Der künftige schweizerische Strafverteidiger erfährt in seiner juristischen Ausbildung jede Menge über zahlreiche Rechtsgebiete bis in alle möglichen und unmöglichen Verästelungen. Er kann beispielsweise im Grundstudium aus dem Stegreif ein Referat zum umgekehrten Verbotsirrtum halten und weiss an der Anwaltsprüfung allerlei über Aktienrecht. Bis zur Patentierung nicht oder kaum unterrichtet wird dagegen etwa der Umgang mit Klienten und der Justiz, die Redaktion einer Rechtsschrift und der mündliche Parteivortrag, die Wahl der Mittel, die auf «ein freisprechendes oder möglichst mildes Urteil hinwirken» (BGE 106 Ia 105 E. 6b) – kurz, die Technik der Strafverteidigung.
Solide Rechtskenntnisse sind für einen Anwalt zweifellos wichtig. Aber sie sind längst nicht alles. Ein sehr wichtiger Teil der beruflichen Praxis wird daher in Lehrveranstaltungen und Büchern nicht vermittelt und nie geprüft, sondern dem alltäglichen Wildwuchs überlassen. Gelegentlich hört man den Einwand, dieser Teil des beruflichen Anforderungsprofils lasse sich letztlich nicht richtig schulen. Sieht man sich aber in anderen Lehrgängen um, stellt man schnell fest, dass dies eine Mär sein muss: In der Schweiz setzen sich beispielsweise Lehrer und Psychotherapeuten intensiv mit den verwandten Themen in ihrem Beruf auseinander. Und in angelsächsischen Anwaltsausbildungen stehen neben soliden Rechtskenntnissen just solche Fragen im Zentrum. Eine Debatte, wie man diesen beruflichen Obliegenheiten gerecht werden könnte, tut auch im deutschsprachigen Raum Not, will man dies nicht einzig der Intuition und der Erfahrung der einzelnen Praktiker überlassen.
In der Schweiz ist die Beschäftigung mit strategischen und taktischen Fragen der Verteidigung mittlerweile wieder etwas eingeschlafen, nachdem vor nunmehr über zehn Jahren in einem ersten wichtigen Anlauf zwei wichtige Grundlagenbücher erschienen sind: Das plädoyer-Buch «Ungeliebte Diener des Rechts» von Baumgartner / Schuhmacher (Hrsg.) und der von Niggli / Weissenberger herausgegebene Band «Strafverteidigung» der Reihe «Handbücher für die Anwaltspraxis». Anders in Deutschland: Dort gibt es zumindest einige bekannte Handbücher zur Strafverteidigung und sogar eine ganze «Praxis der Verteidigung» mit mittlerweile über dreissig Bänden zu verschiedenen Themen. Die Bücher sind praxisnah aufgebaut, handeln Rechtsfragen wie auch strategische und taktische Gesichtspunkte ab und enthalten meist auch Musterschreiben und bzw. oder konkrete Anleitungen für verschiedene Konstellationen.
In der deutschen Rechtswissenschaft gibt es zudem – im Gegensatz zu den hiesigen Universitäten – auch Ansätze zu einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit solch praktischen Fragen der Verteidigung («Defensologie») und entsprechende Veranstaltungen an den Universitäten. Auch da besteht in der Schweiz Nachholbedarf, obschon mittlerweile in Masterstudiengängen doch einzelne Kurse zur Strafverteidigung angeboten werden und der Anwaltsverband nun mit einem «Fachanwalt Strafrecht» startet. Sichtet man aber die deutschsprachige Literatur – auch aus den Nachbarländern –, fällt insgesamt auf, dass diese meist einzelne typische Situationen einer Strafverteidigung aufbereitet, das Pro und Kontra verschiedener Vorgehensweisen erörtert und allenfalls Checklisten dafür bereithält. Sie beschäftigt sich indessen kaum mit der Frage, wie die berufliche Strategie und Taktik grundsätzlich aussehen könnten und welches Wissen dafür notwendig ist. Sofern überhaupt darauf eingegangen wird, werden beispielsweise «Konflikt-» von «Konsensverteidigern» unterschieden. Meines Erachtens sollte sich aber ein Praktiker auf keinen beruflichen Habitus versteifen, sondern in jedem Einzelfall ein maximal breites Arsenal an konkreten Vorgehensweisen in Betracht ziehen und diese massgeschneidert anwenden. Sonst wird er seiner Obliegenheit kaum gerecht, stets das Beste für den Mandanten zu erwirken zu versuchen.
Zweifellos gibt es zahlreiche Fälle, in denen sich die Rolle der Verteidigung vor allem darin erschöpft, den Beschuldigten zu betreuen, zu beraten und die Justizförmigkeit des Verfahrens zu kontrollieren: Erstens wenn der Sachverhalt eindeutig zum Nachteil des Beschuldigten erstellt ist. Zweitens, wenn die rechtliche Würdigung wenig Anlass zu Diskussionen bietet und drittens, wenn man sich im hinsichtlich der Rechtsfolge standardisierten Bereich der Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrs- und Betäubungsmittelgesetz oder der mittels Strafmassempfehlungen vereinheitlichten Bagatellkriminalität bewegt. Dann ist der Spielraum auch der engagiertesten und klügsten Verteidigung jeweils relativ klein. Anders dagegen wenn der Sachverhalt in der Untersuchung unklar bleibt, wenn rechtliche Fragen strittig sind oder zumindest der Rahmen des Strafmasses nicht durch zahlreiche andere Vergleichsfälle bereits abgesteckt ist: Hier kann die Verteidigung durchaus einiges bewirken und einen Einfluss auf die Gravitationskräfte eines Strafverfahrens nehmen. Dann ist die Wahl ihrer taktischen Mittel entscheidend. Denn auch der Einsatz der rechtlichen Argumente hat sich der Verteidigungsstrategie unterzuordnen. Verteidigen ist eine instrumentelle, zielgerichtete und parteiliche Vernunft.
Strategische und taktische Fragen sind daher eine Querschnittdisziplin der Strafverteidigung: Sie stellen sich als Anwalt der ersten Stunde, wenn man den Beschuldigten zu seinem Aussageverhalten berät, ebenso wie bei der Entscheidung, ob man im Vorverfahren einen Beweisantrag stellt, oder wie man im Hauptverfahren plädiert. Gemeinsam ist dem guten taktischen Hilfsmittel in den unterschiedlichsten Situationen, dass man stets versuchen will, etwas zu bewirken, was ohne dessen Einsatz so nicht zustande käme, und es in eine Strategie, die auf Freispruch und/oder ein mildes Urteil zielt, einzubetten.
Die kluge Taktik der Strafverteidigung, die sich vom uninspirierten, stereotypen Dienst nach Vorschrift unterscheidet, ist daher im jeweiligen Einzelfall ein «schlaues Mittel, mit dessen Hilfe man etwas zu erreichen sucht, was man auf dem normalen Weg nicht erreichen könnte». Genau so beschreibt der Duden in einer weiten Definition «List». Die engere Definition im Duden fügt allerdings noch ein, dass man dabei andere täuscht. List wird daher wohl deswegen in unserem aktuellen kulturellen Kontext meist mit einer Täuschung gleichgesetzt und negativ konnotiert.
Der fahle Beigeschmack der List mag unter anderem auch daher rühren, dass der moderne, abendländische Begriff der Vernunft die List schlicht ausblendet. In den vergangenen Jahrhunderten fehlen weitgehend systematische, wissenschaftliche Abhandlungen dazu. Anders in abendländischen kulturellen Erzählungen: In den Märchen der Brüder Grimm triumphieren oft die Listigen, in der griechischen Sage kam der listenreiche Odysseus gerade deswegen weit und David hätte im Alten Testament kaum Goliath besiegt, wenn er nicht seine Steinschleuder listig eingesetzt hätte. Auch in klassischen Kinderbüchern freuen und identifizieren wir uns mit listigen Protagonisten: Als Schweizer liegt vielen Wrigley in «Mein Name ist Eugen» von Klaus Schädelin ebenso nahe wie Huckleberry Finn in «The Adventures of Tom Sawyer» von Mark Twain. Bis vor ein paar Jahren konnte sich daher der deutschsprachige Strafverteidiger nur im Fundus dieser erzählten Geschichten bedienen, wenn er aus Büchern etwas über List erfahren wollte. Eine systematische Darstellung von List-Techniken lag nicht vor.
Seit einigen Jahren erscheint wissenschaftliche Literatur zur List nun auch auf Deutsch. Insbesondere der Sinologe und Rechtswissenschaftler Harro von Senger setzt sich seit Jahren fundiert mit chinesischen List-Techniken auseinander und publiziert rege dazu: Einführend in «Die Kunst der List» oder in «Die Klaviatur der 36 Strategeme: In Gegensätzen denken lernen», sehr gründlich im zweibändigen Monumentalwerk «36 Strategeme: Lebens- und Überlebenslisten aus drei Jahrtausenden», weiter beispielsweise auch als Herausgeber eines Sammelbandes «Die List». China kennt einen uralten Katalog von 36 List-Techniken, die wertneutral und nicht moralisch beschrieben werden. Weil «List» im europäischen kulturellen Zusammenhang negativ besetzt ist, wählt Harro von Senger zur Übersetzung sehr bewusst den in Vergessenheit geratenen Terminus Strategem dafür. Damit signalisiert er, dass es ihm um die Beschreibung und nicht die Bewertung von List geht. Die Technik der List soll deskriptiv beschrieben werden. Und der Autor ist der Auffassung, dass Europäer hier viel vom chinesischen Wissen lernen können; es bewegt sich auf einer höheren Abstraktionsstufe als die bekannten europäischen Einzelepisoden.
In die Rechtswissenschaft flossen diese Forschungen bislang wenig ein: Vor knapp zehn Jahren hielt Harro von Senger über zwei Semester an der Universität Zürich eine einführende Vorlesung über Rechtsstrategemekunde. Clausdieter Schott publizierte im Jusletter vom 9. Februar 2004 einen Aufsatz über «Das Recht und die List» und Claudio Soliva steuerte einige Jahre vorher einen Beitrag «Juristen, Christen, Listen» zum bereits erwähnten Sammelband «Die List» bei. Beide Publikationen setzten sich aber nicht mit der Anwendung chinesischer List-Techniken im hiesigen Recht auseinander. In der deutschsprachigen strafrechtlichen Literatur befasst sich eine lesenswerte Monographie von Martin Miescher aus dem Jahre 2008 mit «List in der Strafverfolgung» und bezieht sich ausdrücklich auf die Arbeiten von Harro von Senger. Soweit mir ersichtlich, hat bisher aber niemand im deutschsprachigen Raum versucht, die chinesischen List-Techniken für die Strafverteidigung fruchtbar zu machen. Meines Erachtens drängt es sich aber geradezu auf, in der Strafverteidigung über den Einsatz der 36 Strategeme nachzudenken. Denn man steht hier als einzelner Beistand des Beschuldigten einem gut organisierten Justizapparat gegenüber – Waffengleichheit gibt es in Strafverfahren prinzipiell und strukturell nicht. Die chinesischen List-Techniken sind nun aber nicht nur augenöffnende Tabubrecher, die uns einen vorurteilsfreien Zugang zu dieser Dimension menschlichen Verhaltens öffnen. Sie sind vor allem auch eine «weiche» Waffe der Schwachen in prekären Situationen und damit prädestiniert für die Wahrnehmung der fragilen Beschuldigtenrechte. Weil die Verteidigung einzig den Interessen der Beschuldigten verpflichtet ist, ist der (gesetzliche) Spielraum für den Einsatz von List auch deutlich grösser als bei der Staatsanwaltschaft, die an sich entlastenden und belastenden Tatsachen gleichermassen nachgehen und in diesem Sinne niemanden überlisten sollte.
Bei der Auseinandersetzung mit den chinesischen List-Techniken wird der Strafverteidiger feststellen, dass er zahlreiche Strategeme bereits intuitiv anwendet oder Kollegen sie einsetzen. Exemplarisch: Die klassische Verteidigungshaltung, die vor allem passiv, aber wachsam wartet, bis die Staatsanwaltschaft oder die Gerichte einen Fehler machen, und ihn dann zu ihren Gunsten zu nutzen versucht, ist durch das Strategem Nr. 9 «Die Feuersbrunst am gegenüberliegenden Ufer beobachten» oder Nr. 12 «Mit leichter Hand das Schaf wegführen» einschlägig abgedeckt. Versucht der Verteidiger dagegen, aktiv einen Fehler des Verfahrensgegners zu provozieren, wird dies mit «Aufs Gras schlagen, um die Schlangen aufzuscheuchen» (Nr. 13) beschrieben. Konzediert die beschuldigte Person im Rahmen eines abgekürzten Verfahrens einen Teil des Vorwurfs, damit im Gegenzug gewichtige Verdachtsmomente ad acta gelegt werden und so ein günstiges Urteil erwirkt wird, entspricht dies der Metapher: «Einen Backstein hinwerfen, um einen Jadestein zu erlangen» (Nr. 17). Hat man dafür die Verhandlungsbereitschaft der (erschöpften) Staatsanwaltschaft erlangt, indem man beispielsweise zahlreiche Beweisanträge gestellt hat und deswegen zahlreiche weitere Abklärungen getätigt werden müssten, oder in komplexen Fällen, wo ohne die Mitwirkung des Beschuldigten wenig geht, auf Rat der Verteidigung die Aussage verweigert, spräche man wohl mit dem Strategem Nr. 4 davon, dass man «ausgeruht den erschöpften Feind erwartet». Und weil in einer solchen Konstellation bisweilen mehrere Strategeme nacheinander zielgerichtet eingesetzt werden, liegt oft ein sogenanntes Verkettungsstrategem vor (Nr. 35).
Auch Beschuldigte haben nicht selten selber klare Vorstellungen, mit welchen Finten sie einer Verurteilung entgehen wollen. Ein bekannter Verteidiger scheint ihnen hier vielfach am heilbringendsten zu sein. Allein mit dem grossen Namen erhofft man den Ausgang eines Verfahrens günstig beeinflussen zu können (Strategem Nr. 29: «Dürre Bäume mit künstlichen Blumen schmücken»). Viel weniger wird daran gedacht, dass auch und gerade ein unbekannter, kluger und engagierter Berufsanfänger, der unterschätzt wird und Understatement bewusst einsetzt, just deswegen viel an Wirkung erzielen kann (Strategem Nr. 10: «Hinter dem Lächeln den Dolch verbergen» oder Nr. 27: «Verrücktheit mimen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren»). Bisweilen wollen Beschuldigte auch vermeintliches oder tatsächliches Unrecht in Medien publik machen, in der Hoffnung, dass so Druck auf die Justiz entsteht (Strategem Nr. 3: «Mit dem Messer eines anderen töten»). Völlig zu Recht warnt aber Annelies Herzog in ihrer Dissertation «Öffentlichkeits- und Medienarbeit des Strafverteidigers» davor, als Beschuldigter die Publizität von sich aus zu suchen: Die Öffentlichkeit erweist sich für ihn meist nicht als guter Verbündeter. Und die schweizerische Justiz lässt sich – von Ausnahmefällen abgesehen – kaum beeinflussen. Im Gegenteil ist eher mit einer Gegenreaktion gegen Druckversuche zu rechnen.
Die Wahl der List-Technik, das zeigt nicht nur dieses Beispiel, muss mit Umsicht erfolgen, sonst kann sich ein Strategem auch kontraproduktiv auswirken. In diesem Zusammenhang ist in Erinnerung zu rufen, dass sehr solvente Beschuldigte vor allem in angelsächsischen Ländern in Strafverfahren bisweilen gleich vier, fünf oder sechs Privatgutachten ins Recht legen. Der chinesische List-Katalog beschreibt dies mit der bereits erwähnten Metapher, dass man auf einem Baum künstliche Blumen blühen lässt (Nr. 29). Dieses Strategem wird auch als Variante in einer Fabel, in der sich der Fuchs die Autorität des Tigers leiht, schön beschrieben. Hier wie anderswo gilt es aufzupassen, denn weniger ist in der Schweiz oft mehr: Einen Tiger einsetzen, der in einem Gutachten sachlich Aspekte aufzeigt, die sonst in den Ausführungen des «Verteidigungsfuchses» von der Justiz übergangen werden können, kann eine durchaus sinnvolle Verteidigungsstrategie sein. Eine ganze Tigermeute auf den Plan zu rufen, hat dagegen meist den Beigeschmack gekaufter Expertisen. Wird ein Strategem zu offensichtlich eingesetzt, löst dies unter Umständen ohnehin eine verständliche Abwehrhaltung der Justiz aus. Denn niemand lässt sich gern plump überlisten.
Kritische Leser werden sich nun vielleicht fragen, was denn der konkrete Nutzen der Strategeme für die Strafverteidigungspraxis ist – und ob sie in der Auseinandersetzung mit den 36 Strategemen einzig eine fernöstliche bildhafte Systematisierung für menschliches Überlistungsverhalten erhalten, das ohnehin bekannt ist und intuitiv angewendet wird. Der eigentliche Erkenntnisgewinn bei der Beschäftigung mit den 36 Strategemen liegt aber meines Erachtens nicht primär darin, dass man einen Raster zur menschlichen List erhält und das bisherige eigene Verhalten und dasjenige der anderen darin einordnen kann. Vielmehr regt der chinesische Katalog darüber hinaus die Fantasie an, wie man eigene Handlungen als Verteidigung anders als in den gewohnten Bahnen und mutmasslich kreativer und geistreicher als bisher planen könnte. Im besten Fall geht man nach der Beschäftigung mit dem Thema im Berufsalltag insgesamt etwas weniger plump vor und setzt List subtiler ein.
Der beruflichen Fortbildung eines jeden Strafverteidigers stünde es meiner Ansicht nach gut an, eine oder zwei Ausgaben der üblichen Fachzeitschriften ungelesen im Altpapier zu entsorgen und stattdessen zumindest eines der einführenden Bücher von Harro von Senger in die chinesische Kunst der List zu lesen. Sicher – die Denkweise in Strategemen ist ungewohnt und entspricht in keinerlei Hinsicht der üblichen (beruflichen) Sozialisation helvetischer Anwälte. Und in Standardfällen krampfhaft nach deren Einsatzmöglichkeiten über das bislang ohnehin Übliche hinaus suchen, dürfte kaum zielführend und selten ein praktischer Erkenntnisgewinn sein. Eine Auseinandersetzung mit der chinesischen Kunst der List trägt indessen mindestens zur Horizonterweiterung bei und ist eine vergnüglich-grundsätzliche Denkschulung in Strategie und Taktik. Sie dürfte darüber hinaus dem praktischen Handlungsrepertoire in komplexeren Strafverteidigungsfällen zuträglich sein.
Ein Strafverfahren wird durch die Brille der chinesischen Strategeme betrachtet vom rein rechtlichen Kampffeld auch zu einem Feld zwischenmenschlicher Auseinandersetzungen, wo die Verteidigung mit ihren begrenzten Möglichkeiten, das heisst auch und gerade der List, versucht, das Beste für den Beschuldigten zu erwirken. Allenfalls gelingt es künftig gerade deshalb in manchen Konstellationen wegen des überraschenden und unerkannten Einsatzes eines Strategems, ein freisprechendes oder wenigstens milderes Urteils zu erwirken.
Und falls den listblind erzogenen abendländischen Strafverteidiger bei der Anwendung der chinesischen Strategeme am Ende doch Gewissensbisse packen und er in ein Moraldilemma geraten sollte, findet er dafür zwar wenig Absolution in der neuzeitlichen westlichen Philosophie, aber immerhin in der heiligen Schrift: von niemand anderem als von Jesus Christus stammt das Diktum (Matthäus 10, 16): «Seid klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben.»