Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur Beschwerde der Klimaseniorinnen stiess in der Schweiz auf Unverständnis. Die Richter bejahten die Befugnis der Klimaseniorinnen zur Beschwerde gegen die unzureichende Umsetzung von Klimamassnahmen einstimmig und sahen den Schutz des Privatlebens mit 16 zu 1 Stimmen als verletzt an.
Auch bei Medien löste das Urteil einen Sturm der Entrüstung aus. Die NZZ sah sich zu journalistischen Kanonaden gegen die «anmassenden» Richter in Strassburg veranlasst, so unter Titeln wie «Absurdes Urteil gegen die Schweiz: Strassburg betreibt Klimapolitik von der Richterbank herab»,1 «Heute Aktivist, morgen Richter: Wie unparteiisch ist das Strassburger Gericht?»,2 «Hüter des Weltklimas: In Strassburg herrscht der Grössenwahnsinn».3 Ihr Visier richtete sich dabei vornehmlich auf Andreas Zünd,4 Vertreter der Schweiz in dem nach dem Ausscheiden von Russland noch 46-köpfigen Gerichtshof, der das Klima-Urteil mittrug und sich erlaubte, es auch öffentlich zu verteidigen.5
Auch der amtierende Bundesrichter Thomas Stadelmann stimmte in den Refrain des «richterlichen Aktivismus» ein und kritisierte Richterkollegen. Dies hatte eine harsche Rüge seitens der Verwaltungskommission des Bundesgerichts zur Folge.6
Die Rechtskommissionen von National- und Ständerat7 riefen dazu auf, dem Urteil keine Folge zu leisten. In diesen Chor stimmte SP-Ständerat und Rechtsprofessor Daniel Jositsch nicht nur ein, sondern tat sich als Wortführer der Rebellen wider die Autorität des EGMR und der konventionsrechtlichen Verpflichtungen hervor.8
Bundesbern kritisiert Klima-Urteil harsch
National- und Ständerat folgten den Kommissionsanträgen und hielten in einer Erklärung unter dem Titel «Effektiver Grundrechtsschutz durch internationale Gerichte statt gerichtlicher Aktivismus» «besorgt fest», dass sich der Gerichtshof durch seine Art der Vertragsauslegung dem «Vorwurf eines unzulässigen und unangemessenen gerichtlichen Aktivismus aussetzt».
In der Erklärung wird ferner an den Gerichtshof appelliert, «dem Wortlaut der Konvention und ihren historischen Entstehungsbedingungen wieder erhöhte Beachtung zu schenken» und «die demokratischen Prozesse der Vertragsstaaten zu achten».
Schliesslich wird der Bundesrat in der Erklärung unter Hinweis auf die bisherigen landesrechtlichen Bemühungen zum Klimaschutz aufgefordert, das Ministerkomitee dahingehend zu informieren, «dass die Schweiz keinen Anlass sieht, dem Urteil des Gerichtshofs vom 9. April 2024 weitere Folge zu geben, da durch die bisherigen und laufenden klimapolitischen Bestrebungen der Schweiz die menschenrechtlichen Anforderungen des Urteils erfüllt sind».9 In der Folge stellte sich auch der Bundesrat auf den Standpunkt, «dass die Schweiz die klimapolitischen Anforderungen des Urteils erfüllt».10
«Pacta sunt servanda»: Dieser eherne, dem Grundsatz von Treu und Glauben folgende Kerngedanke des Verfassungsrechts ist in Artikel 46 EMRK ebenso verankert wie in Artikel 26 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge. Letzteres stellt überdies in Artikel 27 unter dem Randtitel «Innerstaatliches Recht und Einhaltung von Verträgen» klar, dass sich keine Vertragspartei «auf ihr innerstaatliches Recht berufen kann, um die Nichterfüllung eines Vertrags zu rechtfertigen».
Rechtsstaatlichkeit und Völkerrecht verhöhnt
Diese völkerrechtlichen Normen waren im Falle des Klima-Urteils jedoch auch den juristisch geschulten Parlamentariern egal. Es scheint ihnen auch gleichgültig zu sein, dass sie mit dieser Reaktion auf ein Strassburger Urteil Rechtsstaatlichkeit und Völkerrecht verhöhnen. Die Reaktion der Politik auf das Klima-Urteil ist freilich nur das augenfälligste Beispiel einer aktuell grassierenden Missachtung des rechtsstaatlichen Fundaments und der rechtsstaatlichen Grenzen der Demokratie im liberalen Verfassungsstaat.
Die Geringschätzung eines wirksamen internationalen Menschenrechtsschutzes kam auch in der ausserordentlichen Session zur Kündigung der EMRK im September des vergangenen Jahres unverklausuliert zum Ausdruck: Der Nationalrat debattierte über den Austritt aus dem Europarat und über die Kündigung der Menschenrechtskonvention. 63 Nationalräte stimmten für die Kündigung. Vonseiten der SVP ist diese Haltung allerdings nicht neu.
Bereits im Jahr 2011 – und zwar just am Tag vor Weihnachten – hatte der damalige SVP-Nationalrat Christoph Mörgeli eine Interpellation unter dem Titel «Perversion der Menschenrechte durch den Europäischen Gerichtshof» eingereicht und darin behauptet: «Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist durch die Europäische Menschenrechtskonvention nicht mehr gedeckt und missachtet zunehmend die Gesetzgebungshoheit der Schweiz. Es ist Pflicht des Bundesrats, darauf zu reagieren und Strassburg endlich in die Schranken zu weisen.»11
Inzwischen hat sich diese Auffassung bis in die Mitte und sogar bis zu Exponenten der SP erweitert. Die aktuelle Empörung über die Rechtsprechung des EGMR und Geringschätzung der EMRK offenbart einen eindrücklichen politischen Klimawandel.
Kündigung der EMRK steht als Option im Raum
Die Parlamentsdebatte in der ausserordentlichen Session zur Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention gipfelte teilweise in Schimpftiraden gegen den EGMR. Die EMRK selbst wurde vom Walliser Nationalrat Michael Graber (SVP) im Lichte der dynamischen Rechtsprechung als «völkerrechtlicher Etikettenschwindel» qualifiziert.
Derselbe Redner sprach von «Pervertierung der eigentlichen Menschenrechte und einer Verhöhnung und Verhunzung der eigentlichen Opfer», bezeichnete das Klima-Urteil als «Angriff auf unsere Demokratie und vor allem auf unser Volk» und geisselte «die aktivistischen Richter in Strassburg», die das System der Entscheidfindung «zerstörten». Er befand, unsere Demokratie beruhe «auf Mehrheiten des eigenen Volkes, nicht auf den Launen von fremden Richtern».12
”Menschenrechtsschutz in Gefahr“
In der ständerätlichen Debatte verlangte Ständerat Jakob Stark (SVP, TG), «die Notbremse zu ziehen», was die «Kündigung der EMRK» bedeute.13 In Belehrung seiner Parteikollegin Franziska Roth (SP, SO) liess indes auch Ständerat Daniel Jositsch (SP, ZH) verlauten, ausgerechnet in dieser Zeit, in welcher der Schutz der Menschenrechte besonders wichtig sei, verkenne «der EGMR in unerklärlicher Weise, was seine Rolle ist, und bringt damit das ganze System des europäischen Menschenrechtsschutzes in Gefahr».14
Ständerat Daniel Fässler (Mitte, AI) bewertete das richterliche Verständnis der EMRK als «instrument vivant» und die dynamisch-evolutive Auslegung der EMRK als «immer grösseres und unerträgliches Ärgernis».15
Dieselbe Rüge erhob Ständerat Hannes Germann (SVP, SH) in seinem Votum – wobei er gar dazu aufrief, handgreiflich zu werden: «Rütteln und schütteln wir die Richter im Strassburger Glaspalast einmal durch, damit sie sich auf das Wesentliche besinnen.»16
Die Kündigung der EMRK wurde zwar auch im Ständerat deutlich verworfen. Zustimmung fand jedoch die im Zuge derselben Debatte diskutierte Motion Caroni, die auch der Bundesrat zur Annahme empfohlen hatte. Danach wird der Bundesrat beauftragt, «zusammen mit den anderen Vertragsstaaten der EMRK, darauf hinzuwirken, dass sich der EGMR an seine Kernaufgabe erinnert. Namentlich soll der EGMR keine ideelle Verbandsbeschwerde zulassen und nicht mittels ausufernder Auslegung der Grundrechte den legitimen Ermessensspielraum der Staaten einschränken. Im Vordergrund als Massnahme steht die Aushandlung eines entsprechend verbindlichen 18. Protokolls zur EMRK».17
Abgesehen von der Frage nach der Berechtigung des Vorstosses, werden die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR in absehbarer Zukunft auf der Basis des geltenden Rechts weiterhin verbindlich bleiben.
Trotz den für hiesige Verhältnisse vollmundigen Tönen und dem aggressiven Tonfall, mit dem die Richterinnen und Richter des Gerichtshofs beschimpft wurden, ist nicht davon auszugehen, dass der EGMR die gefestigte Rechtsprechung aufgeben wird.18
Die Rolle des Richters und die Grenzen des Volksmehrs
In der Parlamentsdebatte wurde der «aktivistische Richter» wiederholt zum Feind der Demokratie stilisiert und gleichzeitig das «Volk» oder das Volksmehr verabsolutiert. Die im Vorfeld der Abstimmungen zur Durchsetzungsinitiative19 und zur Selbstbestimmungsinitiative20 geführten Debatten und der in den Abstimmungsergebnissen erwiesene Respekt gegenüber der Rolle und Funktion des Richters einerseits und des Völkerrechts andererseits21 scheinen bei den Räten keine nachhaltige Wirkung hinterlassen zu haben.
Andernfalls hätten sie sich vergegenwärtigt, dass Rechtsanwendung «nicht einfach Befolgung eines aus einer autoritativen Norm objektiv abgeleiteten Befehls ist, sondern immer auch Produkt des ‹legal reasoning›, des Abwägens von Rechtsgütern und relevanten normativen und faktischen Gesichtspunkten», wie es Staats- und Völkerrechtler Daniel Thürer schon vor langer Zeit formulierte.22 Dem entspricht die Vorstellung der EMRK als «living instrument», wonach der Richter in seinen Urteilen «sogar der allgemeinen Entwicklung der Gesellschaft vorangehen kann, sie inspirieren, Impulse geben, dies offen oder inoffiziell».23
“Im Verfassungsstaat gibt es kein Volk über dem Recht”
Derselbe Autor verwies zur Klärung von Ungewissheiten über Fragen von Recht und Gerechtigkeit «unabdingbar auf die Figur des Richters»24 und auf Urteile, die «Fixpunkte der Interaktion von Kräften der öffentlichen Meinung darstellen und damit für die Demokratie indirekt eine Stärkung bedeuten können».25
Gegen die Verabsolutierung des Volksmehrs findet sich in der rechtswissenschaftlichen und philosophischen Literatur eine Vielzahl gewichtiger Zeugnisse, welche die rechtsstaatlichen Grenzen eines Volksentscheides betonen. «Im Verfassungsstaat gibt es kein Volk über dem Recht! Demokratische Entscheide finden ihre Grenzen an Grundwerten der Verfassung»,26 gibt René Rhinow, gewichtiger Vertreter der schweizerischen Staatsrechtslehre und langjähriger FDP-Ständerat, zu bedenken.
Unübertroffen präzise ist auch eine Sentenz des über jeden linksideologischen Verdacht erhabenen Philosophen Hermann Lübbe zur begrenzten Legitimität von Mehrheitsentscheiden: «Es gibt die totalitäre Demokratie, und just die unüberbietbare Legitimität des Volkswillens ist es, die hier der Diktatur erst ihren totalitären Charakter verschafft. Das ist es, was man sich vergegenwärtigen muss, um zu erkennen, dass die liberale Demokratie der totalitären Demokratie gerade nicht durch die überbietende Inanspruchnahme des Demokratieprinzips entgegengesetzt ist, vielmehr durch rigorose Begrenzung der Reichweite des Prinzips.» 27
Die referierte Parlamentsdebatte zeigte, dass seltene Urteile aus Strassburg, die etwa die privaten Interessen Straffälliger im Einzelfall stärker gewichten als das öffentliche Interesse an ihrer Fernhaltung, besonders heftige Reaktionen hervorrufen.
Ein Urteil des Bundesgerichts vom 12. Oktober 2012, das sich an die verbindliche Rechtsprechung des EGMR anlehnte und den Vorrang von Völkerrecht gegenüber Landesrecht bekräftigte,28 veranlasste den damaligen Nationalrat Hans-Ueli Vogt (SVP, ZH), die Selbstbestimmungsinitiative zu lancieren.29
Nachdem der EGMR seither während Jahren keine Urteile gegen die Landesverweisung Straffälliger erlassen hatte, rügte es in einem entsprechenden Fall die Schweiz jüngst wieder einmal und qualifizierte die Landesverweisung als Verletzung von Artikel 8 EMRK. Die NZZ kritisierte das Urteil am 24. September 2024 unter dem Titel «Ein Herz für Drogenhändler – das jüngste Urteil aus Strassburg liefert politischen Zündstoff».
Grundsätzliche Kritik am Strassburger Gericht
Dass die Kritik am «richterlichen Aktivismus» im Zusammenhang mit dem Klima-Urteil nicht bloss als punktuelle Kritik an der Rechtsprechung des EGMR zu begreifen war, zeigte bereits die referierte Grundsatzdebatte im Zusammenhang mit dem Vorstoss zur Kündigung der EMRK.
Eine vielmehr generelle parlamentarische Geringschätzung der Strassburger Rechtsprechung und der konventionsrechtlichen Verpflichtungen, aber auch der Verfassung offenbarten die jüngsten Debatten zu Vorlagen mit Migrationskontext.
Mit der Motion 24.3511 «Kein Familiennachzug für vorläufig Aufgenommene» wollte Ständerätin Esther Friedli (SVP, SG) den Bundesrat verpflichten, vorläufig Aufgenommenen den Familiennachzug generell zu verwehren.30 Entgegen der bundesgerichtlichen Rechtsprechung und derjenigen des EGMR stellte sich die Motionärin in der Ständeratsdebatte vom 18. Dezember 2024 auf den Standpunkt, vorläufig Aufgenommene müssten unser Land wieder verlassen, denn die vorläufige Aufnahme sei «weder ein Aufenthaltsrecht noch eine Bewilligung für den Aufenthalt. Diese Personen sind verpflichtet, auszureisen. Bleiben sie hier, ist es eine Umgehung unseres Systems.»
Ständerat Daniel Fässler verwies in seinem Votum auf das Bundesgericht und das Bundesverwaltungsgericht, die für vorläufig Aufgenommene «ein faktisches Anwesenheitsrecht und damit in der Konsequenz die Anwendung von Artikel 8 EMRK bei der Prüfung von Gesuchen um Familiennachzug» anerkennen, woraus der Schluss gezogen werde, dass im Einzelfall die Pflicht besteht, eine umfassende Interessenabwägung vorzunehmen. Dieser Feststellung zum Trotz votierte er für die Annahme der Motion, die den Familiennachzug generell untersagte.
Zuvor hatte Kommissionssprecher Stefan Engler (Mitte, GR) klargestellt: «Ein grundsätzliches und schematisches Verbot, ungeachtet der Aufenthaltsdauer in der Schweiz und der persönlichen Verhältnisse, würde als unverhältnismässige Beschneidung des Rechts auf Achtung des Familienlebens nicht durchgehen. Das Bundesamt für Justiz hat dazu eine klare Meinung: Indem die mit der Motion vorgeschlagene Gesetzesänderung für alle vorläufig aufgenommenen Personen den Familiennachzug generell verbietet, würde sie das in Artikel 8 EMRK und Artikel 13 Absatz 1 der Bundesverfassung verankerte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzen.»
Engler hatte ausserdem darauf hingewiesen, dass rund 90 Prozent aller vorläufig Aufgenommenen dauerhaft in der Schweiz blieben. Und bei den bewilligten Nachzügen handle es sich zum überwiegenden Teil um Frauen und Kinder.
Angesichts von jährlich durchschnittlich 108 bewilligten Nachzügen zwischen 2020 und 2023 eigne sich das Verbot des Familiennachzugs ausserdem «schlecht als Steuerungsinstrument, um die Zuwanderung einzufrieren». Schliesslich sprach er sich auch aus humanitären Gründen gegen die Motion aus.
Weitgehende Missachtung völkerrechtlicher Pflichten
Im Ständerat wurden die Motionen mit Mehrheiten von 20 zu 18 Stimmen bei 4 Enthaltungen abgelehnt. Dass aber 18 Ständeräte trotz der erdrückenden Argumentationslage bereit waren, die Motion anzunehmen, belegt die weitreichende Missachtung verfassungs- und völkerrechtlicher Verpflichtungen. Im Nationalrat hatte die einwanderungspolitisch untaugliche, aus humanitärer Sicht inakzeptable und rechtsstaatlich unhaltbare Vorlage gar die Zustimmung einer Mehrheit gefunden.31
Ein weiteres Beispiel für das Fehlen einer verfassungs- und völkerrechtlich fundierten Problemwahrnehmung lieferte insbesondere die Ständeratsdebatte zur Parlamentarischen Initiative Barrile «Beseitigung und Verhinderung der Inländerinnen- und Inländerdiskriminierung beim Familiennachzug».32 Sie verlangte eine Anpassung des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG), um damit die Diskriminierung von Schweizerinnen und Schweizern zu beseitigen.
Eklatante gesetzgeberische Ignoranz
Schweizer müssen ihre nahen Angehörigen aus dem Ausland im Gegensatz zu EU- und Efta-Angehörigen grundsätzlich innert fünf Jahren seit der Heirat, Geburt oder Einreise nachziehen, Kinder über zwölf Jahren gar innert eines Jahres. Nach einer langwierigen Vorgeschichte33 der am 21. Juni 2019 eingereichten Initiative wurde ein revidierter Gesetzestext vom Nationalrat am 10. Juni 2024 mit 104 zu 86 Stimmen angenommen. Der Ständerat entschied dagegen am 10. September 2024 im Stimmenverhältnis von 27 zu 14, auf die Vorlage gar nicht einzutreten.34
Die Debatte legte nicht nur eine erschreckende Verfassungs- und Menschenrechtsferne offen, sondern überdies eine eklatante gesetzgeberische Ignoranz. Kein einziger Votant wies darauf hin, dass beim Familiennachzug aus Drittstaaten für Schweizer im Unterschied zu EU-Bürgern Nachzugsfristen gelten, und zwar sowohl für Kinder als auch für Ehegatten. Tatsächlich scheitern entsprechende Nachzugsgesuche regelmässig an verpassten Fristen.
Auch von der Bundesverfassung schien den Ratsherren und -damen nur Artikel 121a BV geläufig, wonach die Schweiz die Einwanderung eigenständig steuert. Niemand dachte offenbar daran, dass Parlamentarier gemäss Artikel 35 Absatz 2 BV verpflichtet sind, zur Verwirklichung der Grundrechte beizutragen.35
Kein Wort darüber, dass mit der Beseitigung der Inländerdiskriminierung beim Familiennachzug sowohl dem Diskriminierungsverbot von Artikel 8 BV als auch der Achtung des Familienlebens gemäss Artikel 13 BV Nachachtung verschafft werden soll. Von Artikel 8 EMRK (Schutz des Familienlebens) und Artikel 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) ganz zu schweigen.
Stattdessen ergingen sich die meisten Votanten in forcierten Beschwörungen einer unerwünschten Einwanderung, ohne die vom Staatssekretariat für Migration bei den Kantonen eingeholten statistischen Angaben36 und die in einem Gutachten des Bundesamts für Justiz 37 und in der Literatur 38 getroffenen Annahmen und Schätzungen, wonach keine signifikante Zunahme der Einwanderung zu erwarten ist, auch nur zu erwähnen.
Analog der Mehrheit des Ständerats beschloss inzwischen auch die Staatspolitische Kommission des Nationalrats in ihrer Sitzung vom 15. November 2024 mit knapper Mehrheit, auf den Entwurf zur Revision des AIG nicht einzutreten.39
Staatsrechtler René Rhinow mahnt zu Mitgefühl
Welchen Tiefpunkt das Debattenniveau in Migrationskontexten erreicht hat, zeigt sich, wenn man die referierten parlamentarischen Wortmeldungen mit Auffassungen anerkannter Exponenten des Liberalismus und des Staats- und Verfassungsrechts kontrastiert.
Der bereits zitierte René Rhinow etwa hat in seinem jüngst unter dem Titel «Freiheit in der Demokratie» verfassten «Plädoyer für einen menschenwürdigen Liberalismus»40 einen «mitfühlenden» Liberalismus postuliert, der an die Fraternité der Französischen Revolution anknüpft, die zur menschenwürdigen Freiheit gehöre.
Mitgefühl ist dabei als Fähigkeit zu verstehen, «sich in den Anderen hineinzuversetzen, mit Empathie und Sozialkompetenz auf sein Gegenüber zu reagieren, sich selbst nicht als individuelles Atom, sondern als soziales Wesen zu begreifen. Mitgefühl basiert auf Respekt und Toleranz.»41
Weiter liest man in Rhinows Plädoyer, «das Junktim von Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit prägt das liberale Credo».42 Und: «Ich staune, wie wenig die Verfassung genannt wird, wenn von Grundwerten gesprochen wird.» Denn Menschenwürde, Menschenrechte, rechtsstaatliche Demokratie mit Gewaltenteilung und Kollegialprinzip sowie Verhältnismässigkeit stellten liberale Grundwerte dar, auf welche die Bundesverfassung verpflichtet.43
Fragwürdiges Liberalismusverständnis
Auf derselben Argumentationslinie bewegt sich die Philosophin Elif Ozmen, die in einem langen Traktat unter dem Titel «Was ist Liberalismus?»44 daran erinnert, seit der römischen Antike bezeichne Liberalitas «eine spezifische Geisteshaltung und Denkungsart der Aufgeschlossenheit, Vorurteilsfreiheit, Grossmütigkeit und Freigiebigkeit». Sie folgert: «Schliesslich ist offen und freisinnig zu sein und sich anderen gegenüber zu geben nicht nur für den eigenen Charakter, sondern auch für das soziale Zusammenleben etwas Gutes.»45
Von einem solchen Liberalismusverständnis und entsprechender Tonalität könnte die Stimmungsmache des FDP-Präsidenten Thierry Burkart und der migrationspolitische Kurs des «Hart, aber fair» seiner Partei nicht weiter entfernt sein. In der programmatischen Schrift zur aktuellen freisinnigen Migrationspolitik liest man zum Beispiel, «der kostspielige Familiennachzug darf weiterhin nur unter strengen Bedingungen gewährt werden und insbesondere nur bei Abschluss von strikten Integrationsvereinbarungen unter Beibehalt eines konsequenten Vollzugs. Um die Überlastung der Sozialsysteme zu meiden, soll der Nachzug nur bei wirtschaftlicher Selbständigkeit und Sozialhilfeunabhängigkeit gewährt werden.»46
Rechtsanwendung mit Augenmass kein Thema
«Hart, streng, strikt, konsequent», diese einsilbige Rhetorik verschliesst sich jedem Nachdenken, wobei unerfindlich bleibt, was daran «fair» sein soll. Der begründungslos als «kostspielig» qualifizierte Familiennachzug wird zum grundsätzlich unerwünschten Phänomen und soll daher nur ausnahmsweise gewährt werden.
Der gleichzeitig postulierte «konsequente Vollzug», lässt offen, wann dies im Einzelnen greift, ist aber wohl dahingehend zu verstehen, dass bei geringsten «Integrationsdefiziten» ohne Federlesens ausgeschafft werden soll.
Rechtsanwendung mit Augenmass und unter Beachtung grundrechtlicher und völkerrechtlicher Verpflichtungen ist da kein Thema. «Mitfühlender Liberalismus» erscheint im Lichte dieser Rhetorik als reinster Kitsch. Insofern wirtschaftliche Selbständigkeit und Sozialhilfeunabhängigkeit für den Familiennachzug bereits nach geltendem Recht vorausgesetzt sind, steht deren Erwähnung ebenfalls für die forcierte, auf Abwehr gerichtete Rhetorik der «Freisinnigen».
Dass sie entsprechende Taten folgen zu lassen bereit sind, haben sie bei den Debatten um den Familiennachzug von vorläufig Aufgenommenen und diskriminierungsfreiem Nachzug der Familienangehörigen von Schweizern gezeigt und damit insofern einen «konsequenten Vollzug» der Worte demonstriert.
Zu dieser Tendenz passt, dass nach dem Willen von National- und Ständerat ukrainische Geflüchtete den Schutzstatus S nur noch erhalten sollen, wenn sie aus «besetzten oder umkämpften Gebieten» kommen – ein Entscheid, der von der Presse scharf gerügt wurde.47
Liessen sich für diese erdrückenden Belege sozialer Kälte in den Wandelhallen von Bern Rechtfertigungen finden? «Berechtigte Sorgen der Bevölkerung», «begrenzte Aufnahmekapazität», «Überfremdungsabwehr» – die in Migrationskontexten gängigen Schlagworte taugen nicht zur Rechtfertigung dieser Politik der Härte, die in Zahlen und Kosten keinerlei Stütze findet.
Nur: Wo dumpfe Gefühle herrschen, haben Fakten und Argumente einen schweren Stand. Das ist auch die traurige Lehre des letzten Herbsts, in dem einwanderungsfeindliche Parteien europaweit Aufwind erhielten, die SVP gemäss Wahlbarometer ein neues Allzeithoch erreichte und FDP-Parteipräsident Thierry Burkart von der Parteibasis frenetisch applaudiert wird.48
Für verfassungspatriotisch gesinnte Zeitgenossen kann die nüchterne Bestandesaufnahme kein Grund sein zur Kapitulation, sondern ist erst recht Verpflichtung zum Kampf ums Recht (Rudolf von Jhering), eingedenk der Erkenntnis, dass «alle Rechte erworben wurden oder im Kampf noch erworben werden müssen».49
“Verfassungspatriotischer Aufstand” dringlich
Aktuell gilt es freilich, bestehende Rechte gegen ihre dreiste Negierung zu verteidigen. Gefordert sind sowohl zivilgesellschaftliche Akteure50 wie staatliche Funktionsträger, die gemäss Artikel 35 BV explizit zur Verwirklichung der Grundrechte beizutragen haben.51
Nicht zuletzt obliegt es der judikativen Gewalt als Hüterin der Verfassung und der Menschenrechte, tätig zu werden. Sie darf sich nicht scheuen, diese ihre Aufgabe im gewaltenteiligen Rechtsstaat zu erfüllen.
Wo sich Lausanne dieser Aufgabe verweigert, bleibt Strassburg als letzter Garant der Rechtsstaatlichkeit, die es verwehrt, Menschenrechte einer nationalistischen Abwehrideologie zu opfern.52 Effektiv verwirklicht sind Menschenrechte nämlich erst dann, «wenn sie als verfassungsrechtlich einklagbare und völkerrechtlich überwachte Garantien politisch erkämpft und juristisch durchgesetzt sind»,53 wie es Arnd Pollmann in seiner umfassenden Studie über «Menschenrechte und Menschenwürde» auf den Punkt bringt.
Die Art und Weise, wie ein Staat seine Ausländer behandelt, ist ein «Gradmesser seiner rechtsstaatlichen Kultur»,54 hielt Daniel Thürer schon vor über 20 Jahren fest. Ein verfassungspatriotischer und menschenrechtsbasierter Aufstand erscheint daher dringlich. Auf dem Spiel steht nichts weniger als die Rechtsstaatlichkeit unserer Demokratie.
Fussnoten siehe PDF.