Mitten in den Sommerferien starb Lukas. Er war erst sieben Wochen alt. Die Obduktion seiner Leiche ergab keine klare Todesursache. Die Rechtsmediziner machten Befunde, die auf eine schwere Misshandlung des Säuglings seit Geburt hindeuteten. Als Haupttatverdächtige eruierten die Ermittlungsbehörden Lukas’ Eltern. Sie wurden in Untersuchungshaft genommen.
Anlässlich der ersten Einvernahmen wiesen beide eine Verantwortung für den Tod ihres Sohnes von sich und machten detaillierte Aussagen. In der Folge verweigerten sie auf Anraten ihrer Verteidiger die Aussagen und die Mitwirkung.
Die Eltern haben sich gegenseitig nicht belastet. Nach ein paar Wochen wurden sie aus der Untersuchungshaft entlassen. Aus der Befragung verschiedener Personen aus dem Umfeld der Eltern ergaben sich keine konkreten Verdachtsmomente.
Anderthalb Jahre nach dem Tod von Lukas beabsichtigte die Staatsanwaltschaft angeblich, das Strafverfahren gegen die Eltern folgenlos einzustellen. Tatsächlich initiierte sie in der Folge diverse verdeckte Zwangsmassnahmen: Sie hörte das Telefon der Eltern während Wochen ab und verwanzte ihre Wohnung während Monaten. Ohne konkretes Ergebnis. Schliesslich hielt die Ehe den Belastungen jahrelanger Strafuntersuchung nicht mehr stand. Die Eltern trennten sich und sind mittlerweile geschieden.
In der Folge entschloss sich die Staatsanwaltschaft, die Mutter zu observieren. Das Ziel war, drei verdeckte Ermittler in ihr privates Umfeld einzuschleusen. Gestützt auf die Ausführungen der Staatsanwaltschaft in den Anordnungsverfügungen, den Genehmigungsgesuchen sowie den Erwägungen des Zwangsmassnahmengerichts in den diversen Genehmigungsentscheiden hatte die Anordnung der verdeckten Ermittlung das Ziel, der Kindsmutter entweder ein Geständnis zu entlocken oder sie dazu zu bringen, den Ex-Mann zu belasten.
So drangen drei polizeiliche Spitzel ins private Umfeld der Mutter ein. Die V-Person «Lilly» avancierte dabei schon bald zur neuen besten Freundin der Mutter. «Lilly» rapportiert in 111 Amtsberichten ihren Führungspersonen intimste Details aus dem Privatleben der Mutter – bis die Verteidigung Verdacht schöpfte und der Einsatz der V-Personen abrupt abgebrochen werden musste.
Zurück bleiben eine schockierte junge Frau, ein entsetzter Verteidiger, 111 Amtsberichte und ein umfangreicher Whatsapp-Chat zwischen «Lilly» und der Mutter. Den Amtsberichten ist unter anderem zu entnehmen, dass «Lilly» die Mutter und ihren neuen Lebenspartner zu überzeugen versuchte, Aussagen gegenüber den Ermittlungsbehörden zu machen. So wurde sie mehrfach dahingehend beeinflusst, ihre Verteidigungsstrategie aufzugeben. Als die Mutter «Lilly» zu erklären versuchte, weshalb ihr Verteidiger ihr geraten hat, vom Aussageverweigerungsrecht Gebrauch zu machen, erwiderte die Polizistin: «Dein Anwalt ist nicht Gott, Mausi.»
Es stellt sich die Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit eines solchen verdeckten Einsatzes. (vgl. zum Ganzen: Urteil Obergericht Solothurn, Beschwerdekammer, vom 3.2.2016, nicht rechtskräftig). Im Unterschied zu anderen geheimen Überwachungs- oder Zwangsmassnahmen beschränkt sich die verdeckte Ermittlung nicht bloss auf das Beobachten im Verborgenen. Der verdeckte Ermittler greift unter Umständen unmittelbar in die Handlungsabläufe ein und beeinflusst so direkt den Beweisgegenstand. Dadurch wird eine Reihe weiterer Problemfelder geschaffen, die bei bloss passivem Beobachten nicht tangiert sind. Insbesondere sind der Anspruch auf ein faires Verfahren und das Verbot des Selbstbelastungszwanges betroffen (vgl. Thomas Hansjakob, in: Zürcher Kommentar zur schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Auflage, 2014, Art. 285a StPO N 5).
Im Gegensatz zu einer konventionellen verdeckten Ermittlung agierten die V-Personen im vorliegenden Fall nicht vor oder während der Tatbegehung der Zielperson, ihre Aufgabe war es vielmehr, der Mutter Aussagen über bereits Geschehenes zu entlocken. Bevor untersucht wird, ob die Ermittlungstätigkeit der Staatsanwaltschaft im Einklang mit den Garantien der EMRK steht, stellt sich die Frage nach der Gesetzeskonformität eines verdeckten Einsatzes mit dem skizzierten Zweck.
Gemäss der Begriffsbestimmung in Art. 285a StPO sollen bei der verdeckten Ermittlung Polizisten oder Personen, die vorübergehend für polizeiliche Aufgaben angestellt sind, durch täuschendes Verhalten Kontakte zu Personen knüpfen mit dem Ziel, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen und in ein kriminelles Umfeld einzudringen. So sollen besonders schwere Straftaten aufgekärt werden können (vgl. Tanja Knodel, in: Basler Kommentar zur StPO, 2. Auflage, 2014, Art. 285a StPO N 14 f.). Der verdeckte Ermittler soll dabei Informationen über die Struktur der deliktischen Tätigkeit ermitteln. Regelmässig richtet sich die verdeckte Ermittlung deshalb gegen eine ganze Personengruppe (vgl. Hansjakob, a.a.O., Art. 285a StPO N 32). Der Einsatz zahlreicher verdeckter Ermittler lässt sich mit dem in der Strafprozessordnung zugedachten Zweck – Einschleusung in ein kriminelles Umfeld – nicht in Einklang bringen.
Im vorliegenden Fall sind die verdeckten Ermittler nicht in ein kriminelles Umfeld eingedrungen, sondern haben sich in das private Umfeld der Kindsmutter eingeschlichen, um ihr Aussageverweigerungsrecht zu umgehen. Ziel und Zweck der angeordneten verdeckten Ermittlung war von Beginn weg einzig das Entlocken eines Geständnisses respektive belastender Aussagen.
Zudem haben die V-Leute versucht, das Aussageverhalten der Mutter zu beeinflussen und sie anzuhalten, ihren verfassungsrechtlichen Anspruch auf Aussageverweigerung und ihre Verteidigungsstrategie aufzugeben. Es erscheint fraglich, ob sich diese Ermittlungsstrategien mit dem Begriff der verdeckten Ermittlung in Art. 285a StPO in Einklang bringen lassen.
Das Bundesgericht äusserte sich im Zusammenhang mit dem damaligen Bundesgesetz über die verdeckte Ermittlung vom 20. Juni 2003 zwar dahingehend, dass der Begriff des «kriminellen Umfelds» weder ein Definitionsmerkmal noch ein Kriterium für die Bestimmung des Anwendungsbereichs des Gesetzes sei. Das Bundesgesetz sei deshalb auch dann anwendbar, wenn es an einem kriminellen Umfeld fehle (BGE 134 IV 266, E. 3.2). Zu konstatieren ist, dass diese Rechtsprechung dem Wortlaut von aBVE sowie von Art. 285a StPO widerspricht.
In einem nächsten Schritt stellt sich die Frage, ob sich eine derart einschneidende verdeckte Ermittlung mit dem Anspruch einer Zielperson auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens vereinbaren lässt. Der Schutzbereich der Privatsphäre umfasst gemäss dem Wortlaut von Art. 13 Abs. 1 BV den Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung sowie des Brief-, Post- und Fernmeldeverkehrs. Sowohl der Wortlaut dieses Artikels wie auch der darin ausgedrückte Schutz entsprechen jenem von Art. 8 Ziff. 1 EMRK.
Eine Abgrenzung des Schutzbereichs der Privatsphäre der beschuldigten Person ist schwierig und bedarf einer einzelfallweisen Betrachtung. Jedenfalls bildet die Nicht-Öffentlichkeit der Äusserungen und Handlungen einer Person ein negatives Abgrenzungskriterium (siehe Stephan Breitenmoser / Luzius Wildhaber, in: Wolfram Karl (Hrsg.), Internationaler Kommentar zur EMRK, 2. Lieferung, Köln / Berlin / München 1992, Art. 8 Ziff. 1 EMRK Rz. 114). Respektiert werden soll eine persönliche Geheimsphäre (vgl. BGE 120 Ia 147 E. 2a). Die geschützte Privatsphäre umfasst auch den Anspruch auf informationelle Selbstbestimmung – als Teilgehalt von Art. 13 BV. Dadurch wird dem Einzelnen gewährleistet, selber zu bestimmen, wem und wann er persönliche Lebenssachverhalte respektive Gedanken offenbart.
Vom grundrechtlichen Schutz erfasst ist insbesondere das staatliche Erheben und Sammeln von Angaben, die einen Bezug zur Privatsphäre einer Person haben (vgl. Jörg Paul Müller / Markus Schefer, Grundrechte in der Schweiz,
4. Aufl., S. 167). Zahlreiche Einzelangaben, die für sich allein von untergeordneter Bedeutung sind, können geeignet sein, in der Gesamtheit ein Persönlichkeitsprofil einer Person zu beschreiben (s. Müller/Schefer, a.a.O., S. 168).
Offenkundig erscheint, dass der Schutzbereich der Privatsphäre durch die hier diskutierte Ermittlung erheblich verletzt ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erkennt bereits bei abgehörten Telefonaten zwischen einem Beschuldigten und einem Undercover-Agenten eine Beeinträchtigung des grundrechtlich geschützten Privatlebens, die nur gerechtfertigt sei, wenn die Voraussetzungen von Art. 8 Ziff. 2 EMRK vorliegen (vgl. Urteil EGMR vom 15. Juni 1992 i.S. Lüdi vs. Switzerland, Nr. 12433/ 86, E. 35 ff.).
Im hier diskutierten Fall existierte ein ungleich engerer sozialer Kontakt zur V-Person als im zitierten Urteil des EGMR. Die zahlreichen Amtsberichte zeigen auf, dass das Leben der Zielperson und ihrer engsten Bezugspersonen von den V-Personen penibel genau in sämtlichen Facetten ausgeleuchtet worden ist. Die unzähligen persönlichkeitsbezogenen Angaben und geäusserten persönlichen Gedanken der Kindsmutter wurden von der Staatsanwaltschaft dokumentiert.
Offen bleiben muss, ob die Verteidigung und die gerichtliche Beschwerdeinstanz tatsächlich Einsicht in sämtliche personenbezogenen Erhebungen der Staatsanwaltschaft erhalten haben. Die Verteidigung erhielt zum Beispiel keine Einsicht in die Berichte und Aktennotizen der Führungsperson im Zusammenhang mit der Instruktion der V-Personen gemäss Art. 291 Abs. 2 lit. a StPO.
Die Kindsmutter vertraute der V-Person «Lilly» mehrfach intimste Details aus ihrem Privatleben an, machte Angaben über ihre gesundheitliche Situation und erzählte «Lilly» Details aus dem Leben ihrer Verwandten und Freunde. Die schützenswerte Privatsphäre wird durch derartige staatliche Interventionen in ihren Grundfesten erschüttert, sowohl aufgrund der intimen Einzelheiten, welche ausgespäht wurden, als auch in zeitlicher Hinsicht. Der personelle und finanzielle Aufwand der Staatsanwaltschaft für eine solche, mehrmonatige verdeckte Ermittlungsgruppe muss enorm sein.
Darüber hinaus sind durch diese verdeckte Ermittlung weitere Teilaspekte von Art. 13 BV betroffen. Die Kindsmutter vertraute sich der V-Person nicht nur in unzähligen persönlichen Unterhaltungen an, sondern auch über diverse andere Kommunikationsmittel (Telefon, Whatsapp-Chat, SMS usw.). Der Schutzbereich von Art. 13 Abs. 1 BV und Art. 8 Ziff. 1 EMRK erstreckt sich auch auf den Briefverkehr, Telefongespräche, die Kommunikation per E-Mail, SMS, MMS etc. (vgl. BGE 140 I 353 E. 8.3). Daraus ergibt sich, dass in diesem Fall auch das grundrechtlich geschützte Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis berührt ist.
Schliesslich ist auch die Unverletzlichkeit der Wohnung und damit der Anspruch auf Achtung des Familienlebens von der verdeckten Zwangsmassnahme betroffen. Die Garantie der Unverletzlichkeit der Wohnung schützt die ungestörte Entfaltung der Persönlichkeit in einer räumlich abgeschlossenen Privatsphäre (Müller/Schefer, a.a.O., S. 185). Durch die zahlreichen Besuche von «Lilly» in der Wohnung der Kindsmutter – inklusive Übernachtungen – wurde die Privatsphäre in krasser Weise verletzt. Gleichzeitig tangiert ein solcher Eingriff das Familienleben der Kindsmutter – einerseits durch das konstante Beobachten des Zusammenlebens sowie durch die direkte Einflussnahme von «Lilly» in den Gesprächen mit der Mutter. So erteilte die V-Person zum Beispiel diverse Ratschläge hinsichtlich des Verhaltens gegenüber dem Lebenspartner. Nicht zuletzt mischte sie sich in die Beziehung der Mutter zu ihrer Tochter ein und spielte sich als neue Bezugsperson der Tochter auf. Die verdeckte Ermittlerin wurde von ihr liebevoll «Tanti Lilly» genannt.
Man muss in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass die Mutter durch die Offenlegung der verdeckten Ermittlung einen unvorstellbaren Vertrauensbruch erlebte. Bis heute ist sie nicht mehr in der Lage, unbeschwert Kontakte zu Drittpersonen aufzunehmen und eine minimale Vertrauensbasis aufzubauen.
Die Enttarnung von «Lilly» führte übrigens zu einer weiteren massiven Verletzung der Privatsphäre der Mutter. Die Ermittlungsbehörden verschafften sich nämlich unter dem Vorwand einer Hausdurchsuchung Zutritt zu ihrer Wohnung, um so Daten mit persönlichen Fotos der Mutter mit den V-Personen unwiederbringlich zu vernichten – trotz Siegelungsantrag der Verteidigung. Die Hausdurchsuchung wie auch die sofortige Vernichtung der Daten waren nach Ansicht des Obergerichts Solothurn rechtswidrig (vgl. Urteil Obergericht Solothurn, Beschwerdekammer, vom 3. Februar 2016, noch nicht rechtskräftig).
Insgesamt tangiert die monatelange verdeckte Ermittlung sämtliche Teilbereiche des Anspruchs auf Achtung der Privatsphäre und des Familienlebens. Der Eingriff ist ausserordentlich schwer und hat in einer derart umfassenden und das Privatleben aushöhlenden Art stattgefunden, dass fraglich erscheint, ob eine Prüfung allfälliger Rechtfertigungsgründe überhaupt angezeigt ist.
Ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens müsste in jedem Fall gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer (Art. 8 Ziff. 2 EMRK). Sodann hat jeder Grundrechtseingriff den Anforderungen von Art. 36 BV zu genügen, muss also auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen, verhältnismässig sein und darf den Kerngehalt des Grundrechts nicht tangieren.
Die Ermittlungsbehörden stützen im vorliegenden Fall ihr Vorgehen auf die Bestimmungen der verdeckten Ermittlung gemäss Art. 285a ff. StPO. Bereits dargelegt wurde, dass für einen Einsatz verdeckter Ermittler in dieser Konstellation keinerlei Raum bleibt. Weder ist eine verdeckte Ermittlung zur alleinigen Aushorchung eines allfälligen Geständnisses oder einer Belastung eines Mitbeschuldigten vorgesehen, noch kann auch nur ansatzweise vom Eindringen in «ein kriminelles Umfeld» ausgegangen werden (s. auch Urteil Obergericht Solothurn, Beschwerdekammer, 3.2.2016, Erw. 4.2.2.). Eine verdeckte Ermittlung nach Vorgabe von Art. 285a ff. StPO kann deshalb keine Grundlage für den umfassenden Einsatz bilden.
Ferner wäre ein derartiger Einsatz auch nicht für die nationale und öffentliche Sicherheit oder zur Verhütung von Straftaten notwendig gewesen. Der Einsatz lässt sich auch nicht damit begründen, dass allfällige zukünftige Straftaten zu befürchten gewesen wären und verhindert werden mussten.
Schliesslich ist zu konstatieren, dass eine derartige Aushöhlung des Privatlebens auch unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit nicht zulässig sein kann, zumal sich der Tatverdacht gegen die Mutter im Zeitpunkt der Anordnung der verdeckten Ermittlung bei nüchterner Betrachtung nicht mehr aufrechterhalten liess.
Unter Berücksichtigung sämtlicher Facetten des skizzierten Einsatzes ist festzustellen, dass solche geheimen Zwangsmassnahmen den grundrechtlich geschützten Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens in unzulässiger Weise und ohne jede Rechtfertigung verletzen.
Wie aufgezeigt, hatte die verdeckte Ermittlung den Zweck, der Kindsmutter ein Geständnis zu entlocken oder sie dazu zu bringen, den Ex-Mann zu belasten. Zudem haben die V-Leute versucht, die Mutter und ihren neuen Lebenspartner zu Aussagen gegenüber den Ermittlungsbehörden zu überreden und damit die Verteidigungsstrategie des amtlichen Verteidigers zu hintertreiben.
Angesichts der fragwürdigen Ziele drängt sich die Frage auf, ob solche geheimen Ermittlungsmethoden im Einklang mit dem Fair-trial-Grundsatz stehen. Das Bundesgericht hat sich unter dem Gesichtspunkt des Grundsatzes Nemo-tenetur noch nicht mit der heiklen Frage auseinandergesetzt, ob sich eine «verdeckte Einvernahme» mit den Voraussetzungen einer verdeckten Ermittlung vereinbaren lässt (vgl. Hansjakob, a.a.O., Art. 293 StPO N 10). Ebenso unklar ist, ob der Einsatz verdeckter Ermittler zur Entlockung eines Geständnisses nicht auch mit dem Täuschungsverbot (Art. 140 StPO) kollidiert.
Hingegen hat der EGMR zur Frage Stellung genommen, inwiefern verdeckte Befragungen im Rahmen einer verdeckten Ermittlung den Nemo-tenetur-Grundsatz verletzen (vgl. Urteil EGMR vom 5. November 2002 i.S. Allan vs. The U.K., Nr. 48539/99). Obschon der Grundsatz in der EMRK nicht ausdrücklich erwähnt wird, leitet er sich aus dem Fairnessgebot von Art. 6 EMRK ab.
Den Beschwerdeführer – der im Fall Allan vs. The U.K. wegen des Verdachts diverser Raubüberfälle festgenommen wurde – verdächtigte man zudem der Beteiligung an einem Mord. Zur Erlangung eines Geständnisses verlegte man den Polizeiinformanten H. in die Zelle Allans (ausführliche Darstellung des Falles bei Wang Shih-Fan, Einsatz Verdeckter Ermittler zum Entlocken eines Geständnisses eines Beschuldigten. Ein Prüfstein für das Täuschungsverbot des § 136a StPO und den Nemo-tenetur-Grundsatz aus Art. 6 EMRK, Studien zum Strafrecht, Band 69, Dike, 2015, S. 45 ff.) Bezug nehmend auf das Prinzip der Selbstbelastungsfreiheit hat der EGMR festgehalten, dass dieses nicht nur auf Fälle begrenzt werden kann, in denen Zwang auf den Beschuldigten ausgeübt wurde oder dessen Wille direkt gebrochen wurde (vgl. Allan vs. The U.K., § 50).
Weiter folgerte das Gericht, das Selbstbelastungsprivileg diene im Wesentlichen dazu, einem Beschuldigten die Freiheit zu belassen, ob er Aussagen tätigen möchte oder seine Aussageverweigerung während einer Einvernahme wahrnimmt: «Such freedom of choice is effectively undermined in a case in which, the suspect having elected to remain silent during questioning, the authorities use subterfuge to elicit from the suspect confessions or other statements of an incriminatory nature which they were unable to obtain during such questioning and where the confessions or statements thereby obtained are adduced in evidence at trial» (vgl. Allan vs. The U.K., § 50.)
Ob eine Verletzung des Schweigerechts gemäss Art. 6 EMRK vorliegt, ist aufgrund des Einzelfalls zu entscheiden. Von Bedeutung ist dabei vor allem die Beziehung zwischen dem verdeckten Ermittler und der beschuldigten Person. Ferner, ob die beschuldigte Person vom ihm veranlasst worden ist, Aussagen zu machen und die Einflussnahme in eine vernehmungsähnliche Situation mündete: «Whether the evidence in question was to be regarded as having been elicited by the informer depended on whether the conversation between him and the accused was the functional equivalent of an interrogation, as well as on the nature of the relationship between the informer and the accused» (vgl. Allan vs. The U.K., § 51).
Einem verdeckten Ermittler ist es unter Verweis auf diesen Leitfall des EGMR also strikt untersagt, eine beschuldigte Person, die sich auf ihr Schweigerecht berufen hat, unter Ausnutzung eines Vertrauensverhältnisses zu einer Aussage zu drängen und in einer vernehmungsähnlichen Befragung Äusserungen zum Tatgeschehen zu entlocken. Die Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit ist somit nicht nur auf die Ausübung von Zwang beschränkt (vgl. Wang Shih-Fan, a.a.O., S. 49).
In einem weiteren wichtigen Entscheid relativierte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass eine beschuldigte Person als Ausfluss der Selbstbelastungsfreiheit nicht vor allen staatlich veranlassten täuschungsbedingten Äusserungen geschützt ist (vgl. Urteil EGMR vom 10. März 2009 i.S. Bykov vs. Russia, Nr. 4378/ 02).
In diesem Fall wurde eine verdeckte Befragung mangels Vorliegen eines vergleichbaren psychischen Drucks wie im Fall Allan als nicht konventionswidrig angesehen. Der Gerichtshof gelangte dabei zum Schluss: «The nature of his relations with V. – subordination of the latter to the applicant – did not impose any particular form of behaviour on him» (vgl. Bykov vs. Russia, § 102; Wang Shih-Fan, a.a.O., S. 55 ff).
Das Vorliegen eines unentbehrlichen psychischen Drucks ist jeweils für den Einzelfall zu bestimmen, unter Berücksichtigung der Art der Beziehung und der situativen und persönlichen Umstände des Beschuldigten (vgl. Wang Shih-Fan, a.a.O., S. 58).
Auch der deutsche Bundesgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung mehrfach auf die «Allan»-Formel des EGMR Bezug genommen und diese adaptiert. So hat er in einem mit dem Eingangsbeispiel vergleichbaren Fall festgehalten, dass eine unzulässige Vorgehensweise eines verdeckten Ermittlers vorliegt (BGH, Beschluss vom 27. Januar 2009, 4 StR 296/08). Dieser entlockte der Beschuldigten selbstbelastende Aussagen – unter Ausnutzung des aufgebauten Vertrauensverhältnisses. Die Beschuldigte wurde gezielt mit dem Verdacht konfrontiert, ihre Kinder getötet zu haben. Der Bundesgerichtshof stellte fest, dass die Befragung durch die V-Person «als funktionales Äquivalent einer staatlichen Vernehmung» anzusehen sei (Wang Shih-Fan, a.a.O., S. 54).
Zusammenfassend lassen sich aus der vom EGMR aufgestellten Allan-Formel zur Frage der verdeckten Ermittlung im vorliegenden Anwendungsbereich folgende Kriterien herleiten:
Der Nemo-tenetur Grundsatz und der Anwendungsbereich der Selbstbelastungsfreiheit schützen die betroffene Person nicht nur vor staatlichem Zwang, sondern auch vor täuschenden Interventionen im Zusammenhang mit der Entlockung eines staatlich veranlassten Geständnisses.
Die selbstbelastenden Äusserungen der Zielperson können dann nicht mehr als freiwillig betrachtet werden, wenn ein formloses Gespräch als funktionales Äquivalent einer staatlichen Vernehmung qualifiziert werden muss.
Zusätzlich muss zwischen dem Spitzel und der Zielperson eine spezielle Beziehung bestehen oder aber (alternativ) psychischer Druck vorherrschen (vgl. Wang Shih-Fan, a.a.O., S. 200).
Sind diese Kriterien erfüllt, kann nicht mehr von einer Freiwilligkeit bei allfälligen selbstbelastenden Äusserungen ausgegangen werden.
Vor dem Hintergrund der vom EGMR entwickelten Kriterien und Grundsätze erscheint die skizzierte verdeckte Ermittlung klarerweise als konventionswidrig. Wenn V-Personen sich über mehrere Monate hinweg in das ganz private und unverdächtige Umfeld der Zielperson einschleichen, um deren Aussageverweigerungsrecht zu umgehen, hält dies den vom EGMR aufgestellten Kriterien nicht stand.
Gleich verhält es sich, wenn versucht wird, auf die Verteidigungsstrategie einzuwirken und die Aussageverweigerungstaktik zu durchbrechen. Das monatelange Eindringen in die intimsten Lebensbereiche der Zielperson und das perfide Ausfragen über das Klienten-Anwalt-Verhältnis im laufenden Verfahren lässt sich nicht mit den Fair-trial-Garantien in Art. 6 EMRK vereinbaren.
Eine solch intensive, verdeckte Invasion der Ermittlungsbehörden in ein privates, nicht kriminelles Umfeld einer beschuldigten Person, mit dem Ziel ihr – in Umgehung ihres Aussageverweigerungsrechts – ein Geständnis oder Belastungen von Mitbeschuldigten zu entlocken, kann unter keinen Titeln gerechtfertigt werden.
Nach Auffassung des Obergerichts Solothurn stellt das Vorgehen der Ermittlungsbehörden eine offensichtliche Umgehung des Schweigerechts dar, welches geeignet war, dieses völlig auszuhöhlen. Dies sei auch dann der Fall, wenn die verdeckten Ermittler nicht einer Einvernahme ähnlich befragten.
Solche V-Personen-Einsätze dürfen aus verfassungsrechtlichen Gründen weder angeordnet noch richterlich genehmigt werden. Ermittlungsmethoden, die den Nemo-tenetur-Grundsatz im Kern verletzen, sind unseres Erachtens auch mit dem strafprozessualen Täuschungsverbot und dem Fairnessgebot (Art. 3, Art. 40 StPO) nicht zu vereinbaren (vgl. dazu Sabine Gless im Zusammenhang mit der Bespitzelung eines Häftlings in seiner Zelle, BSK-StPO, Art. 140 N 63). Die Beeinflussung einer beschuldigten Person durch V-Leute, die sich in den urprivaten Lebensbereich der Person eingeschlichen haben, kommt in Bezug auf die Einwirkungen auf ihre Entscheidungsfreiheit einem «funktionalen Äquivalent einer staatlichen Vernehmung» gleich. Zudem höhlt sie das Schweigerecht und die Selbstbelastungsfreiheit vollständig aus.
Aufgrund der Vorschrift von Art. 158 StPO sind Polizei oder Staatsanwaltschaft verpflichtet, die beschuldigte Person bei Einvernahmen unter anderem explizit darauf hinzuweisen, dass sie die Aussage und die Mitwirkung verweigern kann (sogenannte «Miranda Warnings»). Einvernahmen ohne diesen Hinweis unterliegen einem absoluten Verwertungsverbot (Art. 158 Abs. 2 i.V.m. Art. 141 Abs. 1 StPO).
Es ist aus rechtsstaatlicher Sicht undenkbar, dass die Ermittlungsbehörden dieses absolut geschützte Schweigerecht umgehen, indem sie parallel zum parteiöffentlichen Strafverfahren – und teilweise kurz nach der Durchführung von Einvernahmen – verdeckte Ermittler einsetzen mit dem Ziel, einer beschuldigten Person in Unterhaltungen und Konversationen Informationen über das Strafverfahren und den Tatverdacht oder gar ein Geständnis zu entlocken. Solche Ermittlungsmethoden sind illegal.