Klares deutsches Bekenntnis zum Grundrechtsschutz
Als einer der ersten Mitgliedstaaten hat Deutschland die EMRK am 4. November 1950 unterzeichnet und im Dezember 1952 ratifiziert. Deutschland wollte von Beginn weg Teil des europäischen Menschenrechtssystems sein. Der frühe Beitritt zur EMRK war ein wichtiges politisches Signal und ein grosser Schritt bei der Vergangenheitsbewältigung. Der Grundrechtsschutz in Deutschland war mit der Einführung des Deutschen Grundgesetzes (GG) 1949 zudem bereits weit fortgeschritten. Die Schweiz hingegen liess sich Zeit, trat erst 1963 dem Europarat bei und ratifizierte die EMRK 1974. Anders als Deutschland hat die Schweiz bis heute die europäische Sozialcharta sowie das wichtige 1. Zusatzprotokoll zur Konvention nicht ratifiziert. Bei der Verankerung eines umfassenden Grundrechtskatalogs in der Schweizerischen Bundesverfassung (BV) von 1999 orientierte man sich hingegen stark an der EMRK. Der Blick zurück zeigt: Deutschland und die Schweiz sind historisch von unterschiedlichen Traditionen im internationalen Menschenrechtsschutz geprägt.
Deutschland und die Schweiz regeln das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht grundsätzlich anders. Deutschland verfolgt beim Verhältnis von Landes- und Völkerrecht einen dualistischen Ansatz. Dieser geht vom Grundgedanken aus, dass das nationale und das internationale Recht zwei verschiedene Rechtsordnungen darstellen. Internationales Recht muss in Deutschland mit einem Rechtsakt in innerstaatliches Recht transformiert werden. Die EMRK wurde mit einem Zustimmungsgesetz (Quellenangaben im PDF) im deutschen Recht verankert. Formell hat sie in Deutschland den gleichen Rang wie einfaches Gesetzesrecht. Als solches hat die EMRK Vorrang gegenüber dem Recht der Länder, geniesst jedoch keinen Verfassungsrang. Weil internationales Recht in Landesrecht transformiert werden muss, kommt in Deutschland keinem völkerrechtlichen Vertrag Verfassungsrang zu. Diese Rangordnung ist systembedingt. Dies heisst umgekehrt jedoch nicht, dass in Deutschland das Landesrecht dem Völkerrecht prinzipiell vorgeht. Die Schweizer Rechtsordnung hingegen hat eine monistische Struktur. Völkerrecht und Landesrecht stellen eine einheitliche Gesamtrechtsordnung dar. In der Schweiz wird ratifiziertes Völkerrecht automatisch Teil des Landesrechts. Aufgrund des Dualismus-Monismus-Gegensatzes ist das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht in Deutschland nicht ohne weiteres mit jenem der Schweiz vergleichbar.
Deutschland verfügt im Gegensatz zur Schweiz über eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit, was sich aus der Zerstörung des Rechtsstaates nach 1933 erklärt. Mit der Verfassungsbeschwerde, die in Deutschland 1951 eingeführt wurde, ist der Grundrechtsschutz in Deutschland institutionell gut abgesichert. Selbst wenn die EMRK in Deutschland zeitweilig derogiert (Art. 15 EMRK) oder gekündigt würde, hätten die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland immer noch die Möglichkeit, Grundrechtsverletzungen vor dem Bundesverfassungsgericht einzuklagen. Dabei ist das Bundesverfassungsgericht nur dem Grundgesetz verpflichtet, das nicht durch widersprechende Bestimmungen auf Gesetzesstufe ausser Kraft gesetzt werden kann.
Ein vergleichbares Durchsetzungsinstrument fehlt in der Schweiz. Zwar können die Europäischen Menschenrechte sowie die Grundrechte der Bundesverfassung beim Bundesgericht (BGer) eingeklagt werden. Für das Bundesgericht sind aber Bundesgesetze gemäss Art. 190 BV grundsätzlich verbindlich, und zwar sogar dann, wenn sie gegen die Bundesverfassung verstossen. Für die Schweiz ist die EMRK deshalb in zweierlei Hinsicht von grosser Bedeutung: Einmal schützt sie die Grundrechte präventiv, weil das Bundesgericht sie in seiner Praxis grundsätzlich auch gegenüber widersprechenden Bundesgesetzen anwendet; das würde sich bei einer Annahme der Selbstbestimmungsinitiative ändern. Die EMRK bietet der Schweizer Bevölkerung aber auch eine Möglichkeit, sich gegen menschenrechtswidrige Bundesgesetze oder Volksinitiativen zu wehren, falls das Bundesgericht keinen Schutz bieten kann. Mit der Annahme der Selbstbestimmungsinitiative – und der damit möglicherweise notwendigen Kündigung der EMRK – würde in der Schweiz die Quasi-Verfassungsgerichtsbarkeit, die es im Bereich der EMRK heute gibt, entfallen. Damit würde der Grundrechtsschutz in der Schweiz empfindlich geschwächt.Aufgrund des ausgeprägten verfassungsmässigen Grundrechtsschutzes gibt es in Deutschland weniger Anlass, eine Menschenrechtsverletzung in Strassburg feststellen zu lassen als in der Schweiz. Dazu kommt, dass die formellen und inhaltlichen Schranken für eine Verfassungsänderung in Deutschland viel höher sind. In Deutschland ist es – im Unterschied zur Schweiz – kaum möglich, grundrechtswidrige Verfassungsbestimmungen zu erlassen oder den Grundrechtskatalog zu schwächen. Das Risiko eines Widerspruchs zwischen Grundgesetz und EMRK ist daher gering. Es gibt nur sehr selten Konflikte zwischen dem deutschen Grundgesetz und der EMRK bzw. der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. In der Schweiz jedoch fanden in den letzten Jahren mehrere menschenrechtlich problematische Volksinitiativen Eingang in die Verfassung.
Die Urteile des EGMR sind gemäss Art. 46 EMRK für alle Vertragsparteien verbindlich und müssen umgesetzt werden. In der Schweiz löst das Bundesgericht Konflikte zwischen Landesrecht und Völkerrecht grundsätzlich durch eine völkerrechtskonforme Auslegung. Bei möglichen Konflikten zwischen der EMRK und Landesrecht verfügt das BGer über einen gewissen Handlungsspielraum. Im Bereich der EMRK hat das BGer eine differenzierte Rechtsprechung entwickelt, die vom grundsätzlichen Vorrang der Menschenrechtskonvention gegenüber dem Landesrecht ausgeht. In Deutschland ergibt sich die Verbindlichkeit der EGMR-Urteile aus dem Zustimmungsgesetz und dem Rechtsstaatsprinzip. Deutsche Behörden und Gerichte müssen das Konventionsrecht anwenden und die Urteile des EGMR umsetzen. Bei einer Kollision zwischen EMRK und deutschem Gesetzesrecht muss Letzteres «völkerrechtsfreundlich» ausgelegt werden. Anlass für eine intensive Auseinandersetzung mit der EMRK war das EGMR-Urteil Görgülü gegen Deutschland.
Stein des Anstosses: Urteil im Fall Görgülü
Ursprünglich galt bei nachträglich geändertem Gesetzesrecht in Deutschland die Lex-posterior-Regel. Das BVerfG relativierte diese Regel jedoch bereits in einem Urteil von 1987 und hielt fest, dass Bundesgesetze – selbst wenn diese später erlassen worden sind als der völkerrechtliche Vertrag – im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands auszulegen und anzuwenden sind. Demnach ging das BVerfG davon aus, dass der deutsche Gesetzgeber ohne expliziten Hinweis nicht von den völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands abweichen oder Völkerrechtsverletzungen in Kauf nehmen will. Im selben Urteil stellte das BVerfG klar, dass EMRK und Rechtsprechung des EGMR Mindeststandards darstellen und die im Grundgesetz garantierten Rechte über den konventionsrechtlichen Schutz hinausgehen können. Dies folgt aus dem fehlenden Verfassungsrang der EMRK sowie aus Art. 53 EMRK. In einem Beschluss von 2015 hat das BVerfG das Lex-posterior-Prinzip für andere völkerrechtliche Verträge als die EMRK aufrechterhalten.
2004 entbrannte nach dem Urteil des EGMR im Fall Görgülü eine heftige Diskussion um die Frage einer allfälligen Einschränkung der Bindungswirkung von EGMR-Urteilen, die mit dem grundgesetzlichen System in Konflikt stehen.
Der EGMR hatte festgestellt, dass Herrn Görgülü, dem biologischen Vater eines von der Mutter zur Adoption freigegebenen Kindes, jeglicher Kontakt zu seinem Kind untersagt blieb. Dadurch verletze Deutschland Art. 8 EMRK. Das Urteil führte zu Unstimmigkeiten. Ganze vier Mal musste das BVerfG in dieser Sache Recht sprechen, weil sich das Oberlandesgericht und die Behörde weigerten, das EGMR-Urteil umzusetzen. Kontroversen ausgelöst hat der zweite Beschluss des BVerfG aus dem Jahr 2004. Das BVerfG betonte darin, dass deutsche Gerichte verpflichtet sind, die EMRK anzuwenden und sich an Urteile des EGMR zu halten. Seit dem Görgülü-Urteil sieht das BVerfG die Umsetzung der EGMR-Urteile als Teil des Rechtsstaatsprinzips an und hebt sie damit letztlich auf Verfassungsebene. Gleichzeitig betonte das BVerfG, das allgemeine Schutzniveau der im Grundgesetz garantierten Grundrechte dürfe durch die Umsetzung von EGMR-Urteilen nicht eingeschränkt werden und der verfassungsrechtliche Grundsatz der «Völkerrechtsfreundlichkeit» wirke nur im Rahmen des grundgesetzlichen Systems. In ungewohnt scharfem Ton betonte das BVerfG die Souveränität Deutschlands und hielt fest, dass die deutschen Behörden die Auswirkungen eines EGMR-Urteils auf die deutsche Rechtsordnung berücksichtigen und dessen Umsetzung an das deutsche System anpassen müssen.
Das Görgülü-Urteil des Bundesverfassungsgerichts gibt zwar dem Bundesverfassungsgericht nominell das «letzte Wort», es hat aber die verfassungsrechtlichen Grenzen der EMRK-Konformität in Deutschland nicht massgeblich verändert. Doch die im Urteil enthaltene Aussage, dass Völkerrecht ausnahmsweise nicht befolgt werden müsse, falls es mit wichtigen Grundsätzen der Verfassung kollidiert, wurde in anderen Ländern als Rechtfertigung für den Widerstand gegen den EGMR missbraucht.
Das BVerfG hatte insofern ein schlechtes Signal ausgesandt. Aus dem Görgülü-Urteil des BVerfG kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass die deutsche Verfassung leichthin als Rechtfertigung dienen kann, um EGMR-Urteile nicht umzusetzen. Auch gemäss diesem Urteil ist der deutsche Gesetzgeber nur im Ausnahmefall, wenn er bei Konflikten mit der EMRK das Grundgesetz nicht völkerrechtskonform auslegen kann, an Letzteres gebunden. Trotz der kritischen Vorbehalte und des scharfen Tons des BVerfG wurde im Endeffekt der Einfluss der EMRK in Deutschland nicht geschwächt.
Fruchtbare Zusammenarbeit mit Strassburg
Die Praxis seit 2004 hat gezeigt, dass das BVerfG auch in schwierigen Situationen nicht von der Strassburger Rechtsprechung abgewichen ist. Insbesondere hat das BVerfG 2011 in seinem Leiturteil zu den deutschen Sicherungsverwahrungsfällen festgestellt, dass das bisherige deutsche System zur nachträglichen Sicherungsverwahrung das Grundgesetz verletze. Der EGMR hatte Deutschland vorab mehrfach in Fällen nachträglich angeordneter oder rückwirkend verlängerter Sicherungsverwahrung von Schwerverbrechern wegen Verletzungen von Art. 5 und/oder Art. 7 EMRK gerügt. Das BVerfG änderte daraufhin seine Rechtsprechung aus dem Jahr 2004 und folgte der Argumentation des EGMR. Es erklärte die gesetzlichen Regelungen zur Sicherungsverwahrung für verfassungswidrig und verpflichtete den Gesetzgeber, EMRK-konforme Regelungen zu schaffen. Das wurde innerhalb eines Jahres umgesetzt. In Bezug auf die verfassungsmässigen Grenzen der EMRK-Konformität hat das BVerfG mit seiner Rechtsprechungsänderung zur nachträglichen Sicherungsverwahrung seine Äusserungen im Fall Görgülü stark relativiert. Der EGMR seinerseits hielt in seiner Folgerechtsprechung fest, die neuen Vorschriften und der Vollzug der Sicherungsverwahrung seien EMRK-konform.
Dass das BVerfG bereit ist, EGMR-Urteile umzusetzen und seine eigene Praxis nötigenfalls zu überdenken, zeigte sich auch in den berühmten Fällen zum Recht auf Privatleben von Personen des öffentlichen Lebens. Die monegassische Prinzessin Caroline von Hannover beschwerte sich 2004 erstmals erfolgreich beim EGMR wegen einer Verletzung von Art. 8 EMRK. Caroline von Hannover bemängelte die intensive Boulevard-Berichterstattung über ihr Privatleben. Der EGMR erhöhte mit seinem Urteil den Schutz des Privatlebens von Personen des öffentlichen Lebens und wies die Boulevardpresse in den Europaratsstaaten bei der Berichterstattung über rein private Tätigkeiten von Prominenten in die Schranken.
Das BVerfG änderte im Anschluss an das EGMR-Urteil seine Rechtsprechung aus dem Jahr 199932 und setzte das Von-Hannover-Urteil des EGMR um. Auch die Mehrheit der deutschen Zivilgerichte wollte das EGMR-Urteil mit dem innerstaatlichen Recht in Einklang bringen. Der EGMR wiederum betrachtete die geänderte Rechtsprechung des BVerfG später als EMRK-konform. Weitere Beschwerden von Caroline von Hannover wurden vom EGMR abgewiesen.
Die Von-Hannover-Urteile zeigen, dass die Beziehung zwischen Deutschland und dem EGMR von gegenseitigem Respekt und intensiver Kooperation geprägt ist. Das BVerfG betont, dass Konflikte mit der EMRK zu vermeiden sind, und setzt sich eingehend mit der EGMR Rechtsprechung und den Anforderungen an die EMRK-Konformität auseinander. Im Gegenzug akzeptiert der EGMR regelmässig deutsche Ansätze bei der Umsetzung von EGMR-Urteilen. In Einzelfällen gehen die deutschen Gerichte über die Forderungen des EGMR hinaus, so beispielsweise das Bundesverwaltungsgericht kürzlich in einem Fall zur Sterbehilfe.
Fazit: Verweis auf Deutschland ist tendenziös
Die Aussage, die Selbstbestimmungsinitiative fordere nur, was in Deutschland bereits Realität sei, ist verkürzt und irreführend. Der EMRK kommt in Deutschland zwar theoretisch kein Verfassungsrang zu, wohl aber sind die EMRK und die Umsetzung der EGMR-Urteile Teil des Rechtsstaatsprinzips und somit vom Grundgesetz geschützt. Das BVerfG betonte bereits früh, dass eine Verletzung der EMRK die im Grundgesetz garantierte Menschenwürde verletzen und gegen das Willkürverbot verstossen kann. In den Urteilen zum Fall Görgülü und zur Sicherungsverwahrung betont das BVerfG zudem, Verletzungen des Völkerrechts müssten verhindert und beseitigt werden.
Beim Verhältnis zum EU-Recht stellt sich in Deutschland ein ähnliches verfassungsrechtliches Problem. Auch hier hat das BVerfG einen Weg gefunden, den Vorrang des EU-Rechts zu akzeptieren (z.B. bei der Personenfreizügigkeit) und sich gleichzeitig die Prüfungskompetenz bezüglich des allfällig höheren Grundrechtsschutzes des Grundgesetzes vorzubehalten. Deutschland gilt in Brüssel nicht als Widersacher, wenn es um die Einhaltung des EU-Rechts geht. Das Gleiche gilt auch beim Konventionsrecht. Nur selten gibt es Konflikte zwischen der EMRK und dem Grundgesetz. Deutschland hat sich also gut mit den «fremden Richtern» arrangiert. Der EGMR ist trotz des vorbildlich ausgebauten Grundrechtsschutzes auch für Deutschland nicht überflüssig. Das BVerfG kann auch etwas übersehen. So verletzte Deutschland kürzlich Art. 3 EMRK, da die Behörden es versäumt hatten, eine Ersatz-Drogentherapie für Langzeit-Drogenabhängige in Haft gründlich zu prüfen.
Die Selbstbestimmungsinitiative mit den deutschen Verhältnissen gleichzusetzen ist somit tendenziös. Sie verlangt den Vorrang der Bundesverfassung vor allen völkerrechtlichen Verträgen, auch retrospektiv. Die Kündigungsaufforderung für völkerrechtliche Verträge, die der BV widersprechen, ist einzigartig im vergleichenden Verfassungsrecht. Die Kompetenzen des Bundesgerichts bei der Lösung von Konflikten zwischen dem Völkerrecht und dem Landesrecht sollen zudem beschnitten werden. Von all dem kann im deutschen Kontext keine Rede sein.
Helen Keller
Professorin für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der Universität Zürich, Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
Laura Zimmermann
Wissenschaftliche Assistentin an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich.
Quellenangaben im PDF