Mehr als eine halbe Million Menschen sind letztes Jahr vor dem bewaffneten Konflikt aus Syrien geflohen. Laut Amnesty International befinden sich damit insgesamt mehr als 5 Millionen Syrer auf der Flucht. Ähnliches Trauerspiel in Afghanistan: Mehr als 2,6 Millionen Flüchtlinge aus diesem von Krieg zermürbten Land leben in mehr als 70 Ländern. Für viele Menschen endet die Flucht mit dem Tod. Allein seit Januar 2018 sind über 684 Flüchtlinge umgekommen, ein absoluter Rekord, wie die Internationale Organisation für Migration (IOM) mitteilt.
Flucht führt häufig auch zur Trennung von Familien. Der Familiennachzug stellt für die betroffenen Flüchtlinge oftmals die einzige Möglichkeit dar, wieder ein Familienleben führen zu können. Trotzdem erschweren die Schweizer Behörden den Nachzug der Familien. Das zeigt Stephanie Motz, Barrister in Zürich, in einer kürzlich publizierten Studie auf (siehe ganz unten). Im Auftrag des Centre Suisse pour la Défense des Droits des Migrants (CSDM) hat sie für die Schweiz und Liechtenstein untersucht, ob der Familiennachzug für anerkannte Flüchtlinge und vorläufig aufgenommene Personen mit menschenrechtlichen und flüchtlingsvölkerrechtlichen Verpflichtungen in Einklang steht. Ein Schwerpunkt ihrer Analyse liegt auf Artikel 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens).
Die Autorin zeigt auf, dass rechtliche und praktische Einschränkungen den Familiennachzug für viele Flüchtlinge in der Schweiz erheblich erschweren, «ja praktisch verhindern». Die Praxis entspreche somit nicht immer den von der Schweiz eingegangenen menschenrechtlichen Verpflichtungen. Insbesondere vorläufig aufgenommene Personen sähen sich oftmals ausserstande, die gesetzlichen Voraussetzungen zu erfüllen: «Sie bleiben dauerhaft von ihren Familien getrennt.»
Meist nur Partner und minderjährige Kinder
Die Praxis zum Familiennachzug regeln das Asylgesetz (AsylG), das Bundesgesetz über die Ausländer (AuG) sowie die Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE). Aus diesen Erlassen wird ersichtlich, dass zu den Familienangehörigen, für die ein Anspruch auf Familiennachzug besteht, ausschliesslich Ehepartner, eingetragene Lebenspartner und minderjährige Kinder sowie Adoptiv- und Stiefkinder zählen.
Andere Familienmitglieder, insbesondere die Eltern und Geschwister von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, haben keinen Anspruch mehr auf Familiennachzug – selbst wenn die Geschwister minderjährig sind. Die wenigen Ausnahmen von dieser Regel stützen sich auf Artikel 8 der EMRK, der das Recht auf Achtung des Familienlebens garantiert. Die Botschaft des Bundesrats zum Asylgesetz nennt insbesondere volljährige behinderte Kinder, Pflegekinder und andere Personen, die dauernd im gemeinsamen Haushalt mit dem Antragsteller gelebt haben und von dieser Gemeinschaft existenziell abhängen.
Laut Motz unterscheidet das Schweizer Recht zwischen anerkannten Flüchtlingen, denen Asyl gewährt wurde (Ausweis B), sowie Flüchtlingen, die nur vorläufig in der Schweiz aufgenommen wurden (Ausweis F). Dieser F-Ausweis wird für höchstens ein Jahr erteilt und kann jeweils um zwölf Monate verlängert werden. Personen mit diesem Ausweis wurde das Asylgesuch abgelehnt. Jedoch ist bei ihnen der Vollzug der Wegweisung nicht möglich, zum Beispiel wegen Krieg im Herkunftsland oder es fehlt ein Rückübernahmeabkommen mit dem entsprechenden Land.
Einem Bericht des Bundesrats zufolge lebten Ende Juni 2016 in der Schweiz 35 000 Personen mit einer vorläufigen Aufnahme und 43 300 anerkannte Flüchtlinge. Knapp 30 Prozent aller Personen in der Schweiz, die zwischen 2009 und 2016 einen F-Ausweis besassen, sind Staatsangehörige aus Eritrea, Syrien oder Afghanistan.
Motz kritisiert, dass genau für diese Personen mit F-Ausweis das Recht auf Familiennachzug allgemein eingeschränkter ist als bei Flüchtlingen mit B-Ausweis. Das Gesetz schaffe zwei Kategorien von Flüchtlingen allein auf der Grundlage der Art der Bewilligung: Personen mit einem B-Ausweis haben gemäss Artikel 51 Absatz 1 und Absatz 4 AsylG ein einklagbares Recht auf den Nachzug ihrer Familienangehörigen. Dieses Recht haben Flüchtlinge mit F-Ausweis hingegen nicht. Deren Situation regelt Artikel 85 Absatz 7 AuG: «Ehegatten und ledige Kinder unter 18 Jahren von vorläufig aufgenommenen Personen und vorläufig aufgenommenen Flüchtlingen können frühestens drei Jahre nach Anordnung der vorläufigen Aufnahme nachgezogen und in diese eingeschlossen werden, wenn: a) sie mit diesen zusammen wohnen; b) eine bedarfsgerechte Wohnung vorhanden ist; und c) die Familie nicht auf Sozialhilfe angewiesen ist.»
Die Familieneinheit ist ein grundlegendes Recht
Die Autorin ist überzeugt, dass diese Regelung nicht mit Artikel 8 EMRK vereinbar ist, spreche doch der Strassburger Gerichtshof Flüchtlingen einen dringenderen Anspruch auf Familiennachzug zu als anderen Migranten. Das zeigt sich besonders deutlich im Entscheid Tanda-Muzinga gegen Frankreich. In diesem Urteil vertritt das Gericht die Ansicht, dass die Familieneinheit «ein grundlegendes Recht des Flüchtlings» ist und dass «Familienzusammenführung ein wesentliches Element ist, um es Personen zu gestatten, die vor Verfolgungen geflüchtet sind, ein normales Leben wiederaufzunehmen». Flüchtlinge sollten daher «von einem günstigeren Verfahren der Familienzusammenführung (…) profitieren als jenem, das den anderen Ausländern vorbehalten ist». Dies müsste laut Stephanie Motz für Flüchtlinge mit F-Ausweis genauso wie für Flüchtlinge mit B-Ausweis gelten.
Weiter folgt gemäss Motz aus Artikel 8 EMRK die positive Verpflichtung, den Familiennachzug von Flüchtlingen zügig zu ermöglichen. Sie erwähnt dabei, dass im Fall eines Flüchtlings die Verfahrensdauer von dreieinhalb Jahren für unverhältnismässig befunden wurde. Vor diesem Hintergrund sei die dreijährige Sperre für den Familiennachzug besonders problematisch, da dies in fast jedem Fall eine Verzögerung von mehr als dreieinhalb Jahren mit sich bringen würde, konstatiert Motz.
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) weist die Kritik von Stephanie Motz zurück. «Die gesetzlichen Regelungen im Bereich des Familiennachzugs entsprechen den internationalen Verpflichtungen der Schweiz», sagt Mediensprecherin Emmanuelle Jaquet von Sury. Dass bereits grundsätzliche Kritikpunkte schon in den Kommentaren zum Ausländer- und Asylgesetz vorgebracht werden, lässt das SEM ebenfalls kalt. Dem SEM seien auch diese Kritikpunkte seit längerem bekannt.
Bundesrat will Vorbehalt nicht zurückziehen
Motz kann zu dieser Haltung bloss den Kopf schütteln: «Dass die Schweizer Rechtslage zurzeit offensichtlich nicht mit internationalen Vorgaben vereinbar ist, zeigt sich nur schon daran, dass der Bundesrat bis heute nicht bereit ist, den Vorbehalt zum Recht auf Familienzusammenführung von Kindern aus der Uno-Kinderrechtskonvention zurückzuziehen.» Dieser Vorbehalt existiere weiterhin, weil das Schweizer Recht schlicht kein Recht für Kinder auf Familienzusammenführung vorsehe: «Dies trotz wiederholter Aufforderung des Uno-Kinderrechtsausschusses, den Vorbehalt zurückzuziehen.»
Motz ist nicht die Einzige, die Kritik an der Flüchtlingspraxis äussert. Constantin Hruschka, Asylrechtsexperte und ehmaliger Leiter der Rechtsabteilung von UNHCR Schweiz und der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, stellt fest, dass die Schweizer Praxis allzu oft «keine ausreichende Prüfung des Kindeswohls vornimmt, wenn Kinder mit ihren Eltern reisen». Und für den Basler Dozenten Peter Uebersax ist der erschwerte Familiennachzug nicht das einzige Beispiel dafür, dass der schweizerische Gesetzgeber den Menschenrechten und dem Verfassungsrecht im Migrationsbereich nicht die gebotene Beachtung schenkt. «Ein Handlungsbedarf besteht vor allem auch darin, die vorläufige Aufnahme menschenwürdiger auszugestalten.»
Vorläufig Aufgenommene haben keine Alternative
Der Zürcher Rechtsanwalt Marc Spescha teilt die Kritik von Motz «vollumfänglich». Die Dreijahresfrist und damit eine entsprechend lange Hinderung der Ehegemeinschaft, die nach ausländerrechtlichem Rechtsverständnis immer eine Haushaltsgemeinschaft sein müsse, halte vor Artikel 8 EMRK nicht stand und verletze die Konventionsbestimmung. «Die Regelung ist umso stossender, als vorläufig aufgenommene Flüchtlinge definitionsgemäss gar keine Aufenthaltsalternative haben und ihnen daher während drei Jahren das Familienleben auch objektiv verwehrt ist.» Spescha hält zudem fest: «Diese Frist gemäss Artikel 85 Absatz 7 AuG entbehrt auch insofern einer sachlichen Rechtfertigung, als mir aus neuerer Zeit kein Fall bekannt ist, bei dem die vorläufige Aufnahme vor Ablauf von drei Jahren aufgehoben worden wäre.» Der Gesetzgeber müsse hier dringend über die Bücher und die Wartezeit von drei Jahren streichen, fordert Spescha. Auch hält er bei Flüchtlingen mit oder ohne Asyl die Hürden der Wohnungsgrösse und der finanziellen Mittel für «sehr problematisch». Spescha: «Ersteres dürfte in der Praxis zwar eher selten zu Nachzugsverweigerungen führen, die fehlenden Finanzen indessen schon.»
Hruschka konstatiert zudem, dass die Differenzierung im Status zwischen Flüchtlingen mit B- und F-Ausweis ein Verstoss gegen das Gleichbehandlungsgebot sei. Hier würden sich Anknüpfungspunkte nicht nur über Artikel 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) ergeben, sondern auch über die Flüchtlingskonvention (FK) selbst. «Der Ausschluss von der Asylgewährung unterhalb der Schwelle der Ausschlussgründe des Artikel 1 FK begegnet Rechtfertigungsschwierigkeiten, die meiner Ansicht nach nicht dadurch ausgeräumt werden – wie dies die Rechtsprechung angenommen hat –, dass die FK keinen Status festschreibt. Flüchtlinge werden ohne völkerrechtlich anerkannten sachlichen Grund unterschiedlich behandelt.»
Anja Klug, Leiterin des Schweizer UNHCR-Büros, nennt schliesslich praktische Hindernisse, die eine Familienzusammenführung verzögern oder unmöglich machen – «wie zum Beispiel das Fehlen von Dokumenten oder die mangelnde Zugangsmöglichkeit zu Schweizer Auslandsvertretungen».
Die Studie
Die Arbeit «Familiennachzug für Flüchtlinge in der Schweiz: Rechtsrahmen und strategische Überlegungen» von Stephanie Motz ist unter http://centre-csdm.org/fr/rapports-juridiques/ auf Französisch und Deutsch abrufbar.