Weissrussland · Yuri Suschkov war Bezirksrichter in Weissrussland. Er berichtet über den Einfluss des Autokraten Alexander Lukaschenko auf die Justiz im Land. «Ich hatte nur einen ganz kleinen Spielraum», sagt Suschkov, der heute in Winterthur lebt.
Yuri Suschkov war von 1997 bis 1999 als Richter am Bezirksstrafgericht Bobruisk in Weissrussland tätig. Bobruisk ist eine Stadt mit rund 200 000 Einwohnern, knapp 150 Kilometer südöstlich der Hauptstadt Minsk. Was Suschkov am Gericht sah, erschreckte ihn: «Menschen wurden grundlos verhaftet und ohne Beweise verurteilt.» Prozessmaximen wie die richterliche Unabhängigkeit, die Gerichtsöffentlichkeit, die Unschuldsvermutung und ein Verbot der Folter, um Geständnisse zu erreichen, gab es nicht. «Wenn es keine Beweise gab, wurden diese unter Folter erzwungen.»
Suschkov war als Staatsanwalt tätig, bevor er Richter wurde. «In dieser Funktion sah ich selbst, wie Leute auf Polizeistationen unter Folter Geständnisse unterschrieben.» Angewandt würden Foltermethoden wie körperliche Gewalt, Schlafentzug oder Drohungen. Suschkov versuchte sich dagegen zu wehren, indem er das Gespräch mit Vorgesetzten und Richterkollegen suchte. «Doch niemand half mir.» Im Gegenteil: Ein Richterkollege, der in seiner zwanzigjährigen Praxis nie jemanden freigesprochen habe, riet ihm, dies auch so zu handhaben. «Um mein Leben nicht zu komplizieren.»
Laut Suschkov herrschte ein Klima der Angst. Weissrussland sei nach der Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 nur dem Namen nach unabhängig gewesen. «Faktisch war der sowjetische Einfluss weiterhin spürbar, auch die sowjetischen Strukturen wurden beibehalten.» Der weissrussische Geheimdienst wurde nach sowjetischem Vorbild aufgebaut. Er wende bis heute «sowjetische Methoden» an. «Jeder befürchtet, von einem anderen beim Präsidenten angeschwärzt zu werden. Denn wer einmal ins Visier kommt, der taucht nie wieder auf.» 1999 beispielsweise seien bekannte Personen wie der ehemalige Innenminister Juri Sacharenko, der Oppositionelle Wiktor Gonchar und der Geschäftsmann Anatoli Krasowski verschwunden und ermordet worden.
Lukaschenko ernennt alle Richter
Für seine Flucht war gemäss Suschkov ein konkretes Ereignis im Jahr 1999 entscheidend. «Ich musste über ein Zollvergehen befinden.» Beim Aktenstudium sei ihm klar geworden, dass es nicht genügend Beweise für eine Anklage gab. «Ich teilte dies der Staatsanwaltschaft so mit.» Diese informierte den weissrussischen Geheimdienst. Kurz darauf seien zwei Männer in sein Büro gekommen und hätten gedroht: «Entweder verurteilen Sie die Person oder Sie riskieren einen Autounfall.» Suschkov schickte die Männer aus seinem Büro. Er wusste: «Ich war zu einem Feind des Regimes geworden.»
Nach diesem Vorfall habe er nicht mehr in Weissrussland bleiben können. «Als Jurist mit Prinzipien wollte ich ohnehin nicht mehr in diesem Staat leben.» Er begann, seine Flucht zu planen. Im Februar 1999 hielt er in Minsk eine Pressekonferenz ab. Dort informierte er, welcher Druck auf die Richter ausgeübt wurde und wie diese unter ständiger Angst leiden. Suschkov schickte seine Rede an die weissrussische Staatsanwaltschaft, das Aussenministerium, den obersten Gerichtshof und die Europäische Kommission. Nach der Medienkonferenz flüchtete er nach Deutschland, seit 2010 lebt Suschkov in Winterthur. Er arbeitet heute in einer Firma, die mit medizinischen Geräten handelt. Aus Angst vor einer Vergeltungsmassnahme reist er nicht mehr nach Weissrussland.
Gemäss Suschkov regiert Lukaschenko Weissrussland bis heute mit eiserner Faust. Der ehemalige Richter sagt: «Die Menschenrechtslage ist desolat. Lukaschenko erstickt aufkommende politische Bedrohung im Keim.» Die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit seien massiv eingeschränkt. Zudem würde die Todesstrafe vollstreckt. Das entspricht auch den Kenntnissen von Amnesty International: 2019 wurden mindestens drei Weissrussen zum Tode verurteilt, zwei hingerichtet.
Lukaschenko hält bis heute an seiner Macht und seinen Privilegien fest. Suschkov: «Es gibt keine Gewaltenteilung, der Präsident trifft alle wichtigen Entscheidungen selbst.» 1996 habe Lukaschenko die Verfassung in seinem Sinn geändert. Er habe beispielsweise die Amtszeitbeschränkung des Machthabers auf zwei Amtsperioden à jeweils fünf Jahre aufgehoben. Seither habe er viele Gesetze erlassen, um seine Position zu stärken. «Das Parlament winkt diese Gesetzesvorlagen einfach durch.» Damit nicht genug: Lukaschenko ernennt und entlässt auch alle Richter.
Chancen auf einen Wandel
Der weissrussische Herrscher hatte Suschkov 1997 persönlich zum Richter ernannt. «Ich musste schwören, dass ich im Sinne des Regimes entscheide.» Anlässlich einer Versammlung von Richtern im Dezember 1997 habe Lukaschenko eine Rede gehalten, in der er wörtlich gesagt habe: «Richter haben nicht das Recht, zu entlasten. Denn wenn sie das tun, haben die Polizei und die Staatsanwaltschaft umsonst gearbeitet.» Laut Suschkov sind die Richter in Weissrussland selbst in den einfachsten Fällen nicht unabhängig. Das Regime bestimme, wie diese zu entscheiden hätten. In Strafprozessen müssten die Richter die Angeklagten stets verurteilen. «Ich hatte nur einen ganz kleinen Handlungsspielraum. Dieser bestand darin, innerhalb des möglichen Strafrahmens die Strafe zu bestimmen.»
Die aktuellen Proteste in Weissrussland stimmen Suschkov optimistisch: «Nun ist es realistisch, dass die Weissrussen Lukaschenko endlich loswerden.» Der Diktator habe kein Geld mehr. Russland habe Lukaschenko in der Vergangenheit finanziell unterstützt. Jetzt habe Russland aber zu wenig Geld, um dies weiterhin zu tun. «Die Preise für Öl und Gas sind im Keller.» Suschkov hofft auf einen Wandel. Darauf, dass «Weissrussland endlich zu einer Demokratie mit unabhängiger Justiz wird».