Professor Andreas Stöckli hat sich in der letzten Ausgabe von plädoyer für die Einführung einer direkten Anfechtbarkeit bundesrätlicher Notverordnungen vor Bundesgericht ausgesprochen (plädoyer 3/2023). Denn seit der Covid-19-Phase nahm die Kadenz des bundesrätlichen Griffs zu Notrecht unübersehbar zu und kam etwa auch im Zusammenhang mit den Ukraine-Sanktionen, dem Reservekraftwerk Birr, der Axpo sowie der CS-Rettung zum Einsatz.
Problematisch ist auch, dass eine abstrakte Normenkontrolle Stand heute nur gegenüber kantonalem Notrecht offensteht, nicht aber gegenüber nationalen Notverordnungen. Dies ist der Hauptgrund, warum auch anderthalb Jahre nach Aufhebung der Covid-Massnahmen einige Rechtsfragen weiterhin nicht geklärt sind. Denn ein Prozess im konkreten Anwendungsfall über drei Instanzen dauert oft länger.
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Tatsächlich hat sich das Bundesgericht – von Nichteintreten auf mangelhaft begründete Laienbeschwerden und Ähnlichem abgesehen – soweit ersichtlich erstmals am 24. März 2021, ein Jahr nach dem ersten Lockdown im Frühling 2020, in einem französischsprachigen Entscheid materiell zu einer bundesrätlichen Covid-Verordnung geäussert. Dabei hielt es fest, dass der in Artikel 11 Absatz 3 Covid-Verordnung Kultur statuierte totale Ausschluss sämtlicher Rechtsmittel offensichtlich gegen die Rechtsweggarantie gemäss Artikel 29a Bundesverfassung (BV) verstösst (BGE 147 I 333, E. 1). Dieser Entscheid äusserte sich nur zu staatlichen Wirtschaftshilfen, nicht aber zu den gesundheitspolizeilichen Massnahmen, die überhaupt erst eine Notwendigkeit finanzieller Entschädigungen geschaffen hatten.
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Die ersten drei Leitentscheide zu Grundrechtseingriffen ergingen Anfang Juli 2021, wobei stets kantonale Notverordnungen im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle zu beurteilen waren: ein Verbot von Privatveranstaltungen und zweimal eine kurzzeitige Maskentragepflicht in Läden. Das Bundesgericht hielt dabei zunächst fest, dass Artikel 40 Absatz 2 Epidemiengesetz (EpG) eine sehr unbestimmte Delegationsnorm sei und – Stichwort «insbesondere» – keine abschliessende Aufzählung enthalte. Und wenn Artikel 40 Absatz 2 EpG sogar eine (umfassende) Schliessung gewisser Innenräume explizit vorsehe, müsse a maiore minus auch eine Maskenpflicht als milderes Mittel zu einer Totalschliessung zulässig sein. Jedenfalls bilde Artikel 40 Absatz 2 EpG eine genügende gesetzliche Grundlage für mildere Grundrechtseinschränkungen – auch wenn diese im Gesetzestext nicht explizit vorgesehen seien (BGE 147 I 478, E. 3.7.2 und 3.8.1).
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Sodann bejaht das Bundesgericht in diesem Entscheid ein öffentliches Interesse am Maskentragen, wofür es darauf verweist, dass auch die Weltgesundheitsorganisation die Covid-Krankheit als pandemisch qualifiziert habe und zudem Mortalitäts- und Infektionszahlen sehr hoch wären, womit Covid nicht mit einer saisonalen Grippe verglichen werden könne.
Bezeichnenderweise werden in jener Erwägung nur die Hospitalisations- und Todesfallzahlen für den Zeitraum vom 28. September 2020 bis zum 19. März 2021 aufgeführt, während ein jahresübergreifender Vergleich unterbleibt (BGE 147 I 393, E. 5.2). Damit könne ein Krankheitsrisiko, auch wenn gewisse allgemeine Lebensrisiken stets in Kauf genommen und als sozialadäquat bezeichnet werden, «inakzeptabel hoch werden und nach epidemienrechtlichen Massnahmen rufen» – zumal es auch eine grundrechtliche Pflicht zum Schutz vor Gesundheitsgefahren gebe (BGE 147 I 450, E. 3.2.3). Die Ergreifung epidemiologischer Massnahmen habe dabei nach dem jeweils aktuellen Kenntnisstand zum Zeitpunkt der Massnahmenanordnung zu erfolgen. Eine wissenschaftliche Klarheit sei dabei nicht erforderlich, eine erhebliche Plausibilität reiche bereits aus (BGE 147 I 450, E. 3.2.6).
Im Ergebnis stellt dies eine Beweismasssenkung dar. Angesichts der ausgesprochenen Ermessensfragen und der örtlichen oder sachlichen Besonderheiten – Stichwort Fachwissen – auferlegt sich das Bundesgericht bei der Verhältnismässigkeitsprüfung eine gewisse Zurückhaltung (BGE 147 I 450, E. 3.2.5). Immerhin anerkennt es, dass auch die negativen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen staatlicher Restriktionen bei der Abwägung zu berücksichtigen sind (BGE 147 I 450, E. 3.2.4). Ebenso, dass je länger eine Krankheit auftritt, umso höher auch die Anforderungen an die empirische Abstützung der Risikoabschätzung sind, da die anfängliche Unsicherheit, die eine Beweismasssenkung zu erheblicher Plausibilität rechtfertigt, entfällt (BGE 147 I 450, E. 3.2.7).
Diese drei Leitentscheide von Anfang Juli 2021 sind wegweisend für die künftige Covid-bezogene bundesgerichtliche Rechtsprechung. Sie überzeugen nur teilweise. Soweit das Bundesgericht festhält, dass angesichts des Wortlauts «insbesondere» die Aufzählung in Artikel 40 Absatz 2 EpG nicht abschliessend sei, womit jene Norm auch eine genügende gesetzliche Grundlage für weniger strenge als die darin explizit genannten Massnahmen darstelle, kann ihm ohne Weiteres gefolgt werden.
Dasselbe gilt für die Forderung, auch negative Folgen präventiver Massnahmen in die Entscheidfindung einzubeziehen, sowie die Beweismasssenkung hin zu «erheblicher Plausibilität» – jedenfalls, soweit damit «überwiegende Wahrscheinlichkeit» gemeint ist und nicht blosse «Glaubhaftmachung» (zur Abgrenzung von Glaubhaftmachung und überwiegender Wahrscheinlichkeit statt vieler: BGE 140 III 610, E. 4.1). Auch die Rechtsprechungsformel des «damaligen Kenntnisstands», der bei der Beurteilung der Rechtmässigkeit staatlicher Grundrechtseingriffe im Namen des Gesundheitsschutzes massgebend sein soll, ist grundsätzlich nachvollziehbar.
Problematisch ist die Kognitionsbeschränkung bei lokalen oder fachlich-wissenschaftlichen Ermessensfragen. Diese Rechtsprechungsformel führte bereits vor Corona öfter zu stossenden Resultaten (praxisrelevant insbesondere im öffentlichen Baurecht), indem Gerichte ihre Kognition freiwillig auf Rechtsverletzungen beschränkten.
Das ist mit Blick auf Artikel 29a BV keineswegs unproblematisch, sind doch Ermessensfragen oft untrennbar mit der Sachverhaltsfeststellung verbunden. Und hinsichtlich dieser besteht – jedenfalls im Rahmen des Individualrechtsschutzes und ausserhalb der abstrakten Normenkontrolle – ein verfassungsmässiger Anspruch auf eine Instanz mit freier Kognition (Giovanni Biaggini, BV Kommentar, 2. Aufl., Zürich 2017, Artikel 29a N 8).
Wenn das Bundesgericht, das den Sachverhalt in aller Regel ohnehin nur auf Willkür prüft (Artikel 97 Absatz 1 Bundesgerichtsgesetz, BGG), generaliter festhält, bei epidemiologischen Massnahmen sei den Exekutivbehörden praxisgemäss ein weitgehendes Ermessen zuzugestehen, erläutert es damit nicht nur die prozessualen Rahmenbedingungen des BGG. Es macht auch Vorgaben für die kantonalen oder eidgenössischen gerichtlichen Vorinstanzen – so explizit in BGE 147 I 450, E 3.2.5, wonach es nicht in erster Linie Aufgabe der Gerichte sei, das akzeptable Risiko festzulegen, sondern des Verordnungsgebers oder der Fachbehörden. Die Vorinstanzen wären aber ihrerseits verpflichtet, Artikel 29a BV zum Durchbruch zu verhelfen und damit nicht nur Rechts-, sondern auch Sachverhaltsfragen mit freier Kognition zu prüfen.
Diese Haltung ist verfassungsrechtlich bedenklich. Denn allzu gross ist bekanntlich die Versuchung, den Exekutivbehörden nicht nur ein grosses Ermessen auf Basis des rechtskonform festgestellten Sachverhalts zuzugestehen, sondern diesen auch bereits ein erhebliches Ermessen bei der Sachverhaltsfeststellung einzuräumen. Zumindest Letzteres hält vor Artikel 29a BV nicht stand. Eine freiwillige Kognitionsbeschränkung ist ausgeschlossen, weil gemäss Artikel 95 litera a BGG das Bundesgericht von Parteien gerügte Bundesrechtsverletzungen mit freier Kognition zu prüfen hat. Und die Verhältnismässigkeitsprüfung von Grundrechtseinschränkungen ist selbstverständlich eine Rechtsfrage (Artikel 36 Absatz 3 BV).
Aus Sicht einer liberalen Grundrechtslehre ebenso wenig gefolgt werden kann den bundesgerichtlichen Ausführungen zu grundrechtlichen Schutzpflichten betreffend die Gesundheit Einzelner. Bei den Grundrechten handelt es sich um universelle Abwehrrechte gegenüber einem übergriffigen Staat. Der Schutz vor nicht allein menschengemachten Naturgefahren – sei es im Namen des Klima- oder Gesundheitsschutzes – ist damit richtigerweise eine politische Frage und keine, die sich mit angeborenen Grundrechten aller Menschen begründen liesse.
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Daraus folgt, dass die rechtlichen Prämissen der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu Covid-Massnahmen weitgehend nachvollziehbar sind – allerdings mit zwei gewichtigen Ausnahmen: erstens dem Bejahen grundrechtlicher Schutzpflichten vor gesundheitlichen Gefahren ausserhalb eines vorsätzlichen oder fahrlässigen Virenverbreitens (Stichwort allgemeines Lebensrisiko, das ja gerade keine Fahrlässigkeit darstellt). Dies ist methodisch unschön, die praktischen Auswirkungen halten sich aber in Grenzen, weil sich staatliche Minimalprävention auch ohne grundrechtliche Schutzpflichten begründen lässt.
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Auf Ebene der praktischen Auswirkungen viel folgenschwerer ist zweitens die freiwillige Kognitionsbeschränkung in Bezug auf das Ermessen der massnahmenanordnenden Fachbehörden, zumal die Ermessensausübung stets einen vorgängig festgestellten Sachverhalt voraussetzt und die Verhältnismässigkeitsprüfung im Zusammenhang mit Grundrechtseinschränkungen eine Frage der Anwendung von Bundesrecht ist, was eine freiwillige Kognitionsbeschränkung eigentlich ausschliesst (Artikel 36 Absatz 3 BV in Verbindung mit Artikel 95 litera a BGG). Dieser Kritikpunkt besteht unabhängig von Covid, doch diese Problematik ist im Kontext von Notrecht besonders ausgeprägt. Denn es ist nicht parlamentarisch genehmigt, womit der Grundsatz der Gewaltenteilung nach mutigen Gerichten ruft.
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Vor diesem Hintergrund erstaunt die generelle Rechtsprechungstendenz seit Anfang Juni 2021 in Fällen mit Covid-Bezug nicht: Soweit es schwergewichtig um Rechtsfragen ging, konnten Beschwerdeführer durchaus obsiegen. Sobald aber sachverhaltliche Vorfragen wesentlich für die nachgelagerte Beantwortung der rechtlichen Hauptfragen waren, versagten die Gerichte weitgehend. Besonders sichtbar wird dies an den beiden bundesgerichtlichen Leitentscheiden zu kantonalen Demonstrationsverboten, welche beide vom Bundesgericht am 3. September 2021 in einer öffentlichen Beratung gefällt wurden.
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Eine strikte 15-Personen-Grenze bei Demos im Kanton Bern wurde als verfassungswidrig beurteilt, da sie das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit faktisch seines Kerns entleert und man bei solch einer tiefen Zahl von Teilnehmern kaum noch von einer Demonstration im Rechtssinn sprechen kann (BGE 148 I 33).
Dagegen erachtete das Gericht eine 300-Personen-Grenze für Demonstrationen im Kanton Uri für gerade noch verfassungsmässig, da den Behörden ein grosser Ermessensspielraum zukomme (BGE 148 I 19). Eine Auseinandersetzung mit der an der frischen Luft sehr tiefen Ansteckungsgefahr sowie der umstrittenen Wirksamkeit von Masken fand kaum statt.
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Im Fall der «Walliserkanne» in Zermatt VS wurde ebenso wenig darauf eingegangen, dass die Covid-Impfung höchstens den eigenen Krankheitsverlauf mildert, nicht aber vor Verbreitung von Sars-CoV-2 durch die geimpfte Person schützt (Urteil des Bundesgerichts 2C_740/ 2022). Letzteres wäre aber erforderlich gewesen, um die Zertifikatspflicht überhaupt als wirksame Massnahme im Gastronomiebereich qualifizieren zu können.
Demgegenüber führte die fehlende Testkostenübernahme für ungeimpfte Studenten zur Gutheissung einer Beschwerde betreffend die Covid-Zertifikatspflicht an der Unversität Freiburg (Urteil des Bundesgerichts 2C_810/2021). Dies primär, weil es sich erübrigte, auf sachverhaltlicher Ebene über die Gefährlichkeit von Covid zu diskutieren. Denn daran, dass eine Maskenpflicht auch in Schulen verhältnismässig war, zweifelte das Bundesgericht nicht (BGE 148 I 89). Von März 2020 bis Januar 2023 starben in der Schweiz genau 15 Personen unter 30 Jahren mit oder an einer Corona-Infektion.
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In einem Entscheid in Sachen SRG hielt das Bundesgericht fest, dass das Schweizer Fernsehen als grundrechtsgebundener Medienakteur Covid-kritische Kommentare nicht beliebig löschen darf – und dass eine Löschung aufgrund der Rechtsweggarantie der Bundesverfassung von der Unabhängigen Beschwerdeinstanz überprüft werden muss (BGE 149 I 2). Bei der öffentlichen Beratung sagte die Instruktionsrichterin klar, dass der Fall ohne die Covid-Situation wohl nicht vor Bundesgericht gelandet wäre. Die Meinungsäusserungsfreiheit biete aber auch Schutz vor einer staatlichen Einheitsmeinung.
De facto war der freie Diskurs in der Covid-Phase in Schieflage. Daraus folgt, dass die Aufarbeitung der Covid-Zeit nicht nur vor Gerichten erfolgen muss. Auch rechtssoziologisch fragt sich, wie Grundrechte in Zeiten von Angst und Unsicherheit wirksam geschützt werden können.