plädoyer: Von den europäischen Staaten haben einzig Weissrussland und der Vatikan die Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht ratifiziert. Läuft die Schweiz bei Annahme der Selbstbestimmungsinitiative Gefahr, in schlechte Gesellschaft zu geraten? Oder ändert sich an der Anwendbarkeit der EMRK in der Schweiz nichts?
Hans-Ueli Vogt: Die EMRK oder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) war nicht der Auslöser für die Selbstbestimmungsinitiative. Es war vielmehr das Bundesgerichtsurteil BGE 139 I 16. Das Bundesgericht hatte die Frage der Ausschaffung eines kriminellen Ausländers zu beurteilen. Es beurteilte diese Frage nach dem schweizerischen Ausländergesetz, berücksichtigte dabei auch die EMRK und kam zum Schluss, die Person dürfe nicht ausgeschafft werden. Das ist korrekt so. Die EMRK ist geltendes Schweizer Recht. Aber nachher machten die Bundesrichter etwas, was sie nicht hätten tun sollen. Sie bemerkten ohne jeglichen Anlass an die Adresse des Parlaments: Wenn ihr die Ausschaffungsinitiative umsetzt, werdet ihr euch auch an die Rechtsprechung des EGMR zu halten haben. Übertragen auf die Hierarchie der Normen heisst das: Das Parlament muss sich bei der Umsetzung dieses Verfassungsauftrags auch an das nicht zwingende Völkerrecht halten.
plädoyer: Nochmals: Was wären die Konsequenzen für die Anwendbarkeit der EMRK in der Schweiz bei einer Annahme der Initiative?
Vogt: Im Einzelfall dürfte die EMRK nicht mehr angewandt werden, wenn ihre Auslegung durch den EGMR der Schweizer Verfassung widerspricht. Beispiel: Will jemand in der Schweiz ein Minarett bauen, darf er das laut Verfassung nicht. Nach der Annahme der Initiative auch dann nicht, wenn der EGMR ihm das erlauben würde.
plädoyer: Müsste die Schweiz die EMRK kündigen, weil sie der Verfassung widerspricht?
Vogt: Nein. Wenn es einen Widerspruch zu unserer Verfassung gäbe, müsste zuerst eine Verhältnismässigkeitsprüfung gemacht werden. Das ist mit dem Wort «nötigenfalls» beim vorgeschlagenen Artikel 56a Absatz 2 BV gemeint. Ein Vertrag soll also nur dann gekündigt werden, wenn dies verhältnismässig wäre, um den Widerspruch zu beseitigen. Die Antwort auf diese Frage fällt bei der EMRK wahrscheinlich so deutlich aus wie bei keinem anderen Staatsvertrag. Denn weder die Befürworter noch die Gegner der Initiative, weder die Schweiz noch der Europarat würden eine Kündigung der EMRK verlangen, einzig weil die Schweiz ein Urteil nicht umsetzen will oder kann.
Bernhard Ehrenzeller: Das Wort «nötigenfalls» als Auftrag zur Abwägung im Sinne der Verhältnismässigkeit zu interpretieren, ist mir neu. Ich höre das zum ersten Mal. Der von den Initianten vorgeschlagene Artikel 190 BV sieht vor, dass völkerrechtliche Verträge, deren Genehmigungsbeschluss dem Referendum unterstand, für das Bundesgericht und die Behörden massgebend sind. Die Ratifizierung der EMRK unterstand damals nicht dem Referendum. Doch inzwischen hat die Schweiz mehrere Zusatzprotokolle angenommen, die dem Referendum unterstanden. Etwa das 14. Zusatzprotokoll zur Organisation des Gerichtshofes ins Strassburg. Das Referendum wurde von niemandem ergriffen. Wäre der Stimmbürger mit der neuen Gerichtsorganisation nicht einverstanden gewesen, hätte er also den EGMR und indirekt die EMRK nicht legitimieren wollen, hätte er dies per Referendum entscheiden können. Deshalb würde die Schweiz bei einer Annahme der Initiative die EMRK als Vertrag im Sinne von Artikel 190 BV weiterhin anwenden.
plädoyer: Die Initiative will das Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht klären. Erreicht sie ihr Ziel?
Ehrenzeller: Nein. Es gäbe viel mehr Auslegungsfragen als heute. Beispiel Minarettverbot: Der vorgeschlagene Artikel 56 BV sagt, bei einem Widerspruch mit der Verfassung – den hätten wir hier – sorgen Bund und Kantone für eine Anpassung der völkerrechtlichen Verpflichtungen. Es wird ein aktives Handeln verlangt. Die Schweiz wäre verpflichtet, Verhandlungen mit dem Europarat aufzunehmen, um Vorbehalte für die Schweiz – etwa in Bezug auf die Religionsfreiheit – zu verankern. Führen die Verhandlungen nicht zum Ziel, muss die Schweiz «nötigenfalls» den Vertrag kündigen. Die Initiative lässt keinen Spielraum für verhältnismässiges Handeln. Das Wort «nötigenfalls» wurde bewusst in den Text geschrieben, um die Verantwortung dafür offen zu lassen. Wer müsste handeln: der Bundesrat, das Parlament, das Volk? Und was geschieht, wenn trotz Widerspruch «nötigenfalls» nicht gekündigt wird? Gilt dann der Vorrang der Verfassung oder des Völkerrechts?
Vogt: Es ist im höchsten Masse unredlich, wenn man als Rechtsprofessor argumentiert, die Initiative sage nicht, wer für die Kündigung der Verträge zuständig ist. Denn es besteht in der Schweiz schon heute eine gewisse Unsicherheit darüber, wer für die Kündigung von Staatsverträgen zuständig ist. Aus diesem Grund ist im Parlament ein Vorstoss hängig, der genau diese Frage klären will.
Ehrenzeller: Aber dann sagen Sie doch, wer zuständig sein soll.
Vogt: Nein, das wäre systemwidrig. Das ist eine allgemeine Frage der Zuständigkeit im Verhältnis zwischen Bundesrat und Bundesversammlung. Die Initiative will der Lösung dieser Frage nicht vorgreifen. Eine Initiative muss nicht jede sich allenfalls auch noch stellende Frage beantworten.
Ehrenzeller: Das ist nicht irgendeine Frage! Das oberste Ziel der Initiative ist angeblich, Klarheit im Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht zu schaffen. In der entscheidenden Frage eines Widerspruchs wüssten wir aber nicht sicher, welches Staatsorgan handeln müsste.
plädoyer: Würde sich an den Grundrechten der Schweizer Bürger ohne Anwendung der EMRK etwas ändern?
Vogt: Wir haben in der Schweiz den gleichen Standard wie die EMRK, was die Menschenrechte angeht. Aber mit dem EGMR haben wir in der Schweiz nun ein Verfassungsgericht, und zwar eines, das über unserer Verfassung steht, weil das Bundesgericht es so will. Ein Verfassungsgericht, das über der Verfassung steht, ist weltweit einzigartig. Das lehne ich ab.
Ehrenzeller: Es ist genau der Vorteil der EMRK, dass der EGMR für die gerichtliche Beurteilung der Garantien zuständig ist. Der Uno-Menschenrechtspakt enthält in etwa identische Garantien wie die EMRK, aber ohne Möglichkeit der verbindlichen gerichtlichen Feststellung von Garantieverletzungen. Uno-Pakte kennen nur ein Berichts- und Monitoringsystem, was den Mitgliedstaaten weit grösseren Umsetzungsspielraum belässt. Deshalb haben die Entscheide des EGMR erheblich grössere Wirkungskraft. Hätten wir die EMRK und den EGMR nicht, wären wir in vielen Bereichen des Menschenrechtsschutzes nicht dort, wo wir heute stehen, etwa bei der Zivilprozessordnung.
Vogt: Die Schweizer Gerichte hätten die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR auch berücksichtigt, wenn wir nicht dabei wären. Ich habe keine Zweifel, dass das Bundesgericht auch dann diese Entwicklungen im Ausland bei der Rechtsfindung berücksichtigen würde.
Ehrenzeller: Ist das schlecht?
Vogt: Nicht per se, aber man muss das kritisch anschauen. Ich bin nicht damit einverstanden, dass Strassburg Entscheide unter dem Titel der Menschenrechte fällt, die nichts mit dem Kern des Menschenrechtsschutzes zu tun haben, zugleich aber unsere demokratischen Rechte immer mehr einschränken. So entscheidet der EGMR etwa über Art und Weise der Durchführung des Sexualkundeunterrichts, über den Umgang mit streunenden Hunden oder über die Abfallentsorgung. Das sind keine Kernprobleme des Menschenrechtsschutzes! Das sind Fragen, die wir in der Schweiz selber entscheiden können.
Ehrenzeller: Es ist ein enormer Fortschritt, dass den Bürgerinnen und Bürgern in Europa wenigstens ein gemeinsamer Minimalstandard an Werten und Grundrechten garantiert wird. Und die Urteile des Gerichtshofs in Strassburg zum Burkaverbot in Frankreich oder zu den Kruzifixen in Italien zeigen: Der EGMR hält sich zurück, wenn Wertentscheide und unterschiedliche Traditionen von Mitgliedstaaten zur Debatte stehen. Grundsätzlich hatten die Urteile des Gerichtshofs – beispielsweise zur Rechtsweggarantie, zum wirksamen Rechtsschutz oder zur Achtung des Privat- und Familienlebens – enorme Auswirkungen auf das Denken und die Rechtsanwendung in der Schweiz.
plädoyer: Würde die Annahme der Initiative die Rechtssicherheit vergrössern oder reduzieren?
Ehrenzeller: Die Rechtssicherheit nähme sicher ab, rechtlich schon wegen der offenen Auslegungsfragen und politisch wegen der Unsicherheit betreffend Vertragstreue der Schweiz. Zudem würde der für die Rechtsstreitvermeidung hilfreiche und anerkannte Grundsatz der völkerrechtskonformen Auslegung des Landesrechts in Frage gestellt. Bei der Diskussion um die heute geltende Verfassung von 1999 fragte man sich, ob das Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht ausdrücklich geregelt werden sollte. Ähnlich wie geregelt ist, dass Bundesrecht kantonalem Recht vorgeht. In diesen Diskussionen entfachte sich ein intensiver Streit zwischen dem Völkerrechtsdienst des EDA und dem Bundesamt für Justiz. Die einen waren für den ausdrücklichen Vorrang des Völkerrechts – die anderen dagegen. Am Ende wurde beschlossen, es bei der Formel «Bund und Kantone beachten das Völkerrecht» zu belassen (Artikel 5 Absatz 4 BV). Das sichert pragmatisch Spielraum. Im Grundsatz gilt der Vorrang des Völkerrechts, aber es gibt Ausnahmen – etwa die Schubert-Praxis. Das ist die vom Bundesgericht 1973 eingeführte Ausnahme vom Vorrang des Völkerrechts gegenüber den Schweizer Bundesgesetzen. Im Einzelfall kann das Parlament sagen, wir nehmen aus übergeordneten Gründen eine Vertragsverletzung in Kauf. Mit der Kritik von Herrn Vogt am Entscheid BGE 139 I 16 und BGE 142 II 35 bin ich aber einverstanden.
Vogt: Früher hatten wir Rechtssicherheit. Dann hat eine Abteilung des Bundesgerichts die Ordnung auf den Kopf gestellt. Die Initiative will zurückgehen zum Vorrang der Verfassung gegenüber nicht zwingendem Völkerrecht. Artikel 5 Absatz 4 BV ist sowohl laut Botschaft zur Bundesverfassung als auch gemäss den Kommentierungen keine Rangregel. Im Bericht des Bundesrates zum Verhältnis von Landesrecht und Völkerrecht von 2010 heisst es auf Seite 2308, sie würden «keine eigentliche Konfliktregel» darstellen und «daraus kann nicht abgeleitet werden, dass das Völkerrecht stets Vorrang geniesse.» Im gleichen Sinn sagt der Bundesrat in der Botschaft zur Masseneinwanderungsinitiative mehrfach: Wird die Initiative angenommen, darf das Personenfreizügigkeitsabkommen nach Ablauf von drei Jahren nicht mehr angewandt werden. Und zweitens muss das Abkommen mit grösster Wahrscheinlichkeit gekündigt werden. Hinter beiden Aussagen – dem Nichtanwendungsgebot und der Kündigungspflicht – steht der Vorrang der Verfassung. Kaum war die Initiative angenommen, galt das Gegenteil! Die Mehrheit der Staatsrechtsprofessoren ist heute der Meinung, dass Völkerrecht dem Landesrecht vorgeht. Jahrzehntelang wurde an den Schweizer Universitäten mit einem Handbuch von Ulrich Häfelin und Walter Haller gelehrt. Dort stand: «Die Bundesverfassung, einschliesslich die ungeschriebenen Freiheitsrechte, steht in der Normenhierarchie auf einer höheren Stufe als die Staatsverträge. Ihr gebührt der Vorrang gegenüber den Staatsverträgen.» Dieser Satz ist etwa gleich wie der von der Initiative vorgeschlagene Artikel 5 Absatz 4.
Ehrenzeller: Walther Burckhardt schrieb 1914: «Auch die Bundesversammlung ist verpflichtet, sich an die vom Bundesrat getroffenen Abmachungen zu halten.» Das heisst: «Die Erlasse sind verbindlich, auch wenn ihr Inhalt mit der Bundesverfassung im Widerspruch stehen sollte.» Der Staatsrechtler Fritz Fleiner wiederholt diesen Gedanken. Dieser Grundsatz des Vorranges des Völkerrechts hat Tradition im Schweizer Staatsrecht. Für die Umpolung eines solch zentralen Grundsatzes der Verfassung ist die Partialrevision der falsche Weg: Die Initianten müssten eine Totalrevision anstreben. Man kann nicht irgendwelche Bestimmungen in die Verfassung hineinsetzen und dann annehmen, diese gingen jetzt allen anderen vor. Das Willkürverbot oder das Diskriminierungsverbot etwa gilt nach Annahme der Initiative weiter. Will man so grundlegende Bestimmungen nicht mehr anwenden, muss man sie alle aus der Verfassung streichen. Und soweit man mit anderen Bestimmungen, die immer noch in der Verfassung stehen und gültig sind, einen Ausweg finden kann, hat der Gesetzgeber einen Spielraum. Das gegenteilige Beispiel ist die Masseneinwanderungsinitiative. Artikel 121a BV lässt keinen Spielraum zu, weil er Kontingente und Höchstzahlen vorschreibt. Eine Konkordanz mit den übrigen Bestimmungen der Verfassung ist praktisch nicht möglich.
plädoyer: In der Schweiz sind Bundesgesetze auch dann massgebend, wenn sie gegen die Verfassung verstossen (Artikel 190 BV). Was gilt, wenn die Initiative angenommen wird?
Vogt: Die Initiative ändert für die rechtsanwendenden Behörden nichts daran, dass sie die gemäss Artikel 190 BV massgebenden Erlasse anwenden müssen, auch wenn sie der Verfassung widersprechen. Die Initiative richtet sich in erster Linie an den Gesetzgeber. Bei einer Annahme der Initiative müsste das Parlament hingehen und sagen: Von jetzt an müssen wir uns wieder an die Verfassung halten! Ein Staatsvertrag wäre kein Argument mehr, sich nicht an die Verfassung halten zu müssen. Es gäbe endlich Klarheit.
Ehrenzeller: Der Gesetzgeber ist auch heute an die ganze Verfassung gebunden. Ihre Initiative will nun den Vorrang der Verfassung gegenüber allen völkerrechtlichen Verpflichtungen sichern (Artikel 5 Absatz 4), andererseits schafft sie bei der Rechtsanwendung unterschiedlich verbindliche Kategorien von Völkerrecht (Artikel 190). Ist das Klarheit?
Vogt: Diese Fragen stellen sich im Verhältnis zwischen Gesetzen und Verordnungen gleich. Eine Verordnungsbestimmung ist – auch wenn sie von der Sache her Wichtiges regelt – gemäss Artikel 190 BV nicht massgebend, es sei denn, sie lasse sich zwingend auf ein Bundesgesetz zurückführen. Die Verfassung sagt, was in ein Gesetz gehört und was in eine Verordnung. An diese Unterscheidung knüpft Artikel 190 an.
plädoyer: Die Schweiz hat mehr als 4000 Staatsverträge abgeschlossen. Wäre sie international noch verlässlich, wenn andere Staaten jederzeit mit einem Ausstieg der Schweiz rechnen müssen?
Vogt: In der Schweiz schlummern nicht Hunderte von verfassungswidrigen Verträgen! Die Gegner der Initiative sagten im Parlament, es gebe rund 600 solcher Verträge. Sie konnten nicht einen einzigen nennen, der gegen die Verfassung verstösst. Weder der Bundesrat noch das Parlament dürfen Verträge abschliessen, die der Verfassung widersprechen. Darum kann es gar nicht sein, dass plötzlich Verträge in Frage gestellt werden.
Ehrenzeller: In der Parlamentsdebatte liessen Sie sich zur Aussage hinreissen, das Personenfreizügigkeitsabkommen sei der einzige Vertrag, welcher der Verfassung widerspreche. Das ist falsch. Die Schweiz hat auch ein Rahmenabkommen mit Liechtenstein, das Personenfreizügigkeit vorsieht. Auch hier liegt also ein Widerspruch zur Verfassung vor. Desgleichen beim Efta-Abkommen. Es gibt eine ganze Serie von Verträgen, die potenziell Freizügigkeitsklauseln enthalten, viele Freihandelsabkommen – etwa das Abkommen mit China. Oder zahlreiche Investitionsabkommen, die bei Entschädigungsfragen bei Enteignungen der Verfassung widersprechen. Würden wir überall die Verfassung zu 100 Prozent umsetzen, gäbe es bei einigen internationalen Verträgen ein Problem.
plädoyer: Kritiker wie Ex-Bundesrichter Niccolò Raselli sagen, die Initiative beschneide nicht die Macht der «fremden Richter», sondern die der eigenen Justiz. Steht hinter der Initiative ein Misstrauen gegenüber den Schweizer Richterinnen und Richtern?
Vogt: Die Initiative kritisiert natürlich auch das Bundesgericht, konkret die BGE 139 I 16. Und sie kritisiert, wie Gerichte unter dem Titel der Anwendung von Menschenrechten immer häufiger politische Entscheide treffen. Dafür sind Gerichte nicht gemacht. Der politische Prozess ist besser geeignet, alle Stakeholder im Staat zu Wort kommen zu lassen, als ein Gerichtsverfahren. Gerichte übernehmen keine Verantwortung für finanzielle Folgen ihrer Entscheide. Die Politik hingegen muss immer auch auf die Finanzen schauen. Man muss die ausufernde Rechtsprechung von Verfassungsgerichten kritisch beurteilen. Wie beim Minarettverbot und der Religionsfreiheit geht es um eine Interessenabwägung. Die können wir selbst vornehmen. Wir haben eigene Vorstellungen, wie die Rechte der Beschuldigten aussehen sollen oder wo die Religionsfreiheit aufhört. Laut EGMR ist die EMRK ein «living instrument». Das geht nicht! Ein Vertrag ist nicht permanent veränderbar.
Ehrenzeller: Der Gerichtshof für Menschenrechte tut dasselbe, was das Bundesgericht mit den Grundrechten der Verfassung getan hat und tut: In dieser Hinsicht ist auch die Verfassung ein «living instrument». Schon vor der Revision 1999 entwickelte das Bundesgericht über den Weg der Verfassungsauslegung ungeschriebene Verfassungsrechte. Wer redete 1874 über Privatsphäre? Und wer über heutige Verfahrensrechte wie rechtliches Gehör oder das Recht auf unentgeltliche Rechtspflege? Das war doch damals kein Thema! Alle diese Rechte verdanken wir der dynamischen Rechtsprechung des Bundesgerichts.
Hans-Ueli Vogt, 49, ist Professor für Privat- und Wirtschaftsrecht an der Universität Zürich, Rechtsanwalt in Zürich und Nationalrat (SVP).
Bernhard Ehrenzeller, 64, ist Professor für Öffentliches Recht an der Universität St. Gallen und Richter am Staatsgerichtshof des Fürstentums Liechtenstein.
Die Selbstbestimmungsinitiative im Wortlaut
- Art. 5 Abs. 1 und 4 BV 1 Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht. Die Bundesverfassung ist die oberste Rechtsquelle der Schweizerischen Eidgenossenschaft.
- 4 Bund und Kantone beachten das Völkerrecht. Die Bundesverfassung steht über dem Völkerrecht und geht ihm vor, unter Vorbehalt der zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts.
- Art. 56a BV 1 Bund und Kantone gehen keine völkerrechtlichen Verpflichtungen ein, die der Bundesverfassung widersprechen.
- 2 Im Fall eines Widerspruchs sorgen sie für eine Anpassung der völkerrechtlichen Verpflichtungen an die Vorgaben der Bundesverfassung, nötigenfalls durch Kündigung der betreffenden völker-rechtlichen Verträge.
- 3 Vorbehalten bleiben die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts.
- Art. 190 BV Bundesgesetze und völkerrechtliche Verträge, deren Genehmigungsbeschluss dem Referendum unterstanden hat, sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend.
- Art. 197 Ziff. 12 12 Übergangsbestimmung zu Art. 5 Abs. 1 und 4 (Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns), Art. 56a (Völkerrechtliche Verpflichtungen) und Art. 190 (Massgebendes Recht): Mit ihrer Annahme durch Volk und Stände werden die Artikel 5 Absätze 1 und 4, 56a und 190 auf alle bestehenden und künftigen Bestimmungen der Bundesverfassung und auf alle bestehenden und künftigen völkerrechtlichen Verpflichtungen des Bundes und der Kantone anwendbar.