plädoyer: Philip Stolkin, Sie kritisieren den Observationsartikel. Dabei haben Sie ihn mit Ihrer erfolgreichen Beschwerde an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte provoziert. Ein Pyrrhussieg?
Philip Stolkin: Für mich ist klar, dass der neue Artikel 43a ATSG die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt. Ich bin überzeugt, dass auch eine Beschwerde gegen diesen neuen Artikel in Strassburg Erfolg hätte. Das neue Gesetz verletzt nämlich den Kernbereich unserer Grundrechte, die Bundesverfassung und die Uno-Behindertenkonvention. Es gibt den Versicherungen das Recht, alle Bezüger von Leistungen der Sozialversicherungen zu überwachen – auch alle Krankenversicherten oder die Empfänger einer Hilflosenentschädigung der AHV. Es ist ein Gesetz der Versicherungslobby. Dank dem Referendum können die Schweizer immerhin darüber nachdenken, ob sie es hinnehmen wollen, in der Wohnung observiert zu werden. Und ob sie wirklich akzeptieren wollen, dass Menschen, die einen Schicksalsschlag erlitten, auf ihre Privatsphäre verzichten müssen. Ich bin nicht dagegen, dass die Sozialversicherungen Abklärungen treffen, aber sie sollen es nach rechtsstaatlichen Prinzipien tun.
plädoyer: Wo konkret verstösst der neue Artikel gegen die EMRK?
Stolkin: Aus mir nicht erfindlichen Gründen ging man mit dem neuen Text über alle gesetzlichen Schranken hinweg. Nur dank dem Vorstoss von FDP-Ständerat Andrea Caroni kam es noch zu einer kleinen Korrektur. Es braucht nun wenigstens dann eine richterliche Genehmigung, wenn GPS-Tracker eingesetzt werden. Vergessen wurden jedoch die nötigen Voraussetzungen für eine Observation: mindestens ein hinreichender Tatverdacht müsste bestehen – wie im Strafrecht.
plädoyer: Franz Erni, stimmt der Vorwurf von Philip Stolkin, dass das neue Gesetz von der Versicherungslobby stammt? Hat die Suva den Wortlaut von Artikel 43a ATSG formuliert?
Franz Erni: Nein, die Formulierung stammt nicht von uns. Die Suva wollte eine Regelung, die dem entspricht, was sie in den letzten acht Jahren erfolgreich praktiziert hat. Das wurde von uns so in der Vernehmlassung eingebracht. In einem Gesetzgebungsverfahren werden ja stets verschiedene Interessen berücksichtigt.
plädoyer: Ist die Suva auch der Meinung, dass die Formulierungen im neuen Gesetz zu weit gehen?
Erni: Nein, da bin ich dezidiert anderer Meinung. Man muss abwägen, welche Interessen auf dem Spiel stehen. Auf der einen Seite gibt es das Interesse der versicherten Person an Privatsphäre – auf der anderen Seite steht jedoch das Interesse der Öffentlichkeit daran, dass keine ungerechtfertigten Leistungen ausgezahlt werden. Das sind die beiden Gegenpole. Die Sozialversicherungen observieren nur dann, wenn andere Abklärungsmittel nicht mehr in Frage kommen. Die Suva verfügte acht Jahre lang über das Instrument der Observation, bis Strassburg die fehlende gesetzliche Grundlage rügte. In diesen acht Jahren behandelte die Suva insgesamt 3,5 Millionen Unfälle. Dabei mussten wir nur in 111 Fällen eine Observation anordnen. Wir haben also bewiesen, dass wir das Instrument mit Augenmass einsetzen.
plädoyer: In wie vielen Fällen hat die Suva ungerechtfertigt observiert?
Erni: In rund einem Drittel der Fälle wurde der Anfangsverdacht nicht bestätigt.
plädoyer: Und in wie vielen Fällen kam es schliesslich zu einer strafrechtlichen Verurteilung wegen Versicherungsbetrugs? Weder die Suva noch die IV, noch die Krankenkassen wollen über solche Zahlen verfügen.
Erni: Mir sind diese Zahlen nicht bekannt. Ich bin Sozialversicherungsrechtler und es ist nicht unsere Aufgabe, zu bestrafen. Zudem erfüllt nicht jeder ungerechtfertigte Bezug von Versicherungsleistungen den Betrugstatbestand von Artikel 146 StGB. Unsere Aufgabe ist es, zu verhindern, dass ungerechtfertigte Leistungen ausgezahlt werden. Viele Versicherte beziehen unterdurchschnittliche Löhne. Denen kommt die Galle hoch, wenn die Suva unrechtmässige Leistungen auszahlt. Wir brauchen das Vertrauen der Versicherten in das System. Das bedingt, dass wir in einigen Fällen observieren können, um Missbrauch wirksam zu bekämpfen.
Stolkin: Das Strafgesetzbuch enthält einen Artikel 148a, der den Sozialhilfemissbrauch unter Strafe stellt. Neben diesem Artikel gibt es keinen Raum für einen speziellen sozialversicherungsrechtlichen Tatbestand, diese Strafbestimmung deckt alle Formen des Missbrauchs ab. Für die Verfolgung ist allein die Staatsanwaltschaft zuständig. Die Überwachung von Bürgern ist ein Mittel der strafprozessualen Zwangsmassnahmen und ausschliesslich bei den Strafbehörden angesiedelt. Wer das Gefühl hat, er werde betrogen, sei es ein Unternehmen oder ein Privater, der kann eine Strafanzeige einreichen.
plädoyer: Der neue Artikel 43a ATSG ist also Ihrer Meinung nach überflüssig, weil die Strafverfolger bei Verdacht auf Betrug alle nötigen Zwangsmassnahmen in der Hand haben?
Stolkin: Ja, und die Vermischung von Strafrecht und Sozialversicherungsrecht führt zu einem weiteren fundamentalen Problem: Der neue Artikel des ATSG berücksichtigt die Unschuldsvermutung nicht. Im Sozialversicherungsrecht sind die Versicherten laut Artikel 28 ATSG verpflichtet, bei der Feststellung des Sachverhalts mitzuwirken. Die Betroffenen sind also zu Aussagen gezwungen. Im Strafprozess hingegen darf niemand gezwungen werden, auszusagen. Dieses Selbstbelastungsverbot wird durch Artikel 6 EMRK geschützt. Strassburg würde eine Verletzung des Selbstbelastungsverbots niemals akzeptieren. Das zeigt der Fall Chambaz gegen die Schweiz. Hier ging es zwar um ein Steuerverfahren, aber es geschah genau das Gleiche: Die Unschuldsvermutung wurde verletzt.
plädoyer: Aufgrund der gesetzlichen Mitwirkungspflicht der Versicherten sind die Sozialversicherungen privilegiert. Trotzdem will die Suva ein neues Gesetz, das mehr Observationsbefugnisse gibt, als Staatsanwälte haben, die Mord und Totschlag untersuchen müssen.
Erni: Wir wollen keine Privilegierung. Ein Beispiel: Ein Versicherter erhebt gegenüber der Suva Anspruch auf eine Leistung im Bereich der obligatorischen Unfallversicherung. Die Suva und nicht die Strafverfolgungsbehörde ist von Gesetzes wegen verpflichtet, den geltend gemachten Anspruch umfassend abzuklären. Dazu gehören auch der Entscheid über und die Durchführung von Observationen.
Stolkin: Es ist für mich unerklärlich, warum die Sozialversicherungen einen derart riesigen Apparat aufbauen, wenn es nur um 111 von 3,5 Millionen Fällen geht, wie bei der Suva. Da könnten Sie doch die Hilfe der Polizei in Anspruch nehmen.
Erni: Für die Durchführung der Observationen haben wir keinen riesigen Apparat aufgebaut. Sie werden von externen Spezialisten durchgeführt.
plädoyer: Vor zehn Jahren stand ein Observationsartikel zur Diskussion. Damals war noch der «dringende Tatverdacht» Voraussetzung zur Diskussion – wie im Strafrecht. Heute steht eine niederschwelligere Formulierung in Artikel 43a ATSG. Es werden nur noch «konkrete Anhaltspunkte» verlangt. Was ist darunter zu verstehen?
Erni: Dafür gibt es eine einschlägige Rechtsprechung, Artikel 43a ATSG gibt diese Rechtsprechung wieder. Es braucht einen konkreten Anlass. Der klassische Fall sieht so aus, dass man Abklärungen getroffen hat, auch medizinische. Die Mediziner kommen zum Schluss, dass es beispielsweise für eine vom Versicherten behauptete Arbeitsunfähigkeit keine Erklärung gibt. Wenn die Ärzte nicht weiterwissen, müssen wir zusätzliche Abklärungen treffen, allenfalls observieren. Die Observation ist die ultima ratio in der Sachverhaltsabklärung. Als konkrete Anhaltspunkte gelten etwa ein widersprüchliches Verhalten oder Zweifel an der Redlichkeit des Versicherten. Eventuell liegen Beobachtungen Dritter vor. Es gibt Inkonsistenzen bei der medizinischen Untersuchung, und es werden die Stichworte Aggravation und Simulation erwähnt.
Stolkin: Es fällt auf, dass Ausdrücke wie Aggravation oder Simulation meist von Ärzten der Versicherungen oder von ihnen eingesetzten Gutachtern kommen, um die Versicherten in Misskredit zu bringen.
plädoyer: In früheren Entwürfen zu einem Observationsartikel mussten «bisherige Abklärungen ergebnislos verlaufen» sein, neu müssen andere Abklärungen aus der Sicht der Versicherung nur noch «aussichtslos» sein oder «unverhältnismässig erschwert». Somit muss keine ultima ratio mehr vorliegen. Reine Nützlichkeitsüberlegungen der Versicherung reichen.
Stolkin: Ja, eine ultima ratio wird nicht mehr verlangt.
Erni: Das Gesetz bringt klar zum Ausdruck, dass die Observation zum Zuge kommt, wenn andere Abklärungsmittel nicht mehr in Frage kommen.
plädoyer: Gemäss Wortlaut der neuen Bestimmung ist eine Observation von Privaträumen zulässig, wenn sie «von einem allgemein zugänglichen Ort aus frei einsehbar» sind. In früheren Gesetzesentwürfen wäre das nur von «öffentlichem Grund» möglich gewesen. Müssen die Versicherten damit rechnen, dass Versicherungsdetektive aus dem Garten durchs Fenster filmen? Dass sie künftig Drohnen benützen?
Erni: Nein, das ist nicht möglich. Ganz bestimmt darf auch nicht das Schlafzimmer observiert werden, wie es die Gegner immer wieder behaupten. Dort ist die Privat- und Intimsphäre bei der Interessenabwägung stärker zu gewichten als das Anliegen, unrechtmässige Leistungen zu verhindern. Aber das Bundesgericht hat beispielsweise klargestellt, dass Beobachtungen auf dem Balkon zulässig sind.
Stolkin: Das Gesetz lässt Observationen zu, wenn sich die Person an einem Ort befindet, der vom öffentlichen Raum einsehbar ist. Wenn eine Drohne im öffentlichen Raum fliegt, können Privaträumlichkeiten in beliebiger Höhe eingesehen werden. Die Interpretation von Herrn Erni verstösst gegen den Gesetzeswortlaut.
plädoyer: Im neuen Gesetz ist zudem vorgesehen, dass die Versicherung «externe Spezialisten» mit der Observation beauftragen darf. Ein offener Begriff. Was ist damit gemeint?
Stolkin: Wir haben es mit einem unsorgfältig, schnell und schlecht gemachten Lobbygesetz zu tun, das viele unbestimmte Rechtsbegriffe enthält. Ich finde es sehr problematisch, dass die Versicherungen mit Privatdetektiven arbeiten dürfen. Das ist ein unkontrolliertes Gewerbe. Jeder kann sich Privatdetektiv nennen – ohne jede Ausbildung. In Gerichtsverfahren haben die Detektivberichte eine grosse Suggestivkraft auf die Richter, obwohl die Berichte im Auftrag der einen Partei geschrieben werden. Das führt häufig zu Fehlurteilen.
Erni: Die Detektive, welche die vom Bundesrat zu definierenden Anforderungen erfüllen, haben den Auftrag, die Leute in Alltagssituationen zu observieren. Sie müssen kein bestimmtes Ergebnis bringen. Wir wollen gestützt auf die Observation entscheiden können, ob der Anspruch auf Versicherungsleistungen gerechtfertigt ist oder nicht. Der Detektiv darf auch auf keinen Fall die Observation würdigen oder kommentieren, das machen wir. Die Suva hat acht Jahre lang gute Erfahrungen mit externen Spezialisten gemacht.
plädoyer: Es ist ein schweizerisches Novum, dass laut dem neuen Gesetz nun Versicherungsangestellte Eingriffe in die Grundrechte beschliessen können. Bisher lag diese Kompetenz bei den Gerichten und den Strafverfolgern.
Erni: Die Sozialversicherer tragen die Gesamtverantwortung für die Sachverhaltsabklärungen. Eine richterliche Überprüfung findet später im Gerichtsverfahren statt, wenn sich der Versicherte gegen eine Leistungskürzung wehrt. Das ist das übliche Prozedere im Sozialversicherungsrecht. Wir haben kein Interesse daran, uns über gesetzliche Regelungen hinwegzusetzen. Der Richter wird uns allenfalls in die Schranken weisen und mitteilen, was wir richtig oder was wir falsch gemacht haben, ob wir die Privatsphäre verletzt haben oder nicht. Übrigens führt die Suva pro Jahr rund tausend Prozesse, bei denen es um Leistungsforderungen geht. In 75 Prozent dieser Fälle gewinnen wir vor Gericht vollumfänglich. Bei den restlichen 250 Fällen kommt es zur Hälfte zu Rückweisungen, damit weitere medizinische Abklärungen vorgenommen werden. Bei der anderen Hälfte gewinnen wir teilweise oder verlieren. Vor Bundesgericht ist die Quote noch markanter, da gewinnen wir 90 Prozent der Fälle. Das sagt doch einiges über unsere professionelle Arbeitsweise aus.
plädoyer: Ihre grosse Erfolgsrate bei den Gerichten spricht aber dafür und nicht dagegen, einen Richter vorgängig über die Observation befinden zu lassen.
Erni: Nochmals, die gesetzliche Abklärungspflicht liegt vollumfänglich bei uns. Wir müssen rasch über die Durchführung einer Observation entscheiden können, damit wir keine ungerechtfertigten Leistungen auszahlen.
Stolkin: Die Anordnung der Observation wäre aber ganz klar Sache einer unabhängigen Staatsanwaltschaft oder der Polizei. Sicher nicht Sache einer Versicherung. Sie ist Partei und in der Regel ein gewinnstrebendes Unternehmen. Eine Partei sollte nicht solche Entscheidungen treffen dürfen, sie sollten unabhängigen Richtern vorbehalten sein. Doch nicht einmal der Geheimdienst darf einfach in eine Wohnung filmen. Er muss vorgängig eine richterliche Genehmigung für Observationen einholen. Er bekommt innert drei Tagen den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts. Und in Strafverfahren erhalten die Staatsanwälte die Entscheide für beantragte Observationen innert zwei Tagen. Da könnte doch auch die Suva auf einen Richterentscheid warten. Es geht ja angeblich nur um wenige Fälle. Ich schlage das Bundesverwaltungsgericht als zuständige richterliche Instanz vor.
plädoyer: Eine richterliche Genehmigung war ursprünglich vorgesehen, vom Parlament aber wieder gestrichen worden. Warum?
Stolkin: Wegen eines Schreibens vom 16. Februar 2018 des Versicherungsverbands und der Suva an alle Parlamentarier. Der Brief wurde mir von der Presse zur Kommentierung vorgelegt. In diesem Schreiben werden Praktikabilitätsüberlegungen genannt. Das war reine Lobbyarbeit, und das ist problematisch. Die Suva hat eine gesetzesvollziehende Funktion, sie ist rein formell der Exekutive anzugliedern. Sie muss objektiv und neutral sein. Deshalb ist es nicht in Ordnung, wenn die Suva einen Lobby-Brief mitunterzeichnet, um die Parlamentarier zu überzeugen. Das ist kein rechtsstaatlich korrektes Vorgehen. Das zeichnet die Suva als Interessenvertreterin aus.
Erni: In suvarelevanten Geschäften vertreten wir nötigenfalls die Interessen unserer Versicherten und Mitarbeiter gegenüber der Politik, Wirtschaft, Verwaltung und Gesellschaft. Denn die Suva ist ein selbständiges Unternehmen des öffentlichen Rechts und somit kein Staatsorgan. Das verleiht der Suva eine weitreichende Autonomie gegenüber Verwaltung und Politik. Die Suva ist der grösste Unfallversicherer und Teil des Sozialversicherungssystems, unsere Prämienzahler sind direkt vom Thema betroffen.
plädoyer: Die Prämienzahler sind auch die Versicherten. Die Bevölkerung hat im Durchschnitt über 20 Prozent des Einkommens in obligatorische Versicherungen einzuzahlen. Wer einen Anspruch anmeldet, muss damit rechnen, observiert zu werden. Sinkt mit solchen Massnahmen nicht das Vertrauen in den Sozialstaat?
Erni: Es gibt keinen Generalverdacht. Sonst würden mehr als 111 von 3,5 Millionen Fällen observiert. Der Versicherte stellt einen Anspruch auf Leistung an den Sozialversicherer. Wir haben den gesetzlichen Auftrag, den Anspruch abzuklären. Wir stehen in der Verantwortung, dass nur jenen Leuten Geld zugesprochen wird, welche die gesetzlichen Bedingungen auch erfüllen: Die Observation ist das letzte Mittel, das wir einsetzen, wenn wir die Frage zu entscheiden haben, ob wir eine Leistung, zum Beispiel eine Rente, ausrichten müssen. Damit fördern wir das Vertrauen in die Unfallversicherung.
Stolkin: Das sehen wir anders. Immerhin ist es möglich, mit dem neuen Gesetz die gesamte Bevölkerung zu observieren, ohne eine gerichtliche Genehmigung einholen zu müssen.
plädoyer: Warum sieht der neue Artikel kein Akteneinsichtsrecht für zu Unrecht Observierte vor?
Erni: Das Akteneinsichtsrecht ist aufgrund von Artikel 43a Absatz 8 UVG und Artikel 42 ATSG gewährleistet. Es wäre seltsam, wenn jemand, der zu Unrecht observiert wurde, das Material nicht sehen dürfte. Bei der Suva kann er die Observationsfilme sehen, wenn er dies wünscht, wir können auf Wunsch das Filmmaterial auch in den Akten belassen.
Stolkin: Ein solches Recht steht im Gesetz nirgends. Die Regelung wurde an den Bundesrat delegiert. Und das ist ein weiterer Beweis für die schlampige Gesetzgebungsarbeit. Ein Verweis auf das Datenschutzgesetz hätte genügt. Und wenn wir schon beim Datenschutz sind: Artikel 43a Absatz 5 ATSG liefert die Grundlage für einen freien Datenaustausch. Die Versicherer dürfen Informationen untereinander austauschen, schwarze Listen erstellen – und die Betroffenen erfahren nichts davon. Es ist ein datenschutzwidriges Gesetz, das in Strassburg niemals geschützt würde. Die Versicherer treten den Persönlichkeitsschutz mit Füssen.
Erni: Diese Vorwürfe stimmen nicht. Es trifft nicht zu, dass wir Versicherer Daten frei austauschen können.
Der neue Artikel zur Observierung von Versicherten
Im März hat die bürgerliche Mehrheit des National- und Ständerats einen neuen Observationsartikel im Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts erlassen (Artikel 43a ATSG). Dies trotz einem Schreiben der vier Schweizer Rechtsprofessoren Anne-Sylvie Dupont, Thomas Gächter, Kurt Pärli und Markus Schefer ans Parlament. Sie befürchteten eine Verletzung der Grundrechte und wiesen darauf hin, dass der neue Artikel «keine wirksamen Mechanismen vorsieht, um sicherzustellen, dass nur bei Vorliegen eines klar begründeten Anfangsverdachts observiert wird».
Gegen den neuen Artikel hat ein parteiunabhängiges Komitee um Rechtsanwalt Philip Stolkin das Referendum ergriffen. Die Frist läuft bis am 5. Juli. Der neue Artikel gilt für alle Sozialversicherungen, die dem ATSG unterstellt sind. Also zum Beispiel für Unfall- und Krankenversicherungen, AHV und IV, aber nicht für die Pensionskassen. Das Gesetz regelt die Voraussetzungen für eine verdeckte Observation von Versicherten («Konkrete Anhaltspunkte für unrechtmässige Geltendmachung von Leistungen»). Zulässig soll die Überwachung «von einem allgemein zugänglichen Ort aus» sein.
Die Versicherer dürfen dafür «Spezialisten» beauftragen – sprich: externe freiberufliche Privatdetektive.
Philip Stolkin, 52, Rechtsanwalt in Zürich, Mitglied des Referendumskomitees gegen den neuen Artikel 43a ATSG (Referendum gegen die Überwachung von Versicherten).
Franz Erni, 63, Rechtsanwalt, Leiter der Rechtsabteilung der Suva, Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Haftpflicht- und Versicherungsrecht.