Die Kostenfrage dominiert die Diskussionen im Gesundheitswesen. Besonders betroffen sind ältere Patientinnen und Patienten. Aus gesundheitsökonomischer Sicht sollen knappe Ressourcen in Zukunft vermehrt dort eingesetzt werden, wo der grösstmögliche Nutzen zu erwarten ist. Konkret: bei eher jüngeren Patienten. Einer solchen Rationierung medizinischer Leistungen setzt jedoch das geltende Verfassungsrecht enge Grenzen.
Ein Medizinskandal erschütterte Anfang 1999 die Schweiz: In einem am 11. Januar 1999 ausgestrahlten TV-Nachrichtenmagazin wird glaubwürdig dokumentiert, dass die Basler Sanitätsdirektion ernsthaft in Erwägung gezogen hat, dem damals 85-jährigen Altbundesrat Hans Peter Tschudi aus Kostengründen das gentechnologisch hergestellte und damit hohe Tagestherapiekosten auslösende Medikament Novo Seven vorzuenthalten.(1)
Mit diesem Beitrag wurde eine breite Rationierungsdebatte losgetreten, aus der sich zwanglos
eine zentrale gesellschaftspolitische Anschlussfrage herauskristallisiert:
Handelt es sich beim «Fall Tschudi» um einen Einzelfall oder um einen prominenten Beleg für die systematische Diskriminierung von älteren Patienten und Patientinnen im schweizerischen Gesundheitswesen? Diese Frage gewinnt vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Tendenz, ältere Patienten und Patientinnen zunehmend als gesundheitspolitische Ballastexistenzen zu brandmarken,(2) an Bedeutung und ruft – unabhängig von der Antwort, die gegeben werden mag – nach einer vertiefteren Analyse der verfassungsrechtlichen Grenzen einer Rationierung von Gesundheitsleistungen, die insbesondere ältere Menschen treffen könnte.
1 ALTERSRATIONIERUNG IM SYSTEM DER KRANKENVERSICHERUNG
Während der Begriff der Rationierung im allgemeinen Sprachgebrauch die staatlich kontrollierte Zuteilung von Nahrungsmitteln oder anderen lebenswichtigen Gütern in Not- oder Kriegszeiten bezeichnet, wird Rationierung im gesundheitsökonomischen Diskurs als Verzicht auf medizinische Leistungen definiert, die beim betroffenen Patienten wohl einen gesundheitlichen Nutzen bringen würden, aus Kostengründen aber nicht gewährt werden.(3) Ob es sich nun um Lebensmittel oder medizinische Leistungen handelt: Dem Rationierungsbegriff inhärent ist in jedem Fall ein Zuteilungsentscheid, im Bereich der Gesundheit spezifisch darüber, ob Patienten oder Patientinnen bestimmte Leistungen erhalten oder (aus nicht medizinischen Gründen) nicht erhalten sollen.
In der Palette der Kriterien, nach denen dieser Allokationsentscheid gefällt werden soll, taucht in der Literatur beispielsweise neben der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit oder der sozialen Wertigkeit auch das Lebensalter auf,(4) was mit einem utilitaristischen Effizienzansatz unterlegt wird: Aus gesundheitsökonomischer Sicht sind knappe Ressourcen dort einzusetzen, wo der grösstmögliche Nutzen erwartet werden kann, tendenziell also eher bei jüngeren Patienten und Patientinnen, deren Lebenserwartung mit geringerem ökonomischen Aufwand erhöht werden kann, als bei älteren Patienten und Patientinnen (Gesetz des abnehmenden Grenznutzens).
1.2 Altersrationierung und Krankenversicherung
Im Mittelpunkt des juristischen Interesses steht weniger die individuelle Leistungsverweigerung am Krankenbett, als vielmehr der generell-abstrakte Rationierungstatbestand, der in der Schweiz im zentralen sozialstaatlichen Schutzsystem zur Absicherung des Krankheitsrisikos – der Krankenversicherungsgesetzgebung – zu suchen ist. Mag nun zutreffend festgehalten werden, dass dem Krankenversicherungsgesetz die offensichtliche leistungsseitige Diskriminierung älterer Patienten und Patientinnen prinzipiell fremd ist,(5) so finden sich sowohl de lege lata wie de lege ferenda aber doch Anzeichen einer schleichenden Altersrationierung, die in zwei verschiedenen Ausprägungen auftaucht:
Direkte Altersrationierung: In der Krankenpflege-Leistungsverordnung,(6) welche schwergewichtig die nicht ärztlichen Pflichtleistungen abschliessend bezeichnet,(7) finden sich verschiedentlich Leistungen, deren Kassenpflichtigkeit an eine explizite Altersgrenze anknüpft: So darf bei einer operativen Adipositasbehandlung der Patient oder die Patientin nicht älter als 60 Jahre sein,(8) oder wird die Positron-Emissions-Tomographie zur Abklärung von Demenzen nur bei Personen eingesetzt, die jünger als 70 Jahre sind.(9) Im Bereich der Mittel und Gegenstände hält die Verordnung generell fest, dass die Kassenpflichtigkeit mit einer Limitierung verbunden werden kann, die sich insbesondere auf das Alter der Versicherten beziehen kann.(10)
Indirekte Altersrationierung: Als Leistungsbeschränkung, die zwar nicht an eine bestimmte Altersgrenze anknüpft, faktisch aber vorwiegend ältere Menschen trifft, wurde im Rahmen der 2. KVG-Revision aus Angst vor einer Kostenexplosion im Pflegebereich
beispielsweise diskutiert, an die «Pflegemassnahmen, die im Pflegeheim, ambulant oder bei Hausbesuchen durchgeführt werden», bloss noch «einen Beitrag» zu leisten.(11) Diese Beitragslösung bricht mit der bisherigen Logik der Krankenversicherung, im Rahmen der gesetzlichen Tarif- und Kostenbeteiligungsregeln,(12) grundsätzlich die vollen Kosten
einer medizinischen Massnahme zu vergüten.
2 GRUNDRECHTE UND SOZIALZIELE CONTRA RATIONIERUNG
Bei der Prüfung der Frage nach der Verfassungskonformität der festgestellten Altersrationierungstatbestände sind verschiedene (generelle wie altersspezifische) Grundrechts- und Sozialzielpositionen als Vergleichsmassstäbe heranzuziehen:
2.1 Kosten-Nutzen-Denken und Menschenwürde
Der Kerngehalt der Menschenwürde, deren Achtung und Schutz in Artikel 7 BV verfassungsrechtlich verbrieft ist, liegt nach herrschender Lehre in der Garantie der Subjektqualität des Menschen: Die Menschenwürde ist verletzt, wenn der konkrete Mensch zum blossen Objekt, zur vertretbaren Grösse oder zum Sachwert herabgewürdigt wird.(13) Dies ist im Bereich der Gesundheit insbesondere dann der Fall, wenn der ältere Mensch auf eine buchhalterische Grösse und ein versicherungstechnisches Risiko innerhalb einer ökonomischen Kosten-Nutzen-Überlegung reduziert wird,(14) und ihm – allein aufgrund seines Alters – medizinische Leistungen vorenthalten werden, um finanzielle Folgen zu
verhindern.
Dieser Kerngehalt der Würdenorm fliesst in alle Gehaltsebenen – Programmgehalt, Grundsatzgehalt und Individualrechtsgehalt – ein, die der Menschenwürde in der Lehre(15) zugesprochen werden. Unbestritten ist hierbei, dass die Menschenwürde in ihrer Funktion als justiziables Auffanggrundrecht keine Beschränkungen, wie sie für Grundrechte unter den Voraussetzungen von Artikel 36 BV zulässig sein können, duldet, da der Geltungs- und der Kernbereich grundsätzlich zusammenfällt.(16) Das Konstrukt der Altersrationierung bleibt so definitiv mit der Menschenwürde unvereinbar und damit verfassungswidrig.
2.2 Rechtsgleichheit als verfassungsmässige Hürde
Die Rechtsgleichheit, wie sie in Artikel 8 BV verankert ist, weist zwei Teilgehalte auf, deren Relevanz für die Prüfung der Verfassungskonformität einer Altersrationierung unbestritten scheint:
Allgemeines Gebot der Gleichbehandlung ausgehebelt
Nach dem relativen Gleichbehandlungsgrundsatz, den die herrschende Lehre und die bundesgerichtliche Rechtsprechung aus Artikel 8 Absatz 1 BV ableitet, verletzt ein Erlass den Grundsatz der Rechtsgleichheit, wenn er rechtliche Unterscheidungen trifft, für die ein vernünftiger oder sachlicher Grund in den zu regelnden Verhältnissen nach Regelungszweck nicht ersichtlich ist, oder wenn er Unterscheidungen unterlässt, die sich aufgrund der Verhältnisse aufdrängen.(17)
Die offensichtliche rechtliche Ungleichbehandlung, die aus einer altersabhängigen Definition von krankenversicherungsrechtlichen Leistungen folgt, indem beispielsweise ein 60-jähriger und ein 75-jähriger Patient mit absolut identischem Krankheitsbild unterschiedlich therapiert werden, ist daher nicht a priori gleichheitswidrig, muss aber zwingend sachlich motiviert sein. Aus der bundesgerichtlichen Formel fliesst, dass diese gebotene Sachlichkeit der Begründung «in den zu regelnden Verhältnissen nach Regelungszweck» – und damit in einem gesundheits- oder krankenversicherungsrechtlichen Zusammenhang – reflektiert werden muss.
Wird in dieser Analyse des Regelungszwecks naheliegenderweise auf gesetzgeberische Wertungsentscheide und Zielformulierungen abgestellt, so muss die Kosteneindämmung als ausschliessliches Motiv für eine Altersrationierung allerdings ausscheiden: Zwar war die Kosteneindämmung im Gesundheitssektor unbestreitbar ein wichtiges Ziel des historischen Gesetzgebers beim Erlass des KVG,(18) doch stand dieses Ziel hinter dem prioritären Ziel zurück, allen Versicherten eine qualitativ hoch stehende medizinische Versorgung zu garantieren.
Nur mit der Priorisierung des Ziels eines rechtsgleichen Zugangs zu medizinischen Leistungen – und mit der Wahrung des Verhältnismässigkeitsprinzips, das unter anderem den Einsatz des mildesten noch wirksamen Mittels fordert – lässt sich erklären, dass als Mittel zur Kosteneindämmung ausschliesslich Rationalisierungsmassnahmen, das heisst Massnahmen zum optimierten Einsatz der vorhandenen Mittel ohne Auswirkungen auf das Leistungsniveau (wie zum Beispiel die Einführung einer Spitalplanung oder von alternativen Versicherungsmodellen), diskutiert worden sind, «eine qualitative und quantitative Leistungsrationierung» in der bundesrätlichen Botschaft aber explizit ausgeschlossen wurde, da diese mit dem schweizerischen Gesundheitssystem «unvereinbar» sei.(19)
Liegt der Regelungszweck somit schwergewichtig in der Garantie des Zugangs zu medizinischen Leistungen, so vermögen konsequenterweise auch nur medizinische Motive eine Altersrationierung sachlich zu begründen: Als Beispiele erwähnt seien altersbedingte chronische Krankheiten, wie Diabetes oder demenzielle Störungen, oder bei älteren Menschen häufiger auftretende Multimorbiditäten, die einen operativen Eingriff als kontraindiziert erscheinen lassen können.(20) Aber auch diese medizinisch begründete Form der Altersrationierung dürfte nur in wenigen Ausnahmefällen einer expliziten generell-abstrakten Normierung zugänglich sein: Da in jedem Fall die individuellen Voraussetzungen des Patienten oder der Patientin für die allfällige Verweigerung einer medizinischen Leistung entscheidend ist, muss diese medizinische Abwägung für oder gegen eine medizinische Massnahme im Rahmen der Zweckmässigkeitsprüfung erfolgen, der nach Art. 32 KVG(21) eh jede medizinische Leistung im Einzelfall standhalten muss, um als Pflichtleistung von der Krankenversicherung vergütet zu werden: Hierbei ist eine Massnahme aus medizinischer Sicht dann zweckmässig, wenn deren Nutzen grösser ist als deren Risiken oder als die Risiken eines Verzichts auf jegliche medizinische Massnahme.(22)
Damit dürfte auch der medizinisch begründete generell-abstrakte Tatbestand der Altersrationierung lediglich als Vermutung formuliert werden, die im Einzelfall widerlegt werden kann, soll die Leistungsbeschränkung nicht als sachlich unbegründet und damit gleichheitswidrig gelten.
Für diese Fälle der wohl medizinisch begründeten, aber keine Ausnahmen zulassenden Rationierungstatbestände steht die Verletzung der Rechtsgleichheit genauso fest, wie für alle medizinisch unbegründeten Rationierungstatbestände: Nach wohl herrschender Lehre(23) kennt die Rechtsgleichheit – im Unterschied zu den Freiheitsrechten – keine zulässigen Einschränkungen, so dass es auch dann keine Möglichkeit gibt, einen Eingriff in die Rechtsgleichheit zu rechtfertigen, wenn die Voraussetzungen nach Artikel 36 BV für eine Grundrechtseinschränkung erfüllt wären.
Diskriminierungsverbot als Gebot der Gleichbehandlung
Als besonderes Gleichbehandlungsgebot verbietet Artikel 8 Absatz 2 BV Diskriminierungen, das heisst qualifizierte Ungleichbehandlungen, die an eine ausgrenzende Einstellung gegenüber einer gesellschaftlichen Gruppe anknüpfen, und bezweckt damit den spezifischen Schutz gesellschaftlich herabgesetzter Gruppen.(24)
Verfassungsrechtlichen Schutz gegen Diskriminierungen erfahren unter anderem auch ältere Personen, wird das Alter doch explizit als verpöntes Unterscheidungsmerkmal in der nicht abschliessenden Kriterienliste des Verfassungstextes erwähnt. Zwar ist die Anknüpfung an ein verpöntes Merkmal nicht absolut unzulässig, sondern begründet lediglich den Verdacht einer unzulässigen Differenzierung, die qualifiziert zu rechtfertigen ist;(25) da die Lehre bei Beschränkungen von sensiblen lebensnahen Gütern, zu denen ohne Zweifel die medizinische Betreuung(26) zählt, aber einen besonders strengen Rechtfertigungsmassstab anlegt, kann in den Tatbeständen der Altersrationierung zwanglos eine Diskriminierung nach Artikel 8 Absatz 2 BV erkannt werden.
Ein Tatbestand der Altersrationierung dürfte damit umso weniger vor dem Diskriminierungs-verbot standhalten, als – wie im Rahmen der Ausführungen zum Gleichbehandlungsgrundsatz nachgewiesen –(27) kein sachlicher, a fortiori kein qualifiziert sachlicher Grund für eine generell-abstrakte Altersrationierung ausgemacht werden kann.(28)
2.3 Persönlichkeitsschutz im Widerspruch zu Rationierung
Der verfassungsrechtliche Persönlichkeitsschutz (Artikel 10 BV) findet sich im Verfassungstext von 1999 in verschiedene Teilgehalte aufgefächert, von denen zwei für die Rationierungsdiskussion von Interesse sind:
Recht auf Leben als absolute Schutzbestimmung
Schutzobjekt des Rechts auf Leben, das nach Artikel 10 Absatz 1 BV jedem Menschen zusteht, ist die biologische Existenz als «Gesamtheit der biologischen und psychischen Funktionen [...], die den Menschen als Lebewesen kennzeichnen».(29) Hierbei muss sich das geschützte Rechtsgut «Leben» zwingend einer Kategorisierung und Klassifikation nach bestimmten Wertigkeitskriterien entziehen, sollen nicht Denkmuster reaktiviert und legitimiert werden, die in den 1930er Jahren eines der dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte mitgeprägt haben:
Unter dem nationalsozialistischen Regime bestimmte sich, ab 1933 auch rechtlich sanktioniert, Art und Mass der Krankenpflege «nach der Würdigkeit des Unterstützten gemäss seiner Leistung für die Gesellschaft»(30), was den Boden für den einige Jahre später erlassenen Euthanasie-Befehl des Führers vorbereitete, der unter anderem auf chronisch kranke und senile Personen abzielte.(31)
Ist eine Bewertung menschlichen Lebens verfassungsrechtlich ausgeschlossen, so gibt es auch kein wertvolles jüngeres und weniger wertvolles älteres Leben.(32) Damit verletzt ein Tatbestand der Altersrationierung, der durch die ausschliesslich finanziell motivierte Vorenthaltung medizinisch indizierter Leistungen zum Tod eines älteren Patienten führt, die positive Pflicht, die dem Staat aus dem Recht auf Leben erwächst, das (junge wie das ältere) menschliche Leben gesetzlich zu schützen.(33)
Mag der genaue Umfang dieser positiven staatlichen Pflicht in Judikatur und Lehre auch (noch) nicht klar abgesteckt sein und allenfalls auch nicht so weit gehen, dass ganz bestimmte spezielle Gesundheitsleistungen grundrechtlich eingefordert werden können:
In Anlehnung an einen Entscheid aus dem Jahre 1997 des deutschen Bundesverfassungsgerichts darf als Minimalgehalt dieser staatlichen Schutzpflicht vorausgesetzt werden, dass «die öffentliche Gewalt Vorkehrungen zum Schutz des Grundrechtes trifft, die nicht völlig ungeeignet oder völlig unzulänglich sind»(34) – ein Minimum, das beim schlichten Ausschluss einer lebenserhaltenden Therapiemöglichkeit aus Altersgründen offensichtlich unterschritten wird. Festzuhalten bleibt, dass ein solcher Eingriff in den Schutzbereich des Rechts auf Leben als absolut unzulässig gelten muss, da das menschliche Leben zum unantastbaren Kern der persönlichen Freiheit gehört.(35)
Das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit
Im Gegensatz zum Recht auf Leben, das die biologische Existenz als solche schützt, ist der Schutzbereich des Rechts auf körperliche und geistige Unversehrtheit nach Artikel 10 Absatz 2 BV nicht erst bei einer Beseitigung, sondern bereits bei einer blossen Beeinträchtigung der biologisch-physiologischen und mentalen Funktionsfähigkeit einer Person tangiert.(36)
Hingegen ist beiden grundrechtlichen Positionen gemein, dass aus ihnen positive Schutzpflichten des Staates fliessen.(37) Diese müssen zumindest dann als verletzt betrachtet werden, wenn eine medizinische Leistung nur bis zu einem bestimmten Alter (direkte Altersdiskriminierung) oder bei einer alterstypischen Krankheit keinerlei wirksam bekannte Therapieform angeboten wird (indirekte Altersdiskriminierung), weil so die Möglichkeit ausgeschlossen wird, einen pathologischen Zustand – und damit eine Verletzung der körperlichen und/oder geistigen Integrität – ganz oder teilweise zu beseitigen.
Steht die Verletzung des Schutzbereichs des Rechts auf körperliche und geistige Unversehrtheit damit fest, so stellt sich die Anschlussfrage nach der Zulässigkeit eines solchen Grundrechtseingriffs, für deren Beantwortung die Lehre kontroverse Ansätze liefert: Während für einen Teil der Lehre die Schrankenregelung nach Artikel 36 BV auf Freiheitsrechte zugeschnitten,(38) in casu also nicht anwendbar ist, womit die Grundrechtsverletzung definitiv feststeht, geht ein anderer Teil der Lehre explizit von der grundsätzlichen Anwendbarkeit der Schrankenregelung aus.(39)
Doch selbst wenn dieser Lehrmeinung gefolgt wird, steht die Unzulässigkeit des Grundrechtseingriffs fest: Mögen allenfalls die Voraussetzungen der gesetzlichen Grundlage, des öffentlichen Interesses (Kosteneindämmung) und der Wahrung des Kerngehaltes als erfüllt betrachtet werden, so fällt die Zulässigkeitsprüfung zumindest wegen der fehlenden Erforderlichkeit und damit Verhältnismässigkeit(40) der Massnahme negativ aus, da das Gesundheitssystem ein Rationalisierungspotenzial enthält, das die möglichen Einsparungen aus Rationierungsmassnahmen um ein Vielfaches übersteigt.(41) Solange jährlich für Milliardenbeträge überflüssige Leistungen erbracht werden, kann der Verzicht auf eine erforderliche und wirksame medizinische Massnahme im Einzelfall nicht als erforderlich (und auch nicht als zumutbar) gelten, um das Ziel der Kostendämpfung zu erreichen.(42)
2.4 Medizinische Leistungen im Recht auf Hilfe in Notlagen
Artikel 12 BV verankert ein Recht auf Hilfe in Notlagen, das notleidenden Personen einen «Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind», zugesteht.
Zu den Teilgehalten dieses Rechts auf Hilfe in Notlagen zählt die Lehre,(43) die durch verschiedene explizite Grundrechtsnormen des kantonalen Verfassungsrechts untermauert wird,(44) auch «grundlegende» medizinische Leistungen. Wie diese grundlegenden medizinischen Leistungen auch immer definiert werden mögen:(45) Wird eine medizinische Leistung als «grundlegend» betrachtet und daher dem sachlichen Schutzbereich von Artikel 12 BV zugeschlagen, so lässt der menschenrechtliche Charakter dieser Existenzsicherungsnorm – der schon vom Bundesgericht in seiner Rechtsprechung zum zunächst ungeschriebenen, später in Artikel 12 BV positivrechtlich überführten Grundrecht auf Existenzsicherung explizit anerkannt worden war –(46) keinerlei Differenzierung, auch nicht nach dem Lebensalter, zu.
Einigkeit besteht in der Literatur auch darin, dass Artikel 12 BV als eine sozialstaatliche Minimalgarantie absolute Schutzwirkung geniesst und daher nicht nach den
Regeln von Artikel 36 BV (Einschränkungen von Grundrechten) eingeschränkt werden kann.(47)
2.5 «Notwendige Pflege der Gesundheit» als Sozialziel
Die Sozialstaatlichkeit des schweizerischen Bundesstaates kommt im Verfassungstext von 1999 nicht zuletzt in einem eigenständigen Sozialzielkatalog zum Ausdruck, der Bund und Kantonen unter anderem als Aufgabe vorgibt, dass «jede Person die für ihre Gesundheit notwendige Pflege erhält» (Artikel 41 Absatz 1 Bst. b BV).
Viel mehr als der sachliche Umfang der «notwendigen Pflege der Gesundheit», der sowohl in den Materialien wie in der Literatur klare Konturen vermissen lässt, ist auch hier die subjektbezogene Formulierung von Artikel 41 Absatz 1 Bestimmung b BV entscheidend, wonach jede Person – unabhängig von persönlichen Merkmalen wie Alter, Nationalität oder sozialer Status – die für ihre Gesundheit notwendige Pflege erhält. Auch wenn die in Artikel 41 BV formulierten Sozialziele unter einem gleich mehrfachen Vorbehalt stehen,(48) so statuieren sie doch eine Handlungsmaxime für alle Stufen des Bundesstaates, die als formelles Verfassungsrecht verbindlich ist.(49) Im (auch wenn nur teilweisen) Ausschluss der älteren Bevölkerung von der Gesundheitsversorgung wäre ein «Zurückfallen unter ein minimales Schutzniveau» zu erkennen, das zwar kaum sanktioniert werden kann, nach dem Willen des historischen Verfassungsgebers aber zweifellos in Konflikt zu Artikel 41 BV gerät und damit als Verfassungsverletzung zu qualifizieren wäre.(50)
3 RATIONALISIERUNG ANSTATT RATIONIERUNG
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das geltende Verfassungsrecht dem Einzug verschiedener Rationierungsformen für ältere Patienten und Patientinnen sehr wohl (enge) Grenzen setzt. Dies ist umso wichtiger, als die politische Diskussion gegenwärtig dazu neigt, undifferenzierte Leistungskürzungen in der sozialen Krankenversicherung zunehmend als unvermeidbare Antwort auf die Kostenfrage darzustellen(51) – eine Kostenfrage, die mit Blick auf die demographiebedingte Zunahme der Pflegekosten sicher zu Recht gestellt wird, deren finanzielle Bedeutung aber auch überschätzt wird(52) und die durch ein konsequentes Ausschöpfen des Rationalisierungspotenzials im Gesundheitswesen zumindest zu einem nicht unbedeutenden Teil auch gelöst werden kann.
Das Bewusstsein verfassungsrechtlicher Grenzen in der Rationierungsfrage kann daher dazu beitragen, die Diskussion auf die zentrale Rationalisierungsfrage zu lenken, wie das Volumen unnötiger medizinischer Leistungen eingedämmt werden kann, zu denen unbestrittenermassen insbesondere auch künstlich lebensverlängernde, häufig ungewollte und qualvolle Massnahmen gezählt werden müssen, die einen unausweichlichen Krankheits- und Sterbeprozess älterer Personen bloss behindern.(53) Solange aber Aussicht auf ein menschenwürdiges Leben besteht, sind – unabhängig von Kosten- und Rentabilitätsüberlegungen – alle diagnostischen und therapeutischen Mittel zur Erhaltung oder Förderung der Lebensqualität einzusetzen.
(1) Zum Sachverhalt vgl. stellvertretend für zahlreiche Presseartikel «Der Bund» vom 13. Januar 1999, S. 1, 13 und 33; ein analoger Novo-Seven-Fall scheint sich – «en raison d’un rapport coût-utilité disproportionné» – auch im Kanton Luzern ereignet zu haben (so ein Artikel in «Le temps» vom 4. Juli 2003).
(2) So wird beispielsweise immer wieder die Forderung nach altersabgestuften (und damit für ältere Personen höheren) Krankenversicherungsprämien gestellt oder
in so genannten «Generationenbilanzen» altersspezifische Finanzierungsprofile erstellt, die mit zunehmendem Alter höhere Gesundheitskosten ausweisen. In Deutschland hat im August 2003 der Vorsitzende der Jungen Union, Philipp Missfelder, mit der Aussage geschockt, er halte nichts davon, wenn 85-Jährige noch künstliche Hüftgelenke auf Kosten der Solidargemeinschaft bekommen, denn schliesslich seien die Leute früher auch an Krücken gelaufen.
(3) Zum Begriff der Rationierung eingehend Gernot Zitter, Rationierung in der Altersmedizin?, Wien 2001, S. 51 ff.
(4) Zu den möglichen Rationierungskriterien vgl. Zitter (FN 3), S. 61 f.
(5) So auch Gabrielle Steffen, Droit aux soins et rationnement, Bern 2002, S. 277.
(6) KLV/SR 832.112.31.
(7) Vgl. Pascal Coullery, Der Leistungskata-log der sozialen Krankenversicherung und seine verfassungsrechtliche Vernetzung, SZS 2003, 379 f.
(8) Ziffer 1.1 von Anhang 1 zur KLV.
(9) Ziffer 9.2 von Anhang 1 zur KLV.
(10) Art. 22 KLV.
(11) Zur parlamentarischen Diskussion vgl.
AB 2003 S 207 ff. Das Differenzbereinigungsverfahren ist nicht abgeschlossen, so dass der definitive Entscheid des Parlamentes in dieser Frage noch aussteht.
(12) Art. 43 ff. und Art. 64 KVG.
(13) So, insbesondere unter Hinweis auf die deutsche Literatur, Philippe Mastronardi, Kommentar zu Art. 7 BV, in: Bernhard Ehrenzeller / Philippe Mastronardi / Rainer J. Schweizer / Klaus A. Vallender (Hrsg.), Die schweizerische Bundesverfassung, Zürich/Basel/Genf/Lachen 2002, Rz. 43 f.
(14) Zitter (FN 3), S. 98, spricht von einer «Reduktion des Menschen auf einen reinen Rechnungsposten», Wilhelm Uhlenbruck, Rechtliche Grenzen einer Rationierung in der Medizin, MedR 1995, S. 433, davon, «den Einzelnen zum Rechnungsposten eines ökonomischen Kalküls zu degradieren».
(15) Mastronardi (FN 13), Rz. 40 ff.
(16) Mastronardi (FN 13), Rz. 52.
(17) Vgl. stellvertretend für die herrschende Lehre Rainer J. Schweizer, Kommentar zu Art. 8, in: Bernhard Ehrenzeller / Philippe Mastronardi / Rainer J. Schweizer / Klaus A. Vallender (Hrsg.), Die schweizerische Bundesverfassung, Zürich/Basel/Genf/ Lachen 2002, Rz. 38 ff. m. w. H.
(18) Zu den gesetzgeberischen Zielen vgl. Bundesamt für Sozialversicherung, Wirkungsanalyse Krankenversicherungsgesetz – Synthesebericht, Bern 2001, S. 1 ff.
(19) BBl 1992 I 133.
(20) Vgl. hierzu auch Zitter (FN 3), S. 89 ff.
(21) Nach Art. 32 Abs. 1 KVG müssen Pflichtleistungen «wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich» sein.
(22) So Gebhard Eugster, Krankenversicherung, in: Heinrich Koller / Georg Mül-
ler / René Rhinow / Ulrich Zimmerli (Hrsg.), Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht, Basel/Genf/München 1998 ff., Rz. 189 m. w. H. Folgerichtig erscheint im Entwurf für ein Transplantationsgesetz, welches gegenwärtig in parlamentarischer Beratung steht, der medizinische Nutzen als eines der zentralen Kriterien für die Zuteilung eines Organs (vgl. Art. 17 Abs. 1 Bst. b des Entwurfs für ein Transplantationsgesetz, BBl 2002, 252).
(23) Vgl. Beatrice Weber-Dürler, Rechtsgleichheit, in: Daniel Thürer / Jean-François Aubert / Jörg Paul Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, Zürich 2001,
S. 664, Rz. 15.
(24) Vgl. Jörg Paul Müller, Die Diskriminierungsverbote nach Art. 8 Abs. 2 der neuen Bundesverfassung, in: Ulrich Zimmerli (Hrsg.), Die neue Bundesverfassung – Konsequenzen für Praxis und Wissenschaft, Bern 2000, insbesondere S. 109, und Rainer J. Schweizer (FN 17), Rz. 47 ff.
(25) Zur Rechtfertigung einer Diskriminierung vgl. Rainer J. Schweizer (FN 17),
Rz. 54 m. w. H.
(26) Explizit Rainer J. Schweizer (FN 17),
Rz. 54.
(27) Vgl. oben Ziffer 321.
(28) In seiner Botschaft für ein Transplantationsgesetz schliesst der Bundesrat das Alter denn auch explizit als Kriterium für die Zuteilung von Organen aus (vgl. BBl 2002, 109 f.). Ob allerdings auch in der Bevorzugung von Kindern bei der Organallokation ein Verstoss «gegen das Prinzip der Gleichheit aller Patientinnen und Patienten» (BBl 2002, 111) gesehen werden muss, scheint zumindest bei absolut knappen Ressourcen, wie sie typischerweise Organe darstellen, nicht offensichtlich zu sein.
(29) So BGE 98 Ia 515.
(30) Ernst Klee, Deutsche Medizin im Dritten Reich, Frankfurt a. M. 2001, S. 49.
(31) Vgl. hierzu Hans-Henning Scharsach,
Die Ärzte der Nazis, Wien/München/
Zürich 2000, S. 117 f.
(32) So auch der Bundesrat, der in seiner Botschaft vom 12. September 2001 zum Transplantationsgesetz festhält, dass «der Wert eines Lebens mit zunehmendem Alter nicht abnimmt» (BBl 2002, 110). Vgl. hierzu auch FN 28.
(33) Diese positive Schutzpflicht ist nicht nur in der Literatur unbestritten (vgl. etwa Rainer J. Schweizer, Kommentar zu Art. 10, in: Bernhard Ehrenzeller / Philippe Mastronardi / Rainer J. Schweizer / Klaus A. Vallender (Hrsg.), Die schweizerische Bundesverfassung, Zürich/Basel/Genf/ Lachen 2002, Rz. 9 und 28 sowie Steffen [FN 5], S. 38 f. m. w. H.), sondern ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 2 EMRK (SR 0.101), wonach das Recht jedes Menschen auf Leben «gesetzlich geschützt» wird.
(34) Entscheid vom 5. März 1997, auszugsweise publiziert in MedR 1997, S. 318 f. Die Krankenversicherung musste im Fall eines metastasierenden Nierenzell-Karzinoms die Kosten für ein im konkreten Einzelfall offensichtlich wirksames, aber noch nicht zugelassenes Medikament nicht übernehmen.
(35) Vgl. hierzu etwa BGE 98 Ia 514.
(36) Zur Abgrenzung der Schutzbereiche des Rechts auf Leben und des Rechts auf körperliche und geistige Unversehrtheit vgl. Steffen (FN 5), S. 258.
(37) Vgl. Ziffer 331.
(38) So Beatrice Weber-Dürler, Grundrechtseingriffe, in: Ulrich Zimmerli (Hrsg.), Die neue Bundesverfassung – Konsequenzen für Praxis und Wissenschaft, Bern 2000,
S. 151 f.
(39) So Steffen (FN 5), S. 259.
(40) Zu den einzelnen Teilgehalten der Verhältnismässigkeit vgl. eingehend Jörg Paul Müller, Elemente einer schweizerischen Grundrechtstheorie, Bern 1982, S. 132 ff.
(41) Gesundheitsökonomische Experten schätzen, dass die generelle Angemessenheitsrate medizinischer Leistungen 70 bis 85 Prozent beträgt oder dass 15 bis 30 Prozent der erbrachten Leistungen aus medizinischer Sicht ohne Nutzen sind, vgl. hierzu Julian Schilling, Thema Qualitätssicherung: Angemessenheit und Ergebnisse, Textfassung der Antrittsvorlesung vom
18. November 2002 an der Universität Zürich, S. 1 m. w. H.
(42) Gleicher Meinung Uhlenbruck (FN 14), S. 429, der vom absoluten Vorrang der Rationalisierung vor der Rationierung spricht.
(43) Vgl. die zahlreichen Literaturhinweise bei Kathrin Amstutz, Das Grundrecht auf Existenzsicherung, Bern 2002, S. 237, Anm. 380.
(44) Einen Anspruch auf «grundlegende medizinische Versorgung», «soins médicaux nécessaires» oder «cure mediche essenziali» kennen die Verfassungen der Kantone Appenzell Ausserrhoden (Art. 24 Abs. 1 KV; SR 131.224.1), Bern (Art. 29 Abs. 1 KV; SR 131.212), Neuenburg (Art. 13 KV; SR 131.233) und Tessin (Art. 13 Abs. 1 KV; SR 131.229).
(45) Der Lehre lässt sich in dieser Frage noch keine konsolidierte Position entnehmen, vgl. zu den verschiedenen Definitionsansätzen Amstutz (FN 43), S. 243 ff. m. w. H.
(46) Vgl. insbesondere BGE 121 I 374 (Erw. 2d) und Amstutz (FN 43), S. 21 ff.
(47) Vgl. hierzu eingehend Amstutz (FN 43), S. 135 ff. m. w. H.
(48) Insbesondere erfolgt der Einsatz von Bund und Kantonen «in Ergänzung zu persönlicher Verantwortung und privater Initiative» (Art. 41 Abs. 1 BV) und «im Rahmen ihrer verfassungsmässigen Zuständigkeiten und ihrer verfügbaren Mittel» (Art. 41 Abs. 3 BV).
(49) So René Rhinow, Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsverfassung, in: Ulrich Zimmerli (Hrsg.), Die neue Bundesverfassung – Konsequenzen für Praxis und Wissenschaft, Bern 2000, S. 174, und Ulrich Meyer-Blaser / Thomas Gächter, Der Sozialstaatsgedanke, in: Daniel Thürer / Jean-François Aubert / Jörg Paul Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, Zürich 2001, Rz. 23.
(50) Vgl. hierzu die Botschaft vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 201.
(51) So fordert die Motion Stähelin vom 21. März 2002 explizit, dass der Leistungskatalog der Grundversicherung auf das wohl nur schwer zu definierende «medizinisch Notwendige» zu beschränken sei (vgl. AB 2002 S 684 ff.).
(52) So die Schlussfolgerung von François Höpflinger / Valérie Hugentobler, Pflegebedürftigkeit in der Schweiz, Bern/Göttingen/Toronto/Seattle 2003, S. 13 f.
(53) So Uhlenbruck (FN 14), S. 428 und 437.