Verbrechen interessieren alle. Vielleicht muss man dies präzisieren: Nicht die langweiligen kleinen Gaunereien des Alltags, die wir uns alle zuschulden kommen lassen, sondern die grossen spektakulären Sachen wie Taten mit hohem Gewinn, Heimtücke, List, Grausamkeit. Noch genauer: Das Geschehen muss eingängig sein, sich gut nachvollziehen und drastisch darstellen lassen. Komplizierte Vorgänge des Börsentermingeschäfts oder der Kursmanipulation entgehen der Aufmerksamkeit des Publikums, weil sie schlicht nicht verstanden werden. So trifft unsere Aufmerksamkeit im Wesentlichen die klassischen Themen des Strafrechts, die mit brachialer personaler Gewalt verbunden sind.
Diese Themen werden in einer Art Erzählung wahrgenommen, die den Täter, seine Tat und seine Motivation in den Vordergrund rückt und mit Nebenschauplätzen des Opfers, der Verfolgung und der Schockstarre der Bevölkerung garniert. Durch Aufbereitung in den Medien verfestigt sich die Erzählung so, dass der Erzählcharakter in den Hintergrund tritt und das Geschehen rein tatsächlich als «Fall» sich in das kollektive Gedächtnis einbrennt. Der Fall muss emotionsgeladen, drastisch erregend sein. Im Zentrum steht ein typischerweise männlicher fremder Täter, der nicht nachvollziehbar eine bestialische Tat verübt hat. Die Schweiz wurde durch solche «Fälle» wie Morde des Amokläufers von Zug, der Sonnentempler, durch Mordserien an Kindern und Jugendlichen aufgerüttelt, was zu drastischen Verschärfungen der Gesetze führte. Letzthin bewegte die «Bestie von Rupperswil» (Blick) die Gemüter. Dabei wird kaum nach der Wirksamkeit der getroffenen Massnahmen gefragt. Die spektakulären Fälle verlangen gleichsam wie von selbst nach härteren Reaktionen.
Die populäre Fokussierung auf Tat, Täter und Motiv ist natürlich verkürzt. Sie spart den Erzählcharakter der Geschichte aus. Wer hat aus welchen Gründen wie auf die Erzählung Einfluss genommen?
Ein Strafrechtsfall geschieht nicht, er wird gemacht. Er ist das Produkt der Verarbeitung eines Geschehnisses, das, gefiltert auf Wesentliches, nach bestimmten Kriterien sortiert und mit einer bestimmten Akzentuierung ins Bewusstsein gehoben wird. Die Art der Verarbeitung prägt das Ergebnis. Dieses wird in die Form einer Erzählung nach vorgegebenen allgemeinen Stilelementen gekleidet. Stilelemente sind typischerweise ein individueller Täter, ein nach dem Gesetz strafbarer Sachverhalt, Tatfolgen und eine ungefähre Straferwartung.
Strafrecht inszeniert diese Erzählung. Es rahmt sie in einem Rollenspiel zu einer aufbereiteten Geschichte mit standardisierten, wiederkehrenden Elementen. Zunächst wird die Geschichte stark verkürzt und auf Wesentliches unter einem speziellen Blickwinkel begrenzt. Der Blickwinkel ist die Möglichkeit der forensischen Aufarbeitung. Ein womöglich zeitlich weit zurückliegendes komplexes Handlungsgeschehen, das von unterschiedlichen Akteuren unterschiedlich erlebt und mit unterschiedlichem Erinnerungsvermögen ganz verschieden berichtet wird, muss so verdichtet werden, dass eine Überprüfung in einem geschlossenen Raum (dem Gerichtssaal) in kurzer Zeit durch andere möglich wird, die gar nicht dabei waren. Es geht dabei nicht um die Wahrheit, sondern um die sogenannte forensische Wahrheit; also das, was man unter den gegebenen beschränkten Möglichkeiten an Wahrheit herausbekommen kann. Als Prozedur der Wahrheitsfindung dient ein Rollenspiel, das die prozessualen Rollen des Beschuldigten, der Verteidigung, der Staatsanwaltschaft und des Gerichts bestimmten Personen zuweist und diesen in einem Gesetz (der Strafprozessordnung) standardisierte Rollenbefugnisse gibt. Dieses Rollenspiel besitzt ein festes Ritual. Es ist binär in Ja/Nein-Beurteilungen strukturiert: Recht/Unrecht, Täter/Opfer, zulässig/unzulässig, Verurteilung/Freispruch. Die beteiligten Personen verhalten sich nicht alltäglich natürlich, sondern sind in ihre Rollen eingebunden. Das Rollenspiel endet wie bei einer Tragödie mit dem oft schwierigen Urteil des Gerichts. Der Entscheidungszwang lässt keine offen bleibende Entscheidung zu, sondern zwingt auch im Zweifel zu einem eindeutigen (freisprechenden) Urteil.
Das Rollenspiel verläuft nach verschiedenen Regelarten, die ineinander greifen, sich verzahnen und verhaken. Da sind zunächst die Normen des materiellen Strafrechts, die bestimmen, was bei Strafe verboten und im Umkehrschluss erlaubt ist. Das verdichtete Tatgeschehen wird nach diesen Regeln auf seine Strafbarkeit geprüft. Die Prüfung erfolgt nach dem weiteren Regelsatz der prozessualen Normen, die als Meta- oder Anwendungsregeln ein zweites Regelsystem bilden, welches die Zulässigkeit von Vorbringen, Einwänden, Beweislastverteilung usw. enthält. Beide Regelwerke verflechten sich zu einem kulturell unterschiedlich geprägten Gemenge. Was wir im kontinentaleuropäischen Strafrecht etwa als materielle Rechtfertigungsgründe verstehen, begreift man im angelsächsischen Case Law als Vorbringen der Verteidigung («Defense»). Das stärker prozessual denkende Case Law wird im ersten Semester mit einer Vorlesung über den Strafprozess eingeleitet, während wir wie selbstverständlich mit dem Allgemeinen Teil des materiellen Rechts beginnen und erst viel später Prozessrecht behandeln. Amerikaner denken in Musterfällen und leiten daraus allgemeine Prinzipien ab, während wir nach allgemeinen Prinzipien suchen, die dann bei der Lösung von Einzelfällen helfen sollen.
Vollends verzwickt wird die Sache durch informelle Regeln, die nicht förmlich in Gesetzen oder deren Auslegung enthalten sind, sondern sich in Gerichtsgebräuchen, regionalen Gepflogenheiten, moralischen Standards, aus eingefahrener Bequemlichkeit oder Übereinstimmung ansonsten konträrer Interessen bilden. Solche informellen «Second Codes» prägen die tatsächliche Ausübung der förmlichen Befugnisse entscheidend.
Hinzu kommt ein Backlash der juristischen Förmlichkeit. Die Beteiligten sagen nicht offen, warum sie so oder anders entschieden haben, weil sie ihre Entscheidungen in juristisch untadeliger Weise begründen müssen. Der Begründungszwang führt zu einem Auseinanderfallen der authentischen Herstellung der Entscheidung und ihrer formalen Begründung gegenüber den nachprüfenden oberen Instanzen. Überprüfbar ist nur die im Nachhinein erfolgende Begründung, die Korrektheit der ursprünglichen Herstellung bleibt im Dunkeln.
Mit diesem Repertoire von Optionen werden Lebenssachverhalte schrittweise zu juristischen «Fällen» verdichtet. Der «Fall» ist nicht natürlich vorgegeben, er ist vielmehr ein Produkt seiner forensischen Herstellung und spiegelt seine Herstellungsbedingungen. Bedeutsam ist nur, was für die Entscheidungsfindung wichtig ist. Geschehnisse werden auf Bedeutsamkeit oder Nebensächlichkeit, Glaubhaftigkeit oder Unglaubhaftigkeit sortiert, mit dem gelben Textmarker als Ereignisse hervorgehoben und zu plausiblen Handlungssentenzen versponnen.
Wegen des Ineinandergreifens verschiedenartiger Einflüsse wird das strafprozessuale Rollenspiel trotz seines förmlich strengen Aufbaus in der Anwendung flexibel. Die im Gesetz scheinbar so eindeutig formulierten Regeln werden in ihrer Anwendung wachsweich formbar. Das prozessuale Rollenspiel «menschelt» mit Voreingenommenheit, hintergründigen Interessen, Kapazitätsgrenzen und Irrtumsanfälligkeit. Das nicht völlig verbannbare allzu Menschliche zeichnet vermeintlich feste Regeln bei ihrer Anwendung weich und macht sie unscharf.
Der Strafrechtsfall schlummert im beurteilten Geschehen ebenso wenig wie das Haus im Beton, aus dem es gebaut wird. Gerade dies macht für Justizpraktiker den Reiz des prozessualen Kampfes um die forensisch zu bildende Wahrheit aus. Selbstbewusstsein, Durchsetzungsvermögen, Überzeugungskraft und Freude an der Auseinandersetzung gehören nicht umsonst zu den Tugenden von Strafverteidigern und Staatsanwälten. Wenn es bei der forensischen Tatsachenfeststellung nur darum ginge, den juristischen «Fall» möglichst objektiv aus dem Lebenssachverhalt heraus zu destillieren, bräuchte es die justizinterne Gewaltentrennung, Regeln der Fairness und Waffengleichheit zwischen Anklage und Verteidigung nicht. Der von Herrschaftswahn besessene Grossinquisitor Dostojewskis würde genügen.