Der spanische Staat leitete im vergangenen Herbst gegen diverse politische Akteure der katalonischen Separatisten Strafverfahren ein. Als Folge davon begaben sich der abgesetzte Regierungschef Carles Puigdemont und vier seiner Minister ins europäische Ausland. Das Strafverfahren wurde ursprünglich von der Generalstaatsanwaltschaft angestrengt. Beteiligt ist aber auch eine ultrarechte, spanisch-nationalistische Splitterpartei mit einer Popularklage. Aktuell wird das Verfahren vom zuständigen Untersuchungsrichter am Obersten Gerichtshof geleitet.
Einige Verantwortliche der katalanischen Regierung mit Vizepräsident Oriol Junqueras an der Spitze blieben im Land und erschienen auf Vorladung vor dem Obersten Gerichtshof. Sie sitzen seitdem zusammen in Untersuchungshaft, weil gemäss dem Untersuchungsrichter Wiederholungsgefahr in Sachen Hochverrat vorliegt.
Gegen die Geflüchteten erliessen die spanischen Behörden europäische Haftbefehle. Die Auslieferungsbegehren gehen von einem dringenden Tatverdacht der Begehung sehr schwerer Straftaten aus. Insbesondere wird den Angeklagten der Straftatbestand der «Rebelión» vorgeworfen, der einem gewaltsamen Aufstand gegen die Verfassung entspricht (vergleichbar mit Hochverrat nach Art. 265 StGB). Nach spanischem Recht droht eine Freiheitsstrafe von bis zu dreissig Jahren.
Zu diesem Hauptvorwurf kommen auch die Straftat der «Sedición» (Landfriedensbruch, Art. 260 StGB), das Delikt der Zuwiderhandlung gegen Gerichtsentscheidungen und der Vorwurf der Veruntreuung öffentlicher Gelder – weil die katalonische Regierung Haushaltsmittel zur Organisation einer Volksbefragung einsetzte, die vom Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt und dennoch durchgeführt wurde.
Die Krise begann bereits im Jahr 2010
In Barcelona heisst es, Spanien sei immer noch «Franco-Land», im Rest Spaniens ist immer öfter vom «Staatsstreich» der Separatisten die Rede – eine ausgewachsene Verfassungskrise. Wie konnte es dazu kommen? Ist Spanien nicht eine seit über vierzig Jahren etablierte, reife Demokratie, ein Rechtsstaat wie jeder andere in Westeuropa?
Die Krise begann, als das spanische Verfassungsgericht 2010 eine neue Fassung des katalanischen Autonomiestatuts teilweise für verfassungswidrig erklärte. Das neue Statut wurde zuvor im gesamtspanischen Parlament verhandelt und verabschiedet. Von den katalanischen Bürgern wurde es in einem Referendum gutgeheissen. Doch dann reichte der bis vor kurzem regierende konservative Partido Popular eine Verfassungsklage ein.
Die Auslieferungsbegehren und die dadurch ausgelöste strafrechtliche «Internationalisierung des Konflikts» stiessen auf Befremden. Die öffentliche Meinung der betroffenen europäischen Länder bemerkte keine gewaltsame Aktivität der Separatisten, wohl aber das unverhältnismässig harte Eingreifen der gesamtspanischen Polizeikräfte anlässlich des illegalen Referendums im Oktober 2017. Die Anordnung von Untersuchungshaft und die Einleitung von Strafverfahren in einer eigentlich politischen Auseinandersetzung stiessen auch in Spanien auf Kritik. So veröffentlichte zum Beispiel die Mehrheit der spanischen Strafrechtsprofessoren eine gemeinsame Stellungnahme – ein Novum in einem laufenden Verfahren. Ebenfalls bemerkenswert: Es liegen keinerlei Indizien für Hochverrat vor – die Straftat, die zur Begründung der Untersuchungshaft herangezogen wird.
Handelt es sich hier also um politische Justiz? Treten in Spanien tatsächlich autoritäre Relikte des Franco-Regimes an die Oberfläche? Sind die Organe der Justiz politisch eingebunden, wie die katalanischen Separatisten behaupten? Ein Überblick über die beteiligten gesamtspanischen Institutionen:
Staatsanwaltschaft: Sie entspricht einer Mischform aus deutsch-französischen und italienischen Elementen. Innerhalb der Institution sind die Mitglieder weisungsgebunden und hierarchisch dem Generalstaatsanwalt unterstellt. Dieser ist zwar formell von der Exekutive unabhängig, wird aber von ihr bestellt – seit neuestem für einen bestimmten Zeitraum. Folge: In der rechtspolitischen Debatte der relevanten Fälle ist praktisch immer eine grosse Nähe zwischen Generalstaatsanwalt und jeweiliger Regierung festzustellen. Die jeweilige politische Opposition wirft denn auch regelmässig der Regierung vor, sie würde über den Generalstaatsanwalt die Staatsanwaltschaft manipulieren.
Oberster Gerichtshof: Die Mitglieder des Tribunal Supremo – es betreibt die Strafverfahren gegen die katalanischen Separatisten – werden vom Consejo General del Poder Judicial bestellt. Dieses Selbstverwaltungsorgan der Gerichte ist nach italienischem Vorbild konzipiert. Seine Mitglieder sind Richter und andere Juristen, die von den beiden Kammern des Parlaments mit einer Mehrheit von drei Fünfteln ernannt werden. Dazu muss man wissen: Parlamentarier und Regierungsmitglieder unterliegen laut der Verfassung der Sondergerichtsbarkeit der Sala de lo Penal, der Sektion für Strafsachen am Obersten Gerichtshof. Da die beiden grössten Parteien – die Konservativen und die Sozialisten – dank des stark korrigierten Proporzwahlrechts überproportional im Parlament vertreten sind, ist klar, dass sie ein besonderes Augenmerk auf die Besetzung des Consejo General del Poder richten. Denn dieser wählt ja ihre eigenen Richter.
Verfassungsgericht: Das Tribunal Constitucional spielte in der Übergangszeit von der Diktatur zum Verfassungsstaat bei vielen grundlegenden Konflikten eine wichtige vermittelnde Rolle. Erst mit seiner Rechtsprechung hat es die Verfassung in die aus der Diktatur stammende Rechtsordnung getragen. Im aktuellen Katalonienkonflikt war es das Verfassungsgericht, das die entscheidenden Nichtigkeitserklärungen für verschiedene Rechtsakte aussprach, die vom katalanischen Parlament und der katalanischen Regierung erlassen worden waren. Die Mitglieder des Tribunal Constitucional werden von den beiden Kammern des Parlaments, dem Selbstverwaltungsorgan der Richter und der Regierung ernannt.
Auch beim Verfassungsgericht hat ein schleichender Prozess der Kontrolle durch die beiden bisherigen Regierungsparteien die Bedeutung des Organs erodiert. Wie ein Richter in den verschiedenen Fragen entscheiden wird, weiss man in Spanien zum voraus – jeder gehört zu einem der zwei Blöcke, je nachdem, ob er von den Konservativen oder den Sozialisten ernannt wurde.
König: Die Verfassung schreibt ihm blumig eine «Vermittlungsfunktion» zu. Formell ist er der Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Nach dem katalanischen Referendum meldete sich der König in einer dramatischen Fernsehansprache zu Wort, in der er in harten Worten die Linie der spanischen Regierung vertrat, ohne mit einem einzigen Wort das harte Eingreifen der spanischen Polizei zu bedauern. Diese dezidierte Parteinahme hat jede Möglichkeit zerschlagen, dass er vermittelnd als Staatschef aller eingreifen könnte.
Spanien ist von der Dikatur geprägt
Urteilt die Justiz in Spanien politisch? Ist ein Strafverfahren das richtige Mittel, um einen politischen Konflikt anzugehen? Das Tribunal Constitucional kann aus der Perspektive der spanischen Verfassung gar nichts anderes tun, als festzustellen, dass die Bestrebungen der Separatisten – insbesondere eine verbindliche Volksbefragung – nicht zulässig sind. Aus katalanischer Perspektive sind die urteilenden Richter einseitig von zentralspanischen Organen ernannt. Deshalb ist für sie das Verdikt nicht akzeptabel.
Von einer allgemein politischen Justiz in Spanien kann nicht gesprochen werden, aber von einer in diesem Fall politisierten Justiz. Spanien ist in Westeuropa einmalig: Jahrzehnte zuerst offen faschistischer, dann «nur» nationalistisch-katholischer Diktatur haben das Land geprägt und insbesondere ein vertikales Machtverständnis hervorgebracht – im Gegensatz etwa zur eidgenössischen Praxis, Macht aufzuteilen, zu kollegialisieren, zu dezentralisieren. Vielleicht wird die spanische Gesellschaft im laufenden Prozess ihre politische Struktur erneuern.