Recht und Rechtsausbildung befinden sich im Umbruch. Davor galt in Europa für Jahrhunderte ein einheitliches, gemeinsames Recht: das ius commune. Mit der Entstehung der Nationalstaaten zerbrach die rechtliche Einheit Europas, und die einzelnen Staaten begannen, ihr eigenes Recht zu kodifizieren: Verfassungsrecht, Zivilrecht, Strafrecht usw. Nationales Denken prägte fortan die Strukturen von Recht und Rechtswissenschaft.
Das Leben der Menschen nimmt nun aber zusehends globalisierte Züge an, und die anderen Wissenschaften haben ohnehin einen universalen Charakter. Recht und Rechtsausbildung müssen nunmehr - wenn auch in veränderter Form - den globalen Charakter zurückgewinnen, den sie einmal hatten.
Für die folgenden Gedanken über Perspektiven einer langfristigen Reform der Rechtsausbildung (siehe auch ZSR 2012, Heft 4, S. 343 ff.), die ich teilweise zusammen mit Roman Bretschger gemacht habe, greife ich auf Erfahrungen zurück, die ich an angelsächsischen Universitäten gemacht habe. Denn vor allem an einigen Eliteuniversitäten der USA findet heute eine stark inspirierende und auch praktisch relevante Rechtserziehung statt.
Konzentration auf Grundelemente und Methodik. Wie heute vorwiegend bei den Wirtschaftsjuristen, wird es mehr und mehr zur spezifischen Kompetenz eines jeden Juristen gehören, mit verschiedenen Rechtssystemen, Rechtsordnungen und Rechtsinstituten umzugehen. Kenntnisse des jeweiligen nationalen «black letter law» können immer weniger im Zentrum der juristischen Bildung und Ausbildung stehen. Die Fähigkeit von Wissenschaftern und Praktikern, in offenen Systemen des Rechts zu denken und sich darin zu bewegen, wird immer wichtiger. «Learn law rather than rules, and skills rather than answers», riet ein Professor der Harvard Law School den Studenten zu Recht.
Das besagt nicht, dass Fachkenntnisse im üblichen Sinn, also das handwerkliche Können, nicht nach wie vor den guten Juristen ausmachen. Aber in einer immer komplexeren, weiteren und auch schnelllebigeren Welt muss sich die wissenschaftliche und berufliche Ausbildung der Juristen wieder vermehrt auf die Grundelemente und die Methoden des Rechts konzentrieren. Ich nenne im Folgenden einige Gesichtspunkte, um zu konkretisieren, was ich damit meine.
- Das Rechtsstudium soll sich auf einige Kernfächer konzentrieren, darüber hinaus aber nicht enzyklopädisch, sondern vielmehr exemplarisch sein.
- Wichtiger als Kenntnisse von Gesetz und Praxis ist das «legal reasoning»: die Methodik des Argumentierens, der Interpretation und des gedanklichen Experimentierens. Dazu dienen Sammlungen von «cases and materials» besser als Lehrbücher, die den sogenannten Stoff «abpacken» und «verkaufen». Diese standardisierten Werke leiten oft mehr zum Memorieren statt zum selbständigen, kritischen Denken an.
- Vielleicht ist für keinen anderen Berufsstand der kompetente Umgang mit der Sprache so zentral wie für die Juristen. Auf Korrektheit, Klarheit und Überzeugungskraft von Stil und Sprache ist grösstes Gewicht zu legen.
- Kontexte des Rechts, das heisst der vermehrte Einbezug anderer Disziplinen, sind vermehrt zu pflegen.
- Aufgaben des «legal engineering», das heisst der imaginativen Gestaltung und Fortbildung des Rechts sollen vermehrt thematisiert und geübt werden.
- Und es sei an die Erkenntnis des grossen amerikanischen Juristen Oliver Wendell Holmes erinnert, der festhielt: «The best part of our education is moral.»
Transnationale Dimension. Dem strukturellen Wandel des Rechts entspricht das Postulat, dass dessen transnationale Dimension in den Curricula vermehrt zum Ausdruck kommt. Hiermit meine ich einmal die Rechtsvergleichung. Denn ist es nicht so, dass wer nur sein eigenes Recht kennt, auch dieses nicht richtig kennt? Gemeint ist hier der Blick auf andere Rechtssysteme wie auch auf einzelne Rechtsinstitute.
Sodann gehört auch die Grundlage des Völkerrechts, oder zumindest einzelne für den Praktiker besonders relevante Teile, in die Grundausbildung der Juristen. Denn das Völkerrecht durchdringt in zunehmendem Masse das nationale Recht. Und so sollte das internationale Recht seinerseits durch Prinzipien, die im Rahmen des Rechtsstaates entwickelt wurden, geprägt werden. Zum Komplex des «transnationalen Rechts» gehören aber auch etwa das internationale Privatrecht im formellen und materiellen Sinn, das internationale Wirtschaftsrecht oder das internationale Strafrecht.
Gemeint ist hier nicht, dass Einzeldisziplinen mit ihrem besonderen sprachlichen Jargon, ihren Sonderinstituten und neuen Zeitschriften eingerichtet werden sollen. Vielmehr müssten pragmatisch und disziplinübergreifend transnationale «clusters» geschaffen werden. Darin sollten Akteure, rechtliche und nicht-rechtliche Quellen, Systeme des «Dispute Settlement» einschliesslich etwa der Arbitrage im national-internationalen Kontext erfasst und entsprechende Denkformen eingeübt werden.
Man könnte sich auch, am Anfang des Studiums, einen wöchigen oder mehrwöchigen Einführungskurs in transnationales Recht vorstellen, um so den Studenten vom ersten Tag des Studiums an zu signalisieren, dass das Recht zwar auch, aber nicht nur eine örtliche Angelegenheit ist. Denn ist es nicht gerade eine spezifische Herausforderung unserer Zeit, einen immer komplizierter werdenden Pluralismus von Normen und Normsystemen zu gestalten und zu ordnen?
Neue Schule für die Rechtstheorie schaffen. In einem gross angelegten Werk der Unesco über die «History of Humanity» wurden bezüglich der Rechtstheorie vier Schulen unterschieden: 1) Positivismus, 2) Naturrecht, 3) soziologische Methode und 4) neuere Denkrichtungen wie «critical legal studies», «feminism» und weitere. Ich würde an vierter Stelle eher das «transnationale», vernetzte Denken setzen. Dabei handelt es sich hier natürlich nicht um eine bereits abschliessend definierte oder definierbare Rechtsfigur.
Sicher ist aber, dass es zur Ausgestaltung einer solchen «Disziplin» der «boundary crossers» im substanziellen und geografischen Sinn bedarf. Es braucht die Fähigkeit «to construct boxes and to think outside them», die der «intuition», die oft wichtiger ist als die «tuition». Hat nicht Lelan Stanford, der Gründer der Universität Stanford, seinerzeit gesagt, dass nur technisch ausgebildete Studenten nicht die erfolgreichsten Berufsleute würden, denn: «The imagination needs to be cultivated and developed to assure success in life.»
Daniel Thürer, Dr. iur., LL.M. (Cambridge), Prof. em. für Völkerrecht, Europarecht, öffentliches Recht und Verfassungsvergleichung an der Universität Zürich