Bald ist es wieder so weit: Ende März werden die Kantone wieder ihre Kriminalstatistiken präsentieren. Im Kanton Zürich gab es dafür in den vergangenen Jahren jeweils eine Pressekonferenz, an der unter anderem Regierungsrat Mario Fehr und Christiane Lentjes Meili, die Chefin der Kriminalpolizei der Kantonspolizei Zürich, die Zahlen darlegten. Das Augenmerk wurde jeweils auf bestimmte Themenfelder gelegt, zuletzt auf Jugendkriminalität oder häusliche Gewalt. Mitunter werden auch Aufträge an die Politik formuliert.
Grosse Resonanz in den Medien
Journalisten trugen die Botschaften der Pressekonferenzen in der Folge in die Welt: «Warum Minderjährige häufiger zuschlagen», titelte der «Tages-Anzeiger» nach der letztjährigen Präsentation. «Mehr Straftaten in Seebezirken: Corona treibt Kriminalität am See an», hiess es in der «Zürichsee-Zeitung».
Auf eidgenössischer Ebene fliessen die von den Kantonen gemeldeten Zahlen zur eidgenössischen polizeilichen Kriminalstatistik zusammen. Sie dient vielen Medien als Richtschnur, wenn sie über Kriminalität berichten: «Debatte um Femizide: 61 Prozent der Täter sind Ausländer», titelten im letzten Herbst zum Beispiel mehrere Zeitungen des Verlags CH Media – mit Verweis auf die Kriminalstatistik.
Doch die eidgenössische Kriminalstatistik und die Kriminalstatistiken der meisten Kantone sind irreführend: Sie umfassen lediglich Strafanzeigen, keine Urteile. Und sie enthalten nur mögliche Delikte gegen das Strafgesetzbuch, das Betäubungsmittelgesetz und das Ausländer- und Integrationsgesetz. Nicht abgebildet sind dagegen zum Beispiel die Zuwiderhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz. Dabei machen sie gemäss der Statistik der Strafurteile des Bundesamts für Statistik den grössten Anteil der Verurteilungen aus: Bei 2020 insgesamt 86 771 verurteilten Erwachsenen ging es in 47 296 Fällen um Verstösse gegen das Strassenverkehrsgesetz. Zum Vergleich: 30 600 Verurteilungen erfolgten nach dem Strafgesetzbuch, nur 12 080 nach dem Ausländergesetz und gerade einmal 4594 gestützt auf das Betäubungsmittelgesetz.
Nationalrätin Min Li Marti (SP) fragte 2019 in einer parlamentarischen Interpellation, weshalb in der polizeilichen Statistik die Delikte gegen das Strassenverkehrsgesetz nicht erfasst werden. Sie warf die Frage auf: «Besteht nicht die Gefahr, dass damit ein verzerrtes Bild der tatsächlichen Kriminalität in der Öffentlichkeit vermittelt wird?» Marti wollte weiter wissen, ob nicht auch die Straftaten, die den Gewässer-, Umwelt- oder Tierschutz betreffen, von öffentlichem Interesse wären.
Nebst Verkehr auch Tierschutz ausgeklammert
Es ist eine Frage, die auch die Stiftung Tier im Recht umtreibt, die sich gemäss Eigenbeschrieb für einen «starken rechtlichen Tierschutz» einsetzt. «Dass die Kriminalstatistik Tierschutzdelikte nicht ausweist, ist ein grosses Defizit», sagt die Berner Anwältin Christine Künzli, Geschäftsleitungsmitglied der Stiftung.
Die Kantone sind verpflichtet, dem Bundesamt für Veterinärwesen Entscheide zu Tierschutzverstössen zu melden. Doch nicht überall werde die Meldepflicht ernst genommen. Die Stiftung Tier im Recht erstellt gestützt auf alle gemeldeten Erledigungsentscheide im Tierschutzstrafrecht jährlich eine eigene Statistik und fasst diese jeweils in einem Gutachten zusammen. Dabei sei Tierschutz gemäss Bundesverfassung eine Staatsaufgabe, so Künzli. Und Tierschutzdelikte müssten folglich in der nationalen Kriminalstatistik abgebildet werden. Weshalb dies ausbleibe, kann sich Künzli nicht erklären. «Es ist wohl eine Frage der Prioritätensetzung», vermutet sie.
Der Bundesrat beantwortete die Interpellation von Nationalrätin Marti im August 2019. In der Praxis habe sich herausgestellt, «dass Verstösse gegen strafrechtliche Bundesnebengesetze auf kantonaler Ebene nicht überall in den gleichen polizeilichen Informationssystemen erfasst werden», hiess es. Dies sei so, weil die Kantone «unterschiedliche interne Organisationsstrukturen, Kompetenzen oder Arbeitsprozesse hätten». Für eine Harmonisierung wären unter anderem «bestimmte IT-Anpassungen nötig», die für die betroffenen Kantone mit zusätzlichen Kosten verbunden wären.
Diese Antwort und die Ansicht des Bundesrats, wonach die nationale Polizeistatistik kein verzerrtes Bild der Kriminalität zeige, «sondern einen Ausschnitt davon», überzeugen Min Li Marti nicht: «Die Frage, ob man auch Delikte gegen das Strassenverkehrs- oder Tierschutzgesetz in die Kriminalstatistik aufnimmt, scheint mir eine Frage des politischen Willens zu sein.»
Dass dem zumindest auf kantonaler Ebene so ist, bestätigt die Kantonspolizei Zürich auf Anfrage implizit: Der Bund schreibe lediglich vor, Zahlen betreffend Strafgesetzbuch, Betäubungsmittelgesetz und Ausländergesetz zu nennen. Den Kantonen stehe es frei, weitere Bereiche zu erfassen. Die Kantonspolizei Zürich verzichte aber darauf. Begründung: «Um Massnahmen für die Verkehrssicherheit im Kanton treffen zu können, sind die heute angewendeten Methoden, die auf konkrete Streckenabschnitte oder bestimmte Jahreszeiten fokussieren, besser geeignet als gesamtkantonale Jahreszahlen.»
“Der politische Wille fehlt da und dort”
Dass es auch anders geht, zeigt unter anderem der Kanton Solothurn: In Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Statistik wertet er auch Verkehrsdelikte aus und bringt sie in der kantonalen Polizeistatistik zur Sprache.
Für Daniel Fink ist das eindeutig das bevorzugte Modell. Der Lehrbeauftragte für Kriminalstatistik und Kriminalpolitik an der Universität Luzern hatte als Sektionschef beim Bundesamt für Statistik das Projekt Polizeistatistik zwischen 1996 und 2010 mitaufgebaut. «Vom Bundesamt aus hätten wir gerne auch die Verkehrsdelikte in der nationalen Statistik abgebildet.» Zwar seien für eine landesweite Harmonisierung IT-Anpassungen notwendig. Das zöge für einige Kantone wohl Kosten nach sich.
In manchen Fällen gehe es aber weniger um Geld als um den besagten politischen Willen. «Der fehlt da und dort.» Die polizeiliche Kommunikation an Pressekonferenzen wie jener der Kantonspolizei Zürich zur kantonalen Polizeistatistik beurteilt Fink kritisch: «Da wird sicher kein vollständiges Bild der Kriminalität gezeichnet», sagt er.
An den Statistiken für sich genommen liege das aber nicht: «Es gibt ja auch weitere Erhebungen wie zum Beispiel die Strafurteilsstatistik», so Fink. «Vergleicht man polizeiliche Anzeigen und justizielle Beurteilungen, kommt man einem stimmigen Gesamtbild schon näher.»
In den Medien fristet die Strafurteilsstatistik allerdings ein Mauerblümchen-Dasein: Eine Stichwortsuche in der Mediendatenbank SMD ohne zeitliche Einschränkung ergibt gerade einmal 367 Resultate. Fündiger wird da, wer den Begriff «polizeiliche Kriminalstatistik» eingibt: Er erhält 2217 Resultate.