaufklärung durch den Nachrichtendienst des Bundes (NDB) bei geheimen Überwachungsmassnahmen eingeschränkt werden, wenn überwiegende öffentliche Interessen es rechtfertigten. Für die «Opferstellung» gemäss Art. 34 EMRK reicht laut Bundesgericht eine hinreichende Wahrscheinlichkeit der Betroffenheit aus. Betroffene würden im vorliegenden Fall hinreichend in ihrem Recht auf informationelle Selbstbestimmung tangiert (Art. 8 EMRK und Art. 13 BV), weshalb sie Anspruch auf Behandlung ihrer Unterlassungs- und Feststellungsgesuche betreffend Funk- und Kabelaufklärung hätten (Art. 38 ff. NDG). Ihr Recht auf eine wirksame Beschwerde enthalte die Überprüfung des schweizerischen Systems der Kabel- und Funkaufklärung auf seine Verfassungs- und Völkerrechtskonformität (BGE 147 I 280).
1.2 Gemeindeautonomie
Mit dem vom Kantonsrat des Kantons Luzern am 18. Februar 2019 erlassenen und bis 31. Dezember 2020 befristeten «Steuerfussabtauschgesetz» entzog der Kanton seinen Gemeinden die Kompetenz, im Rechnungsjahr 2020 einen eigenen Steuerfuss festzusetzen. Die bundesgerichtliche Auslegung der Luzerner Kantonsverfassung ergibt, dass dieser Kompetenzentzug gegen die Gemeindeautonomie im Sinne von Art. 50 Abs. 1 BV verstösst. § 78 Abs. 2 der Kantonsverfassung und dessen entstehungsgeschichtlicher Hintergrund verpflichteten den Kanton, die Finanzautonomie der Gemeinden zu stärken und ihnen dabei ausreichende Finanzierungsquellen zu belassen. Ein Entzug der kommunalen Kompetenz zur Festsetzung des Gemeindesteuerfusses lasse sich mit dieser Verfassungsbestimmung nicht vereinbaren und verletze die Gemeindeautonomie (BGE 147 I 136).
1.3 Politische Rechte
Am 28. Februar 2016 fand die eidgenössische Volksabstimmung zur Volksinitiative «Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe» statt, die vom Volk mit 50,8 Prozent der Stimmen abgelehnt, von den Ständen jedoch klar angenommen wurde. Aufgrund mangelhafter Information der Bevölkerung durch die Behörden im Vorfeld der Initiative erkannte das Bundesgericht eine Verletzung der Abstimmungsfreiheit (Art. 34 Abs. 2 BV) und hob die Volksabstimmung mit zwei Urteilen vom 10. April 2019 (BGE 145 I 207 bzw. 1C_315/2018) auf. Am 4. Februar 2020 zog das Initiativkomitee die Initiative zurück, worauf der Verein «Human Life International – Schweiz» und mehrere Privatpersonen beim Regierungsrat des Kantons Bern Beschwerde einreichten und beantragten, es sei die Nichtigkeit des Rückzugs der Initiative festzustellen. Das Bundesgericht hält in seinem Urteil fest, dass in der vorliegenden Konstellation nicht Art. 77 und 80 Abs. 1 BPR, sondern Art. 80 Abatz 2 und 3 BPR analog anzuwenden seien und deshalb die direkte Beschwerde beim Bundesgericht möglich sei. In Auslegung von Art. 73 BPR kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass ein Rückzug einer Volksinitiative durch das Initiativkomitee auch nach Aufhebung einer ersten Volksabstimmung noch zulässig sei (BGE 147 I 206).
2. Verwaltungsrecht
2.1 Raumplanungs-, Bau- und Umweltrecht
Der Landrat des Kantons Basel-Landschaft erliess am 27. September 2018 das Gesetz über die Abgeltung von Planungsmehrwerten, das auf Beschwerde der Gemeinde Münchenstein hin vom Bundesgericht einer abstrakten Normenkontrolle unterzogen wurde. Das Bundesgericht kam zum Schluss, das kantonale Recht müsse gestützt auf Art. 5 Abs. 1 RPG einen angemessenen Ausgleich auch für jene Vorteile vorsehen, die aus Um- oder Aufzonungen resultieren. Es erweise sich als bundesrechtswidrig, wenn ein Kanton lediglich die Anforderungen von Art. 5 Abs. 1bis bis Abs. 1sexies umsetze, indem er einen Mehrwertausgleich bei Neueinzonungen vorsehe, und zugleich den Gemeinden verbiete, einen weitergehenden Vorteilsausgleich einzuführen. So werde es den Gemeinden verunmöglicht, den Gesetzgebungsauftrag von Art. 5 Abs. 1 RPG in rechtsgleicher Weise zu erfüllen. Für den gemäss Art. 5 Abs. 1quinquies lit. b RPG von der Abgabe ausgenommenen Betrag (Freibetrag/Freigrenze) gelte ein Richtwert von 30 000 Franken. Erheblich darüber hinausgehende Beträge bedürften der besonderen Rechtfertigung. Eine solche sei der Kanton in Bezug auf die von ihm vorgesehene Freigrenze von 50 000 Franken schuldig geblieben (BGE 147 I 225).
Im Falle des Ausbaus des Grimselstausees durch die Kraftwerke Oberhasli kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass keine genügende Richtplangrundlage für das Vorhaben vorhanden ist. Aufgrund der gewichtigen Auswirkungen des Projekts auf Raum und Umwelt sei eine Festsetzung im kantonalen Richtplan erforderlich; dabei seien auch entgegenstehende Schutzinteressen von nationaler Bedeutung und das im gleichen Gebiet geplante Projekt «Trift» zu berücksichtigen. Zwar bestehe zweifelsohne ein nationales Interesse an der Stauseeerweiterung, eine Abweichung von der ungeschmälerten Erhaltung des im Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler aufgenommenen Gebiets erfordere indessen eine gesamthafte Interessensabwägung. Die nach dem Rückgang des Gletschers entstandene alpine Schwemmebene unterhalb des Unteraargletschers habe potenziell nationale Bedeutung, weshalb sie bis zum Entscheid über die Inventarisierung zu schützen sei. Schliesslich könne keine Konzessionserteilung «auf Vorrat» vorgenommen werden, vielmehr müsse diese in einer gewissen zeitlichen Nähe zum Beginn der Bauarbeiten stehen (BGE 147 II 164).
In einem umfangreich begründeten Urteil weist das Bundesgericht die Beschwerden von Anwohnern, Natur- und Landschaftsschutzorganisationen im Zusammenhang mit dem Windparkprojekt Sainte-Croix im Kanton Waadt in den wesentlichen Punkten ab. Die Genehmigung des Nutzungsplans und die Baubewilligung für das Vorhaben mit sechs Windenergieanlagen müssen mit zwei – geringfügigen – zusätzlichen Auflagen ergänzt werden. Besonders bedeutsam ist das Urteil insofern, als sich das Bundesgericht näher mit der Frage auseinandersetzt, unter welchen Voraussetzungen der Bau von Windkraftanlagen im «nationalen Interesse» liegt. Art. 9 Abs. 2 EnV, der einzig auf die jährliche Durchschnittsproduktion abstellt, wird als gesetzeskonform angesehen, obwohl Art. 12 Abs. 5 EnG neben der Leistung oder der Produktion als weitere Kriterien die zeitlich flexible und marktorientierte Produktion auflistet. Das Bundesgericht geht davon aus, dass die beiden letztgenannten Kriterien bei der Windkraft stets gegeben sind und der Bundesrat bei der Festlegung der Kriterien deshalb bloss auf die (relativ tiefe) jährliche Durchschnittsproduktion abstellen durfte. Diese Ausführungen werfen Fragen auf (so ist etwa die Produktion insofern nicht flexibel, als Windkraftwerke nur produktionsfähig sind, wenn es auch Wind hat), sie machen aber vor allem deutlich, dass das Bundesgericht im Sinne einer zweckorientierten Auslegung gewillt ist, dem Anliegen, erneuerbare Energien zu fördern, zum Durchbruch zu verhelfen (BGE 147 II 319).1
Anlässlich einer vertieften Abwägung zwischen Vogelschutz und Förderung der Nutzung erneuerbarer Energie in Form des Baus eines Windparks auf dem Grenchenberg kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass das geplante Windparkprojekt nur teilweise genehmigt werden könne: Während zwei Standorte für Windenergieanlagen vollständig abzulehnen seien, seien die übrigen Standorte nur mit ergänzten Schutz- und Kompensationsmassnahmen zu genehmigen (BGer 1C_573/2018 vom 24. November 2021; zur amtlichen Publikation vorgesehen).
Das Recht oder die Pflicht auf Wiederherstellung des rechtmässigen Zustands bei illegalen Bauten ausserhalb der Bauzone verwirkt auch nach Ablauf von 30 Jahren nicht. Die Sach-, Rechts- und Interessenlage ausserhalb der Bauzone unterscheidet sich derart stark von derjenigen innerhalb der Bauzone, dass sich laut Bundesgericht eine unterschiedliche Regelung aufdrängt. Eine 30-jährige Verwirkungsfrist ausserhalb der Bauzone würde den verfassungsmässigen Trennungsgrundsatz (Art. 75 Abs. 1 BV) und die einheitliche Anwendung des Bundesrechts in Frage stellen (BGE 147 II 309).
Bei seiner abstrakten Normenkontrolle der am 31. Januar 2019 beschlossenen Teilrevision des Denkmalschutzgesetzes des Kantons Zug (DMSG) kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass sich die meisten Gesetzesnovellen im Einklang mit höherrangigem Recht – namentlich dem Übereinkommen vom 3. Oktober 1985 zum Schutz des baugeschichtlichen Erbes in Europa (Granada-Übereinkommen) – auslegen lassen. Nicht der Fall sei dies indessen mit Blick auf § 25 Abs. 4 DMSG: Es erweise sich als nicht völkerrechtskonform, dass weniger als 70 Jahre alte Objekte nicht gegen den Willen der Eigentümer unter Schutz gestellt werden können, sofern diese nicht von regionaler oder nationaler Bedeutung sind. Obwohl sich die praktische Auswirkung von § 25 Abs. 4 DMSG wohl in Grenzen halte, da es nicht unzählige lokale Denkmäler geben dürfte, die jünger als 70 Jahre sind, verstosse diese Norm gegen die Vorgaben des Granada-Übereinkommens (BGE 147 I 308).
Nach verschiedenen Abklärungen beschloss die Stadt Zürich, zwei als bauhistorisch bedeutsame und inventarisierte «Gründersiedlungen», die in den Jahren 1924 und 1926 erbaut wurden, nicht unter Denkmalschutz zu stellen und sie aus dem Inventar der Schutzobjekte kommunaler Bedeutung zu entlassen. Der Zürcher Heimatschutz (ZVH) erhob gegen diesen Entscheid Beschwerde beim Bundesgericht. Das Bundesgericht wägt in seinem Urteil zwischen dem Denkmalschutzinteresse und dem entgegenstehenden öffentlichen Interesse einer inneren Siedlungsentwicklung durch bauliche Verdichtung ab. Dabei kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass der Abbruch denkmalpflegerisch interessanter Objekte zwecks innerer Verdichtung nicht grundsätzlich ausgeschlossen sei, im vorliegenden Fall jedoch das Schutzinteresse überwiege (BGE 147 II 137).
Im Falle einer geplanten Wohnüberbauung auf dem «Bürgli-Areal» in der Stadt Zürich setzte sich das Bundesgericht mit der Frage auseinander, ob der projektierte Bau mit den Anforderungen an den Lärmschutz vereinbar sei. Es stützt die Vorinstanz, indem es festhielt, eine Ausnahmebewilligung gemäss Art. 31 Abs. 2 LSV komme nur in Betracht, wenn die Bauherrschaft aufgezeigt habe, dass «sämtliche verhältnismässigen baulichen und gestalterischen Massnahmen» zum optimalen Lärmschutz ausgeschöpft worden seien. Die Fachstelle für Lärmschutz des kantonalen Tiefbauamts komme diesem Erfordernis in der Zustimmung zur Ausnahmebewilligung gestützt auf Art. 31 Abs. 2 LSV nicht nach. Dies sei umso schwerwiegender, da die Toleranz für Überschreitungen des Immissionsgrenzwerts bei der Empfindlichkeitsstufe III (in der sich das Grundstück befindet) im Vergleich zur Empfindlichkeitsstufe II geringer sei. Es seien auch nicht «zahllose Variantenstudien» verlangt, wie die Beschwerdeführerin moniere, sondern lediglich eine nachvollziehbare Darlegung, welche Massnahmen zum Lärmschutz geprüft, gewählt oder verworfen worden seien (BGer 1C_275/2020 vom 6. Dezember 2021).
2.2 Ausländerrecht
Angehörige eines EU- bzw. Efta-Staats mit einer Erwerbstätigkeit von weniger als einem Jahr in der Schweiz haben keinen Anspruch auf Fortdauer ihrer Aufenthaltsbewilligung, vielmehr erlischt diese gemäss Art. 61a Abs. 1 AIG sechs Monate nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses. In casu stand zur Diskussion, ob diese Norm in Einklang mit Anhang I des Freizügigkeitsabkommens (FZA) ausgelegt werden könne. Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass die Konstellation einer ausländischen Person mit einer Erwerbstätigkeit von weniger als einem Jahr unter Art. 2 Abs. 1 Anhang I FZA zu subsumieren sei und nicht unter Art. 6 Abs. 6 Anhang I FZA. Infolgedessen erweise sich der seit dem 1. Juli 2018 in Kraft stehende Art. 61a Abs. 1 AIG als abkommenskonform (BGE 147 II 1).
Im Falle eines deutschen Staatsangehörigen mit Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz, der seit einem Arbeitsunfall im Juli 2011 keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgeht, hatte das Bundesgericht den Begriff der «dauernden Arbeitsunfähigkeit» im Sinne von Art. 2 Abs. 1 lit. b der Verordnung (EWG) NR. 1251/70 auszulegen. Es kam dabei zum Schluss, dass der Begriff nicht arbeitsplatzbezogen auszulegen sei; es liege keine «dauernde Arbeitsunfähigkeit» vor, sofern dem Arbeitnehmer eine andere Berufstätigkeit zugemutet werden könne. Ob dem betreffenden deutschen Staatsangehörigen weiterhin eine Aufenthaltsbewilligung gestützt auf Art. 4 Anhang I FZA in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 lit. b VO (EWG) Nr. 1251/70 zu erteilen sei, hänge mithin davon ab, ob ihm eine andere Erwerbstätigkeit zugemutet werden könne oder nicht, was die Vorinstanz nicht abgeklärt habe. Die Sache wurde deshalb zur erneuten Entscheidung zurückgewiesen (BGE 147 II 35).
2.3 Steuerrecht
Die im Kanton Waadt ansässige, 1919 gegründete Stiftung A, deren Hauptzweck im Betreiben gemeinnütziger Gastronomiebetriebe besteht, beantragte bei der kantonalen Steuerbehörde eine Steuerbefreiung gestützt auf Art. 56 lit. g DBG und Art. 23 Abs. 1 lit. f StHG (Gemeinnützigkeit). Während das kantonale Steueramt in seinem Einspracheentscheid die Steuerbefreiung nicht gewährte, wurde diese vom Kantonsgericht gutgeheissen. Vor Bundesgericht stellte sich die zentrale Frage, ob die Stiftung A die Voraussetzungen von Art. 56 lit. g DBG, namentlich die Kriterien der Unterordnung der Unternehmenserhaltung unter den gemeinnützigen Zweck und das Nichtvorliegen einer geschäftsleitenden Tätigkeit, erfülle. Das Bundesgericht kam zum Schluss, da die Stiftung A ihr gesamtes Vermögen in eine ihr gehörende Handelsgesellschaft investiert habe, sei die Voraussetzung der Uneigennützigkeit in casu nicht erfüllt. Die Beschwerde des Steueramts des Kantons Waadt wurde gutgeheissen und die Stiftung A nicht von der Steuerpflicht befreit (BGE 147 II 287).
Die US-amerikanische Steuerbehörde Internal Revenue Service (IRS) stellte bei der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV) am 18. August 2017 gestützt auf Art. 26 des Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung (DBA CH-US) ein Amtshilfegesuch betreffend den in den USA steuerpflichtigen D. Am 12. April 2018 bekräftigte die IRS ihr Amtshilfegesuch und erklärte sich auf Anfrage der ESTV mit der Schwärzung der Namen von zwei Direktoren der vom Amtshilfeersuchen betroffenen Domizilgesellschaft einverstanden. Das Bundesgericht hatte auch die Frage zu klären, ob dem Spezialitätenprinzip von Art. 26 Abs. 1 DBA CH-US bloss eine sachliche oder auch eine persönliche Dimension zukomme. Eine Auslegung nach den Grundsätzen der Wiener Vertragsrechtskonvention (VRK) ergebe, dass das Spezialitätenprinzip auch eine persönliche Dimension aufweise, was nach dem Vertrauensprinzip von Art. 26 VRK dem die Amtshilfe erhaltenden Staat grundsätzlich nicht mitgeteilt werden müsse. Da vorliegend Unklarheit über die Dimension des Spezialitätenprinzips vorherrsche, erweise sich ein Hinweis gegenüber dem Empfängerstaat indessen als angezeigt (BGE 147 II 13).
Anlässlich eines schwedischen Steueramtshilfegesuchs stellte sich die Frage, ob die ESTV in diesem Fall einen spontanen Informationsaustausch vorgenommen habe oder nicht: Ersucht eine Behörde um Übermittlung von Informationen über von einer Person «gehaltene» («held by») Bankkonten, seien darunter sowohl von dieser Person direkt als auch indirekt – als wirtschaftlich Berechtigte oder Inhaberin einer Vollmacht – gehaltene Bankkonten zu verstehen. Indem die ESTV den schwedischen Behörden Informationen über von der Person sowohl direkt als auch indirekt gehaltene Bankkonten bekannt gegeben hat, habe sie keinen spontanen Informationsaustausch vorgenommen, sondern das schweizerischschwedische Doppelbesteuerungsabkommen nach Treu und Glauben sowie den Grundsätzen der VRK ausgelegt (BGE 147 II 116).
2.4 Wettbewerbsrecht
Die drei Hersteller eines Medikaments gegen erektile Dysfunktion Eli Lily (Suisse) SA, Bayer (Schweiz) AG und Pfizer AG haben den das Produkt vertreibenden Apotheken sowie selbstdispensierenden Ärztinnen und Ärzten eine «unverbindliche Publikumspreisempfehlung» erteilt. Es stellte sich dabei die Frage, ob diese Preisempfehlung als Vertikalabrede in der Form einer abgestimmten Verhaltensweise im Sinne von Art. 4 Abs. 1 KG zu qualifizieren sei. Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass aufgrund der Art und Weise der abgegebenen Preisempfehlung (durch einen automatisch erscheinenden Preis beim Scannen des Strichcodes) eine Abstimmung des Verhaltens durch Kommunikation vorliege. Weiter sei aufgrund des erhobenen Marktverhaltens der Akteure ein Abstimmungserfolg feststellbar. Da eine Kausalität zwischen der Abrede und dem Marktverhalten vorliege, die Abrede eine Wettbewerbsbeschränkung bezwecke oder bewirke, diese als erheblich zu qualifizieren sei und keine Rechtfertigungsgründe für die Abrede vorlägen, bilde die Preisempfehlung eine unzulässige Wettbewerbsbeschränkung (BGE 147 II 72).
In einem weiteren kartellrechtlichen Urteil äusserte sich das Bundesgericht mit Blick auf die Befragung aktueller und ehemaliger Organe eines untersuchungsbetroffenen Unternehmens zur Unterscheidung zwischen «von der Untersuchung Betroffenen» und «Dritten». Es kam zum Schluss, dass der Begriff der «von der Untersuchung Betroffenen» nur die Verfahrensparteien eines Kartellsanktionsverfahrens einschliesse. Ob eine Person als Verfahrenspartei zu qualifizieren sei, sei anhand der Kriterien von Art. 6 VwVG zu prüfen. Personen, die in einem untersuchungsbetroffenen Unternehmen eine Organfunktion bekleiden, verfügen laut Bundesgericht nicht aus eigenem Recht über Parteistellung; weil sie in diesem Verfahren jedoch eine juristische Person vertreten, der Parteistellung zukomme, seien sie trotzdem als Partei zu behandeln. Demgegenüber sei ein ehemaliges Organ ein «Dritter» (BGE 147 II 155).
2.5 Beschaffungsrecht
Bei der Stiftung «Focus di Arbedo-Castione» handelt es sich um eine Tessiner Einrichtung mit Rechtspersönlichkeit, die speziell zur Erfüllung von Bedürfnissen im allgemeinen Interesse – vorliegend zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus zwecks Schaffung erschwinglichen Wohnraums – geschaffen wurde. Eine solche Einrichtung muss laut Bundesgericht trotz ihrer Rechtsform einer Stiftung des privaten Rechts (Art. 80 ff. ZGB) als «Einrichtung des öffentlichen Rechts» im Sinne von Art. 8 Abs. 1 lit. a IVöB und des WTO-Übereinkommens über das öffentliche Beschaffungswesen qualifiziert werden. Als solche unterstehe sie den Regeln des öffentlichen Vergaberechts. Der vorliegend schwerwiegende und offensichtliche Verstoss gegen die Regeln des öffentlichen Vergaberechts führe zur Nichtigkeit des gesamten Submissionsverfahrens (BGE 147 II 264).
2.6 Datenschutz und Öffentlichkeitsprinzip
Im Rahmen eines Amtshilfeverfahrens stellte sich die Frage, ob die Wettbewerbskommission des Bundes (Weko) berechtigt ist, dem Kanton Aargau Einsicht in die Akten eines kartellrechtlichen Sanktionsverfahrens gegen mehrere aargauische Bauunternehmen zu gewähren. In Auslegung der Termini «Einzelfall», «Erfüllung einer gesetzlichen Aufgabe» und «Unentbehrlichkeit» im Sinne von Art. 19 Abs. 1 lit. a DSG kam das Bundesgericht zum Schluss, dass sich die Gewährung der Akteneinsicht auf dem Wege der Amtshilfe als zulässig erweise, zumal die Amtshilfe an den Kanton mit dem Grundsatz der Zweckbindung vereinbar sei. Die Pflicht der Weko zur Wahrung des Amts- und Geschäftsgeheimnisses (Art. 25 KG) stehe der Akteneinsicht in der vorliegenden Konstellation nicht entgegen (BGE 147 II 227).
Der Bundesrat beauftragte den Schweizerischen Nationalfonds mit der Durchführung des Nationalen Forschungsprogramms 67 «Lebensende». Ein Verein, der im Rahmen dieses Forschungsprogramms einen Antrag auf Förderung seines Projekts einreichte und nicht gefördert wurde, ersuchte gestützt auf das BGÖ Einsicht in diverse Unterlagen im Zusammenhang mit der Auswahl der zu fördernden Projekte. Das Bundesgericht kam betreffend das Einsichtsbegehren zu folgendem Schluss: Soweit der SNF erstinstanzliche Verfügungen erlasse, unterstehe er gemäss Art. 2 Abs. 1 lit. b BGÖ dem Öffentlichkeitsprinzip. Das Zugangsrecht gelte für Dokumente, die unmittelbar das Verfahren auf Entscheid über Beitragsgesuche betreffen; darunter fielen etwa die Wahl und die Zusammenstellung der Leitungsgruppe (BGE 147 II 137).
Ein vom Staatsrat in Auftrag gegebener Untersuchungsbericht, der weder in einem laufenden Strafverfahren noch in hängigen Zivilrechtsverfahren eine Untersuchungshandlung darstellt, sondern lediglich Eingang in die Gerichtsakten gefunden hat, bleibt nach den Bestimmungen über das Öffentlichkeitsprinzip zugänglich. Der Bericht fällt demnach gemäss Bundesgericht auch in den Anwendungsbereich des Art. 69 Abs. 2 der Interkantonalen Vereinbarung zwischen den Kantonen Jura und Neuenburg über den Datenschutz und das Öffentlichkeitsprinzip. Gestützt auf Art. 18 der Neuenburger Kantonsverfassung bestehe ein grundsätzliches Einsichtsrecht in den Untersuchungsbericht (BGE 147 I 47).
3. Coronapandemie
3.1 Rechtsweggarantie
Art. 11 Abs. 3 der Verordnung über die Abfederung der wirtschaftlichen Auswirkung des Coronavirus (Covid-19) im Kultursektor (Covid-Verordnung Kultur), die temporär vom 20. März bis zum 20. September 2020 in Kraft stand, schloss jegliches Rechtsmittel gegen Entscheide in Vollzug dieser Verordnung aus. Der Kanton Waadt übernahm diese Norm unverändert in das kantonale Recht. Ein auf pyrotechnische Veranstaltungen spezialisiertes Unternehmen, dessen Gesuch um finanzielle Unterstützung von der kantonalen Stelle abgewiesen wurde, gelangte mit subsidiärer Verfassungsbeschwerde an das Bundesgericht. Das Bundesgericht befand zuerst, dass die Covid-Verordnung Kultur als selbständige Verordnung des Bundesrats einer umfassenden inzidenten Normenkontrolle zugänglich sei. Weiter stellte es fest, dass Art. 11 Abs. 3 Covid-Verordnung Kultur eine Verletzung der in Art. 29a BV statuierten Rechtsweggarantie darstelle. Da es sich bei den Hilfsgeldern für die Kultur nicht um einen Entscheid mit «vorwiegend politischem Charakter» handle, greife auch der Ausnahmetatbestand von Art. 29a Satz 2 BV nicht. Allerdings sehe das BGG gegen Entscheide erstinstanzlicher kantonaler Behörden keinen direkten Rechtsweg ans Bundesgericht vor, ausser dies sei spezialgesetzlich so geregelt. Auf die Beschwerde sei deswegen mangels Zuständigkeit nicht einzutreten, und diese sei in analoger Anwendung von Art. 30 Abs. 2 BGG an das Kantonsgericht des Kantons Waadt weiterzuleiten (BGE 147 I 333).
3.2 Versammlungsfreiheit
Der Regierungsrat des Kantons Bern erliess am 4. November 2020 die Verordnung über Massnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie, die in der Folge etliche Male modifiziert und zeitlich neu befristet wurde. Am 12. April 2021 erhoben mehrere Organisationen und Personen Beschwerde beim Bundesgericht gegen die in der Verordnung festgelegte Personenbeschränkung bei Demonstrationen auf maximal 15 Personen. Das Bundesgericht kam in seinem Urteil zum Schluss, dass es den Kantonen zwar erlaubt sei, Massnahmen zur Bekämpfung einer Pandemie zu ergreifen, die über die bundesrechtlichen Vorgaben hinausgehen. Gestützt auf Art. 40 Abs. 2 EpG seien die Kantone auch legitimiert, Veranstaltungen einzuschränken. Allerdings müsse der Eingriff in die Versammlungsfreiheit den Anforderungen von Art. 36 BV genügen. Die unausweichliche Unbestimmtheit der gesetzlichen Grundlage (Art. 40 EpG) müsse durch erhöhte Anforderungen an die Prüfung der Verhältnismässigkeit kompensiert werden. Es dürften nicht beliebig strenge Massnahmen ergriffen werden, um jegliche Krankheitsübertragung zu verhindern; vielmehr sei nach dem akzeptablen Risiko zu fragen und die negativen gesellschaftlichen sowie wirtschaftlichen Konsequenzen der Massnahmen seien zu berücksichtigen. Ferner müssten die Massnahmen auch regelmässig überprüft werden. Bei neu auftretenden Infektionskrankheiten bestehe immer eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich der Wirkung einer Massnahme, wobei jeweils auf den aktuellen Stand der Erkenntnisse abzustellen sei und die Massnahmen dem fortschreitenden Wissensstand anzupassen seien. Sofern sich die Risiken als möglicherweise gewichtig erwiesen, könnten Abwehrmassnahmen nicht erst dann getroffen werden, wenn wissenschaftliche Klarheit vorliege, sondern bereits bei einer erheblichen Plausibilität. Mitzunehmender Dauer freiheitsbeschränkender Massnahmen stiegen die Anforderungen an die empirische Abstützung der Risikoeinschätzung; allerdings sei eine Massnahme nicht schon deshalb unrechtmässig, weil sie im Lichte besserer Erkenntnisse retrospektiv allenfalls nicht optimal erscheine (sog. «hindsight bias»). Schliesslich bestehe ein erheblicher Beurteilungsspielraum der fachlich zuständigen und politisch verantwortlichen Behörden.
Im vorliegenden Fall kam das Bundesgericht zum Schluss, dass aufgrund der Bewilligungspflicht von Demonstrationen eine generelle Beschränkung der Teilnehmerzahl auf 15 Personen nicht erforderlich sei. Eine derartige Beschränkung der Teilnehmerzahl entleere das Grundrecht der Versammlungsfreiheit praktisch seines Gehalts. Art. 6a der bernischen Covid-Verordnung erweise sich demnach als grundrechtswidriger Eingriff in die Versammlungsfreiheit (BGer 2C_308/2021 vom 3. September 2021; zur amtlichen Publikation vorgesehen).
Weitere Urteile zur Versammlungsfreiheit:
- 2C_290/2021 vom 3. September 2021 (Kanton Uri): Beschwerde gegen Beschränkung der Teilnehmeranzahl bei politischen und zivilgesellschaftlichen Kundgebungen auf 300 Personen abgewiesen.
- 2C_941/2020 vom 8. Juli 2021 (Kanton Schwyz): Verbot von Veranstaltungen mit mehr als 10 bzw. 30 Personen erweist sich als verhältnismässig; Beschwerde abgewiesen.
3.3 Persönliche Freiheit
Am 25. August 2020 erliess der Staatsrat des Kantons Freiburg die Verordnung zur Änderung der Verordnung über kantonale Massnahmen in der besonderen Lage zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie. Art. 5a Abs. 1 lit. a dieser Verordnung statuierte eine Maskentragpflicht für Personen ab 12 Jahren in Supermärkten und Geschäften. Gegen diese kantonale Verordnungsbestimmung erhob A Beschwerde beim Bundesgericht. Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass mit Art. 40 EpG eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage für die kantonale Verordnung besteht. Die Maskentragpflicht stelle zwar einen Eingriff in die persönliche Freiheit dar, dieser sei angesichts der aktuellen Lage und des derzeitigen Kenntnisstands aber ein geeignetes, mildes Mittel, um die Übertragung von Krankheiten zu verhindern. Schliesslich beurteilte das Bundesgericht die Maskentragpflicht auch als verhältnismässig (BGE 147 I 393).
Weitere Urteile zur Maskentragpflicht:
- 2C_183/2021 und 2C_228/ 2021 vom 23. November 2021 (Kanton Bern): Beschwerden gegen Maskentragpflicht an Schulen abgewiesen.
Art. 40 EpG bildet eine hinreichende formell-gesetzliche Grundlage zum Erlass einer kantonalen Covid-Verordnung, für deren Erlass der Regierungsrat zuständig ist (Kanton Schwyz: 2C_8/2021 vom 25. Juni 2021).
1 Vgl. zu diesem Urteil ausführlicher Andreas Stöckli, «Das Bundesgericht macht den Weg frei für das Windparkprojekt Sainte-Croix», in: Zeitschrift für Baurecht und Vergabewesen (BR/DC) 5/2021, S. 261 ff.