Es ist nicht alltäglich, dass sich ein Staatsrechtsprofessor direkt in eine politische Debatte einmischt. Im Frühjahr geschah aber genau das: Staatsrechtsprofessor Benjamin Schindler von der Uni St. Gallen wandte sich in einem Schreiben an den Verband der Schweizer Schulleiterinnen und Schulleiter und kritisierte in deutlichen Worten dessen Stellungnahme zum berühmt gewordenen «Thurgauer Volksschulgesetz»-Entscheid des Bundesgerichts. Schindler sagt, er habe seinen Ärger loswerden müssen.
Darum geht es: Im viel diskutierten Entscheid 2C_206/2016 vom 7. Dezember 2017 hatte das Bundesgericht festgehalten, dass für obligatorische Schulveranstaltungen wie Schulreisen grundsätzlich keine Beiträge verlangt werden dürften. Ausgenommen davon ist ein Beitrag an die Verpflegungskosten im Umfang von 10 bis 16 Franken pro Tag. In einem Positionspapier titelte der Verband der Schulleiter in der Folge: «Das Bundesgericht gefährdet Lager und Exkursionen in der Volksschule.» Der Entscheid führe zu Verunsicherung in den Volksschulen aller Kantone. Er löse auch dort Diskussionen aus, wo Elternbeiträge bisher kein Thema gewesen seien: «Mit der tiefen Begrenzung der Elternbeiträge kann es sein, dass gewisse Veranstaltungen in Zukunft nicht mehr durchgeführt werden.»
Staatsrechtsprofessor Schindler wandte sich daraufhin in einem Brief an den Verband. Darin schreibt er auch, warum er sich zu diesem Schritt entschloss: «Mein Interesse rührt von meiner beruflichen Tätigkeit als Staatsrechtler, aber auch, weil ich vier Kinder im schulpflichtigen Alter habe, welche eine öffentliche Schule besuchen.»
Die Schulen ignorierten die Vorgaben
Es seien zwei Dinge, die ihn an der Stellungnahme des Verbands befremdeten, schreibt Schindler. Zum einen erwecke der Titel des Positionspapiers den Eindruck, als habe das Bundesgericht die Unsicherheiten im Bereich der Lager Finanzierung verursacht. Dem sei aber nicht so. Der Anspruch auf unentgeltlichen Grundschulunterricht finde sich seit 1874 in der Bundesverfassung und sei somit keineswegs neu (Artikel 27 Absatz 2 der Bundesverfassung [BV] von 1874, heute Artikel 19). Bereits im Jahr 1990 hätten die St. Galler Behörden gestützt auf diese Bestimmung festgehalten, dass der maximale Elternbeitrag für Wintersportlager 10 Franken pro Kind und Tag betrage.
Nicht die Gerichte, sondern die Schulen seien an der jetzigen Situation schuld. Sie hätten diese Vorgaben über Jahrzehnte hinweg ignoriert. Gleichzeitig nötige die Politik mit ihren Sparvorgaben die Schulen zu alternativen Finanzierungsmodellen.
Der zweite Punkt, mit dem Benjamin Schindler nicht einverstanden ist: Der Verband schrieb, die öffentliche Hand müsse die Kosten übernehmen, wenn die Eltern den Beitrag für einen obligatorischen Anlass nicht aufbringen können. Nach Auffassung des Staatsrechtlers widerspricht diese Empfehlung der Absicht der erwähnten Verfassungsbestimmung, Chancengleichheit herzustellen. Der Grundschulunterricht an den öffentlichen Schulen müsse für alle Kinder unentgeltlich sein. Hätte man diesen Anspruch nur den Eltern von bedürftigen Kindern zugestehen wollen, dann hätte man Artikel 19 BV anders formuliert. Dies etwa analog zu Artikel 29 Absatz 3 BV, wo der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege für Personen verankert ist, «die nicht über die erforderlichen Mittel verfügen».
Hinter dem Verfassungsartikel zur kostenlosen Volksschule stehe der Gedanke, dass die Schule kein Ort sein sollte, wo soziale Unterschiede wahrnehmbar sind (Marco Borghi, Kommentar Bundesverfassung, Basel/Zürich/Bern 1988, Artikel 27, RZ 53). «Müssten sich nun aber bedürftige Eltern gegenüber der Schule ‹outen›, so würden soziale Unterschiede offensichtlich», schreibt Schindler weiter. Das sei für die betroffenen Eltern und deren Kinder entwürdigend.
Schulleiterverband einsichtig
Gegenüber plädoyer relativiert der Verband seine Stellungnahme. «Wir geben dem Bundesgericht keinesfalls irgendeine Schuld», sagt Geschäftsleitungsmitglied Peter Baumann. Er räumt ein, dass in Bezug auf Klassenlager und Schulreisen von den Eltern teilweise mehr als der blosse «Verpflegungssteil» eingefordert worden sei. Die Schulen hätten in der Vergangenheit dem Grundsatz der Kostenfreiheit des Grundschulunterrichts zu wenig nachgelebt. Baumann verweist auch auf die «hohe Elternbeteiligung bei den Schulmaterialien» in den Langzeitgymnasien. Was dort in den ersten drei Jahren – welche eigentlich noch zur obligatorischen Schulzeit gehörten – von den Eltern eingefordert werde, sei für den Schulleiterverband fragwürdig. Allerdings gebe es dazu ebenfalls ein Bundesgerichtsurteil, das Unterschiede zur Volksschule zulasse. Gemeint ist damit das Leiturteil BGE 133 I 156. Darin hielt das Bundesgericht fest, dass der Unterricht an Untergymnasien bzw. Langzeitgymnasien nicht zum Grundschulunterricht im Sinne von Artikel 19 BV zu zählen ist. Entsprechend ist dieser Unterricht auch nicht kostenlos.
“Es gibt keine billigen Zwischenlösungen”
Baumann räumt ein: Die Aussage, der Staat solle die Kosten für finanziell schwache Familien übernehmen, entspreche nicht dem Sinn von Artikel 19 BV. «In unserem Positionspapier erwähnen wir diese Haltung. Allerdings sind wir da nicht stringent. Wir befürworten grundsätzlich eine Gleichbehandlung und fordern die Körperschaften auf, die Lager mit grösseren Beiträgen auszustatten.» Exkursionen und Schulreisen hätten eine wichtige Bedeutung. Entsprechend müsse dies der öffentlichen Hand etwas wert sein. Schule und Eltern müssten das bei den Behörden einfordern.
Staatsrechtler Benjamin Schindler habe dem Verband aufgezeigt, dass das Papier nicht in allen Punkten überzeuge. «Wir sind uns einig, dass es keine billigen Zwischenlösungen gibt.» Mit Letzterem meint Baumann auch die Subventionierung von finanziell schwachen Eltern. «Wir begrüssen das Bundesgerichtsurteil ohne Wenn und Aber», betont Baumann.
Bundesrichter pfeifen Thurgau zurück
In seinem Leitentscheid vom 7. Dezember 2016 (Urteil 2C_206/2016) hat das Bundesgericht am Verfassungsgrundsatz festgehalten, dass der Unterricht auf der Stufe der Volksschule kostenlos sein muss. Konkret hatte das Bundesgericht zwei Bestimmungen im Volksschulgesetz des Kantons Thurgau aufgehoben.
Diese legten fest, dass die Eltern im Falle von allenfalls notwendigen Sprachkursen (Deutsch) und von schulischen Veranstaltungen wie Klassenverlegungen und Exkursionen gegebenenfalls zur Kasse gebeten werden könnten. Vier Privatpersonen hatten gegen diese Bestimmungen Beschwerde erhoben. Das Bundesgericht gab den Beschwerdeführern recht und hob die Regelungen auf, weil sie der Bundesverfassung widersprächen.