Seit dem Inkrafttreten der Schweizerischen Strafprozessordnung am 1. Januar 2011 gibt es keine Geschworenengerichte mehr in der Schweiz», erklärt das Bundesamt für Justiz auf Anfrage. Begründung: Die Strafprozessordnung (StPO) sehe keine Prozesse nach dem Unmittelbarkeitsprinzip mehr vor.
Für das Bundesamt scheint die Schweiz offenbar am Gotthard zu enden. Denn im Kanton Tessin wirken im Strafprozess nach wie vor die «Assessori-Giurati» mit, also Geschworene. Damit hält der Kanton Tessin an einer Tradition fest, die es so in der Schweiz sonst nicht mehr gibt. Vor der Inkraftsetzung der Schweizerischen Strafprozessordnung hatten auch die Kantone Genf, Neuenburg, Waadt und Zürich kantonale Geschworenengerichte.
Rückblende: Im Februar 2010 wandten sich Ares Bernasconi und Filippo Contarini, zwei junge Tessiner Juristen, mit einer Petition an das Tessiner Parlament. Sie ersuchten es, die bereits angekündigte Entscheidung, die Corte d’assise abzuschaffen, nochmals zu überdenken. Die Tessiner Regierung hatte nämlich aufgrund der damaligen Botschaft des Bundesrats zur Strafprozessordnung das Ende dieser Institution beschlossen.
Tessiner stimmten für Geschworenengerichte
Den beiden Petitionären kam entgegen, dass die Einsetzung der Geschworenengerichte im Kanton Tessin in der Kantonsverfassung verankert war. Somit war deren Abschaffung nur durch eine Verfassungsänderung und somit nur über eine Volksabstimmung möglich. Im November 2010 lehnte das Tessiner Stimmvolk die Abschaffung seiner Geschworenengerichte dann knapp mit 51,6 Prozent Nein-Stimmen ab.
Zu seinen damaligen Beweggründen sagt Bernasconi, heute Zwangsmassnahmenrichter in Lugano: «Die Assessori-Giurati haben im Tessin Tradition. Es gibt sie seit 1895.» Neben den Friedensrichtern sei dies die einzige Form von Laienrichtertum im Tessin. «Eine Laienkomponente stärkt die Legitimität des Gerichts bei schweren Straffällen, in denen lange Freiheitsstrafen verhängt werden.»
Kantone sind frei in der Organisation ihrer Gerichte
Die geltende Strafprozessordnung erlaubt zwar keine Strafprozesse nach dem Unmittelbarkeitsprinzip mehr. Andrea Lenzin, Präsident der Tessiner Anwaltskammer, hält auf Anfrage aber fest, dass die Kantone in der Organisation und der Zusammensetzung ihrer Gerichte frei seien: «Die Strafprozessordnung enthält keine Vorschrift, welche die Teilnahme von Laiengeschworenen an solchen Gerichten ausschliesst.» Gemäss Lenzin musste nach dem Volksentscheid das kantonale Organisationsgesetz so abgeändert werden, dass mindestens der Abschaffung des Unmittelbarkeitsprinzips Rechnung getragen wurde.
Ares Bernasconi hält den Begriff «Geschworenengericht» im Fall des Kantons Tessin auch heute noch für gerechtfertigt. Dies, obwohl verschiedene typische Merkmale eines Geschworenengerichts wie das Unmittelbarkeitsprinzip mit der Einführung der StPO verschwunden seien. «Es ist einfach das geblieben, was mit der StPO noch vereinbar war.»
Der Kanton Tessin ist der einzige verbliebene Kanton, in dem Richter per Los ausgewählt werden. Die Geschworenen werden für jeden Fall neu bestellt.
In einem ersten Schritt werden 14 Geschworene ausgelost. Dann dürfen das Opfer und der Angeklagte je vier Ausgeloste streichen. Unter den verbleibenden sechs Geschworenen lost der Gerichtsvorsitzende zwei aus, die als Ersatzgeschworene zu fungieren haben.
Die erste wie die zweite Instanz besteht dann aus jeweils sieben Mitgliedern mit Stimmrecht – je drei Richter und vier Geschworene.
In vielen Kantonen sind nach wie vor Laienrichter tätig. Im Kanton Uri zum Beispiel in der zivil-, straf- und verwaltungsrechtlichen Abteilung. Besteht denn ein Unterschied zwischen den Giurati im Tessin und den Laienrichtern in andern Kantonen? «Im Tessin sind die Geschworenen keine ständigen Laienrichter. Sie haben kein festes Pensum», sagt Bernasconi. Die einzelnen Geschworenen kämen in der Regel nicht mehr als ein- oder zweimal pro Jahr zum Einsatz.
«Viele Richter schätzen die Beteiligung des Volks»
Filippo Contarini ist Lehrbeauftragter an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern. Er fragt sich heute selbstkritisch, ob es damals die richtige Entscheidung gewesen war, ein Laiengericht ohne den Grundsatz der Unmittelbarkeit weiterzuführen. Zudem gebe es auf akademischer Ebene eine gewisse Skepsis gegenüber der Möglichkeit, dass auch Nicht-Juristen an der Urteilsfindung teilnehmen.
Die Stimmen aus der Praxis, insbesondere der Richter, seien jedoch geteilt. «Viele Richter schätzen die Beteiligung des Volks an der Urteilsfindung, weil Geschworene nicht Teil der internen Organisation eines Gerichts sind und daher zum Beispiel keine Karrierepläne verfolgen.» Die Tessiner Lösung sei ein Kompromiss zwischen «technischer Qualität und der Öffnung des Gerichts zur Welt», was viele schätzen würden.
Laut Bernasconi findet in der Tessiner Bevölkerung zurzeit keine Diskussion über das Geschworenengericht statt. «Es gab nie eine Bewegung, die es abschaffen wollte. Auch bei den Verteidigern sei das Gericht anerkannt. Die Geschworenen selbst würden die heutige Praxis – mit Einsicht in die Akten – im Vergleich zu früher als besser erleben.
Andrea Lenzin, Präsident Anwaltskammer, weist in diesem Zusammenhang auf die prozessleitende Funktion des Amtsrichtergremiums hin: Vier Geschworenen stehen in der Regel drei Richter gegenüber, die in aller Regel eine starke, richtungsweisende Wirkung auf die Laiengeschworenen ausüben würden. «Dies schliesst die Gefahr weitgehend aus, dass es Schuld- oder Freisprüche aufgrund mangelnder Kenntnis der materiell- und verfahrensrechtlichen Gesetzesnormen seitens der Laiengeschworenen gibt.»
Gerhard Lob ist Tessiner Korrespondent für Deutschschweizer Medien. In dieser Funktion erlebte er einige Tessiner Strafprozesse mit Geschworenen – zuletzt beim Prozess des Kantonalen Strafgerichts gegen einen Deutschen, der in einem Hotel in Muralto eine junge Britin erdrosselt hatte und zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Auch bei der Appellationsverhandlung in Locarno waren Geschworene anwesend.
Gemäss Lob war diese Institution der Volksrichter für das Tessin immer wichtig. Er relativiert allerdings den Einfluss der Laien: «Ich habe den Eindruck, dass diese Volksrichter für ihre Funktion nicht gut ausgebildet sind. Ich sehe auch, dass sie sich kaum Notizen machen.» Daher habe er manchmal den Eindruck, dass sie am Ende einfach unkritisch das Urteil der Richter übernehmen.
Kein «Druck von amtierenden Richtern»
Paola Eicher-Pellegrini ist Geschworene bei der zweiten Instanz des Tessiner Strafgerichts. Wenige Wochen vor dem Prozess werden ihr Akten zur Einsicht überlassen. «Verlangt wird von uns die Disziplin, in den Wochen vor dem Prozess keine Zeitungsartikel oder andere fremde Meinungen über den Fall zu lesen.»
Gegenüber plädoyer erklärt sie, sie habe nie «Druck von den amtierenden Richtern» verspürt. Die Richter hätten es auch geschätzt, die Meinungen der Laien zu hören. «Oft wird uns mitgeteilt, in welchem Rahmen ein Urteil für eine bestimmte Straftat gefällt werden kann. Dann findet eine ausführliche Diskussion statt.»
Sie habe Prozesse erlebt, so Eicher-Pellegrini, bei denen die Geschworenen das von den Richtern vorgeschlagene Strafmass reduzierten, und andere, bei denen sie die Strafe erhöhten – immer im Rahmen dessen, was das Gesetz erlaube.
So funktionieren die Tessiner Geschworenengerichte
Das Geschworenengericht erster Instanz befindet sich in Lugano und ist dem kantonalen Strafgericht angegliedert. Es kommt bei Fällen mit einer angeklagten Freiheitsstrafe von über fünf Jahren zum Zug. Der Beizug der Geschworenen kann auch für Fälle mit einem Strafmass zwischen zwei und fünf Jahren beantragt werden. Das kommt aber praktisch kaum vor.
Das Geschworengericht zweiter Instanz ist dem Appellationsgericht in Locarno angegliedert. Es umfasst drei Richter, eine Kammer des Obergerichts.
In der ersten Instanz kommt das Geschworenengericht ungefähr in zehn bis zwölf Fällen pro Jahr zum Einsatz. In der zweiten Instanz fällt es in vier bis sechs Fällen Urteile.
Kein Widerstand gegen die Abschaffung des Zürcher Geschworenengerichts
Mit Inkrafttreten der Eidgenössischen Strafprozessordnung per 1. Januar 2011 wurde das Geschworenengericht im Kanton Zürich abgeschafft. Die Institution existierte rund 160 Jahre lang. Christian Huber war von 1994 bis 1999 Präsident. Im Rückblick hält er fest, ein grosser Vorteil sei das Unmittelbarkeitsverfahren gewesen, weil sich das Gericht ein eigenes Bild von der Glaubwürdigkeit der Zeugen und der Kompetenz von Experten machen und Rückfragen stellen konnte.
«Als Präsident des Geschworenengerichts leitete ich insgesamt 60 Prozesse und lernte dabei auch die Summe von Lebenserfahrungen aus den verschiedenen Bereichen schätzen, die auf einer Geschworenenbank zusammenkamen. Erkauft wurden diese Vorteile durch ein aufwendiges und teures Verfahren.»