Jedes Jahr werden Tausende Gefangenentransporte durchgeführt. Von 2011 bis 2016 waren es jeweils jährlich zwischen 16 378 und 18 954 Personen. Die Transporte erfolgen im Auftrag der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD). Durchgeführt werden sie teilweise von privaten Sicherheitsfirmen wie der Securitas – mit Kleinbussen, aber auch in Zusammenarbeit mit den SBB in einer speziellen Zugkomposition, dem sogenannten Jail-Train.
Die Delegation dieser heiklen staatlichen Aufgaben an Private ist umstritten (siehe Unten). Und vor allem: Diverse Anwälte kritisieren die Art und Weise, wie die Transporte durchgeführt werden – vor allem jene per Kleinbus.
Mit Ketten an Händen und Füssen gefesselt
Zum Beispiel der Zürcher Rechtsanwalt Bruno Steiner. Er schildert den gewöhnlichen Transport eines beschuldigten Klienten in einem Kleinbus vom Gefängnis Dielsdorf ZH zu einer Einvernahme und wieder zurück ins Gefängnis so: «Benützt wurde ein für Gefangenentransporte konzipierter Kleinbus. Mein Klient wurde dabei in einem Metallkäfig mit einer Bodenfläche von ungefähr 65 x 65 cm und einer Höhe von rund 120 cm transportiert.» Steiner: «Das Käfigvolumen beträgt somit etwa einen halben Kubikmeter.» Insgesamt befänden sich in einem Kleinbus sechs solcher Käfige, die teils durch eine Metallwand, teils durch Gitter voneinander abgetrennt seien.
Laut Steiner werden die Inhaftierten mit Ketten an den Füssen und an den Händen – letztere meist noch auf den Rücken gefesselt – in den Käfig verfrachtet. «Es gibt bloss einen Standard – alle Gefangenen werden der höchsten Gefährlichkeitsstufe zugeordnet.»
Steiner kritisiert: «Gegen einen Unfall sind die Gefangenen nicht geschützt, weder mit Airbags noch mit Polsterungen.» Auch seien sie nicht angeschnallt: «Kommt es zu einem Unfall, haben die Gefangenen keine Chance, ihren Käfigen zu entkommen oder sich selbst aus dem Fahrzeug zu befreien.» Sie sind nämlich nicht nur gefesselt, auch das Schloss des Stahlkäfigs und die Schlösser der Fahrzeugtüren können nur von aussen geöffnet werden.
Pikant: Generell sind in der Schweiz keine Busse mehr zugelassen, in denen Passagiere seitwärts zur Fahrrichtung sitzen. Auch Gurten sind obligatorisch. Die Gefangenentransporter würden deshalb keine Zulassung erhalten.
Nur: Das Bundesamt für Strassen (Astra) hat bezüglich Gefangenentransporte eine Ausnahmeregelung aufgestellt. Laut Astra ist ein Gurt nicht nötig, weil er «bei derart engen Raumverhältnissen bei einem Unfall nur eine geringe Schutzwirkung entfalten würde». Und: «Der Insasse würde im Fall einer Kollision – ob angegurtet oder nicht – mit Kopf und Oberkörper an den Wänden oder der Türe anprallen.»
Steiners Fazit: «Mit der Wahrung der Menschenwürde und dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit sind diese Transporte unvereinbar.» Sie würden auch gegen die Folterkonvention verstossen: «Durch die Dauer des Transports, die Fahrweise und die Dauer, in der die Fahrzeuge – teils für Stunden – abgestellt werden, verschärft sich die grausame und erniedrigende Behandlung.»
Gerichte wollen nicht näher hinschauen
Die Justiz scheint sich für das Thema nicht zu interessieren. Bruno Steiner reichte nämlich im Fall des Dielsdorfer Transports Strafanzeige gegen Entscheidungsträger der Polizei sowie am konkreten Transport beteiligte Polizisten ein – wegen Amtsmissbrauchs, Freiheitsberaubung, Nötigung, versuchter schwerer Körperverletzung und Tätlichkeit. Grund: Sein Mandant habe nach einem bei Hitze, defekter Lüftung und mehrere Stunden dauernden Transport einen lebensgefährlichen Kollaps erlitten.
Doch das Obergericht des Kantons Zürich erteilte die Ermächtigung zur Strafverfolgung nicht. Und eine Beschwerde Steiners gegen diesen Entscheid ans Bundesgericht wurde durch die I. öffentlich-rechtliche Abteilung abgewiesen (1C_479/2015).
“Längere Fahrten mitunter belastend”
In der Begründung schreiben die Bundesrichter: Es stehe keineswegs fest, dass der Beschwerdeführer beim umstrittenen Transport kollabiert sei. Der für den Transport ausgewählte und mit Zellen ausgerüstete Lieferwagen Opel Vivaro sei vom Bundesamt für Strassen für den Strassenverkehr zugelassen und damit verkehrstauglich. Die seitlichen Zellen, wie sie für den Transport des Klienten von Steiner benutzt wurden, seien belüftet und nach Polizeiangaben 67 x 74 x 135 cm gross, so das Bundesgericht. «Die Zellen sind zwar eng und der Transport in ihnen mag für die in der Regel mit Handschellen gefesselten Gefangenen bei länger dauernden Fahrten mitunter belastend sein.» Laut Bundesgericht wäre es zwar auch möglich, den Transport von Gefangenen in den beanstandeten Fahrzeugen dazu zu missbrauchen, um sie in strafbarer Weise zu quälen bzw. ihre körperliche Integrität zu beeinträchtigen. Es bestünden aber keinerlei Anzeichen dafür, dass die Kantonspolizei Zürich solche Praktiken pflege.
Nach den Angaben des Gefängnisaufsehers, der den Beschwerdeführer nach dem umstrittenen Transport in Empfang nahm, habe dieser «einen sichtlich geräderten Eindruck» gemacht und um eine Kopfwehtablette gebeten. Verletzungen habe er keine festgestellt. Laut Bundesgericht ist zwar nicht auszuschliessen, dass der Untersuchungsgefangene ohnmächtig geworden sei, wahrscheinlich sei dies aber nicht.
Abschliessend meint das Bundesgericht: «Insgesamt erscheint es somit zwar plausibel, dass der Beschwerdeführer durch den umstrittenen Rücktransport ins Gefängnis mitgenommen war. Dass er dabei allerdings an Körper oder Gesundheit ernsthaft Schaden nahm, hat sich nicht erhärtet.» Deshalb stelle die Verweigerung des Obergerichts zur Eröffnung einer Strafuntersuchung keine Verletzung von Bundesrecht dar.
“Sämtliche Fahrzeuge sind klimatisiert”
KKJPD-Generalsekretär Roger Schneeberger sagt zur Kritik an den Gefangenentransporten: «Wir setzen alles daran, sie so komfortabel wie möglich zu gestalten.» Die Fesselung der Gefangenen liege in der Verantwortung der Auftraggeber, «diese entscheiden, in welcher Form die Person gefesselt ist». Schneeberger weiter: «Die vom Astra in Auftrag gegebene Studie bezüglich der Ausnahmeregelung betreffend Gurtenpflicht hat ergeben, dass die zu transportierenden Personen mit einem Beckengurt keine sicherheitsrelevanten Vorteile bei einem Unfall haben.» Zudem sei die Betreuung der Gefangenen während der gesamten Reisezeit durch mindestens zwei Personen sichergestellt. Ausserdem seien sämtliche Fahrzeuge klimatisiert. In den siebzehn Jahren, in denen die privaten Gefangenentransporte laufen, war laut Schneeberger eine einzige kleine Verletzung einer transportierten Person zu verzeichnen.
Schneeberger erklärte zudem, das gesamte Gefangenentransportsystem – sowohl auf dem Gleis als auch auf der Strasse – sei vom Europäischen Komitee zur Verhütung der Folter und erniedrigender und unmenschlicher Behandlung geprüft worden. «Es kam zu keinen Beanstandungen.»
Doch das stimmt nicht: Laut Aussage des Europäischen Komitees gegenüber plädoyer wurden nur Gefangenentransporte per Zug kontrolliert – zuletzt 2001. Auch die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter NKVF fühlt sich für diese Transporte nicht verantwortlich. Auf Anfrage von plädoyer sagt Geschäftsführerin Sandra Imhof: «Unsere Kommission hat sich noch nicht vertieft mit der Frage der Gefangenentransporte auseinandergesetzt.»
Keine Bewilligung für einen Augenschein
Es scheint fast so, als würden die Gefangenentransporte niemanden interessieren. Kommt hinzu: Wer näher hinschauen will, wird abgewiesen. plädoyer wollte die SBB-Zugskomposition in Augenschein nehmen. Eine entsprechende Anfrage an die Securitas AG wurde aber abschlägig beantwortet. «Wir haben die Anfrage bei der KKJPD vorgebracht», schrieb die Securitas. Doch die KKJPD lehnte ab.
Gefangenentransporte durch Private: Kritik von den Universitäten
Die Gewaltausübung steht im Rechtsstaat grundsätzlich nur dem Staat zu. Deshalb erachten viele Juristen den Transport von Häftlingen durch private Sicherheitsfirmen als problematisch. Insbesondere die Androhung und Anwendung von polizeilichen Zwangsmassnahmen durch privates Sicherheitspersonal wird mehrfach als «heikel» bezeichnet.
Hans-Jürg Käser ist Regierungsrat des Kantons Bern und Präsident der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren.
Käser hat für die Kritik an den von Privaten durchgeführten Gefangenentransporten Verständnis: «Das staatliche Gewaltmonopol ist ein wichtiges Gut in unserem Rechtsstaat», sagt er. Staatliche Aufgaben, die mit der Anwendung von Zwang behaftet sind, seien daher nur mit Zurückhaltung an Dritte zu übertragen.
Gleichwohl könne der Beizug von privaten Dienstleistern in der Praxis nötig sein. Dies müsse nicht unbedingt formell-rechtlich per Gesetz geregelt werden.
Für Judith Wyttenbach, Professorin für öffentliches Recht an der Uni Bern, kann die Delegation an Private problematisch sein. Es komme darauf an, wie stark Grundrechte tangiert seien, wie eng die Tätigkeit mit potenzieller Zwangsanwendung verbunden und wie gross der Ermessensspielraum sei. «Besonders grundrechtssensibel sind staatliche Eingriffe, die die physische Integrität, die Bewegungsfreiheit oder die Privatsphäre betreffen.»
Heikel könne die Aufgabenerfüllung dann sein, wenn sie direkt mit physischem Zwang oder Zwangsandrohung zur Durchsetzung polizeilicher oder strafvollzuglicher Massnahmen verbunden sei.
Auch Andreas Stöckli, Assistenzprofessor für öffentliches Recht an der Uni Basel, findet die Übertragung von Polizeiaufgaben an Private heikel, die mit Anwendung von Gewalt und Zwang verbunden sein können. Und dies sei bei Gefangenentransporten der Fall. «Deshalb kann sie nur unter restriktiven Voraussetzungen zulässig sein.»
Im Gesetz im formellen Sinn, in dem die Übertragung vorgesehen sei, müssen laut Stöckli «zumindest die Aufgaben und Befugnisse, die persönlichen und sachlichen Anforderungen an die privaten Sicherheitsdienste sowie die Aufsicht durch die staatlichen Instanzen detailliert und präzise umschrieben sein».
Laut Goran Seferovic, Oberassistent für öffentliches Recht an der Uni Zürich, darf die Entscheidungsmacht über eine Zwangsmassnahme nicht bei Privatunternehmen liegen. «Im Falle der Gefangenentransporte versuchen die Kantone, diesen Anforderungen zu entsprechen, indem sie den Privaten lediglich den Transport und die Überwachung während des Transports übertragen.»
Den Privaten komme damit grundsätzlich keine Entscheidungsmacht darüber zu, welche Personen festgehalten werden. Problematisch könne sein, dass privates Sicherheitspersonal bei Zwischenfällen womöglich Zwang anzuwenden hätte.