Was ist schon ein gerechtes Urteil? Mit Recht sind wir vertraut; und da kennen wir uns aus. Recht kann man studieren; man kann es lernen und man kann in Gesetzbüchern und Gerichtsentscheiden nachschlagen, welches Recht denn nun gilt. Mit der Gerechtigkeit wird es schon bedeutend schwieriger. Und wer genügend lange im Metier der Justiz tätig ist, wird irgendwann zur Erkenntnis gelangt sein, dass es zwar ganz viele Nuancen subjektiver Gerechtigkeitsvorstellungen gibt, der Begriff der objektiven Gerechtigkeit aber wohl eher den Sphären der metaphysischen Transzendenz zuzuordnen ist.
Die Justiz produziert nicht Gerechtigkeit; sie spricht Recht. Richter und Richterinnen haben – wie im Roman «Justiz» von Friedrich Dürrenmatt nachzulesen ist – dafür zu sorgen, dass eine so unvollkommene Institution funktioniert, wie es die Justiz nun einmal ist, «die dazu dient, im Diesseits für ein gewisses Einhalten menschlicher Spielregeln zu sorgen».1 Denn die Wahrheit – um nochmals Dürrenmatt zu zitieren – spielt sich in Etagen ab, die für die Justiz unerreichbar sind.
Mehr kann von der Justiz nicht erwartet werden. Denn Gerechtigkeit lässt sich nicht an objektiven Kriterien messen; sie ist abhängig von ganz subjektiven Vorstellungen und nicht selten auch vom gerade herrschenden Zeitgeist. Die Online-Kommentare in den Medien, gerade auch in den sozialen Medien, legen ein beredtes Zeugnis davon ab, wie schmal der Grat zwischen Gerechtigkeit und Selbstgerechtigkeit, zwischen Justiz und Selbstjustiz doch ist. «Wer von sich selbst behauptet, er kenne die Gerechtigkeit, oder wer gar behauptet, er kämpfe um nichts anderes als um Gerechtigkeit, der ist mir suspekt. Ich jedenfalls habe noch keine Partei erlebt, die nach verlorenem Prozess gesagt hätte: Die Gerechtigkeit hat gesiegt.»2
Sie sehen, ich bin mit meinen Ansprüchen an das gerechte Urteil im Verlauf der Zeit sehr bescheiden geworden und halte es mit Herbert Rosendorfer, einem ehemaligen deutschen Amtsrichter und Staatsanwalt, der einmal gesagt hat: «Recht und Gerechtigkeit haben miteinander etwa gleich viel zu tun wie der Kirchenverwaltungsrat mit dem lieben Gott.»3
Gerechtigkeit und die Wahl des Verfahrens. Auch die Wahl des Verfahrens hat mit der Gerechtigkeit recht wenig zu tun. Sicher: verkürzte Erledigungsformen – und dabei handelt es sich bei den besonderen Verfahrensarten allesamt – dürften an sich schon fehleranfälliger sein als ordentliche Urteile. Denn sie zielen ja auf den kurzen Prozess. Und im kurzen Prozess bleibt vieles auf der Strecke.
Es gibt denn auch neuere Untersuchungen – und zwar nicht nur aus dem Ausland, sondern auch aus der Schweiz –, die zum Ergebnis gelangen, dass Strafbefehle und abgekürzte Verfahren in besonderem Mass fehleranfällig sind, ja geradezu eine Einbruchstelle für Fehlurteile darstellen sollen.4 Die erwähnten Untersuchungen beruhen auf einer Analyse gutgeheissener Revisionsbegehren5 und sind somit nur bedingt geeignet, einen Gradmesser für das tatsächliche Ausmass von Justizirrtümern abzugeben. Denn die Tatsache, dass Revisionen zugelassen und so mit Fehlern behaftete Urteile einer Korrektur zugänglich sind, belegt ja das Funktionieren der systemimmanenten Selbstreinigungskräfte. Ich hege eine gewisse Skepsis gegen die besonderen Verfahrensarten, die uns die StPO in ihrer heutigen Form zur Verfügung stellt. Damit ich richtig verstanden werde: Ein Bedarf nach vereinfachten Erledigungsformen ist unbestritten, zumal die flächendeckende Einführung von immer wieder neuen Strafnormen anders nicht bewältigt werden kann. Wenn ich mich also im Folgenden kritisch äussere, bezieht sich diese Kritik auf die heutige Form und Ausgestaltung der besonderen Verfahrensarten. Ich kann mir durchaus Alternativen vorstellen, die zwar das Gleiche bewirken, aber mit weniger unerwünschten Nebenfolgen verbunden sind.
Besondere Verfahren und Etikettenschwindel. Die Überschrift des 8. Titels der Strafprozessordnung (StPO) «Besondere Verfahren» ist reiner Etikettenschwindel. Man kann sie als Unlauterkeit in der Gesetzgebung oder als Irreführung der Öffentlichkeit bezeichnen.
Wir haben eine Strafprozessordnung, die immerhin 457 Artikel umfasst. Es ist dort die Rede von den Grundsätzen des Strafverfahrensrechts, von den Strafbehörden, von den Parteien und anderen Verfahrensbeteiligten, von den Beweismitteln und den Zwangsmassnahmen. Es folgen Bestimmungen zum polizeilichen Ermittlungsverfahren, zur Untersuchung durch die Staatsanwaltschaft und – als krönender Abschluss – zur Anklage, zum erstinstanzlichen Hauptverfahren und zum sich daran anschliessenden Berufungsverfahren. Das Grundmodell des Strafverfahrens geht von einer klaren Aufgaben- und damit auch Machtteilung aus. Die Staatsanwaltschaft leitet das Vorverfahren6 und liefert damit das Material für Freispruch oder Verurteilung. Der abschliessende Entscheid über Schuld und Sühne aber, der bleibt dem auf Verfassung und Gesetz beruhenden, unabhängigen und unparteilichen Gericht vorbehalten.7 So weit, so gut.
Und plötzlich stösst man nach gut 350 Artikeln zum ordentlichen Verfahren im hinteren Teil der Strafprozessordnung, fast schon etwas verschämt, auf die Bestimmungen zu den besonderen Verfahrensarten. Ganze fünf Artikel sind dem Strafbefehlsverfahren und weitere sechs Artikel dem abgekürzten Verfahren gewidmet. Diese Regelungsdichte – 2,4 Prozent aller StPO-Bestimmungen – steht in umgekehrter Relation zum tatsächlichen Anwendungsbereich der besonderen Verfahrensarten im Alltag der Strafrechtspflege.
Besondere Verfahren und Rechtsalltag. Ist die Rede von einem ordentlichen Verfahren und von besonderen Verfahrensarten, wäre eigentlich zu erwarten, dass das eine die Regel und die anderen die Ausnahme bilden. Wie sieht es nun damit aber wirklich aus? In der Literatur geistern verschiedene Zahlen herum.8 Die teilweise erheblichen Unterschiede sind darauf zurückzuführen, dass einerseits zum Teil noch Zahlen aus der Zeit vor der Einführung der schweizerischen StPO – und damit vor der Erhöhung der Strafbefehlskompetenz auf sechs Monate9 verwendet werden und andererseits auf die Gesamtzahl der von der Staatsanwaltschaft erlassenen Verfügungen, inklusive Nichtanhandnahme- und Einstellungsverfügungen, abgestellt wird.
Entscheidend kann aus meiner Sicht nur ein Vergleich der auf Verurteilung gerichteten Verfügungen sein. Das heisst: Bei einer Gegenüberstellung geht es allein um die Frage, in wie vielen Fällen die Staatsanwaltschaft mit einer Anklage an das Gericht gelangt und in wie vielen Fällen sie direkt zur Verurteilung schreitet. Die Staatsanwaltschaft St. Gallen etwa erhob im Jahr 2014 in 445 Fällen Anklage und in weiteren 79 Fällen Anklage im abgekürzten Verfahren. Darin inbegriffen sind rund 150 Anklagen nach Einsprache gegen einen Strafbefehl. Den insgesamt 524 Anklagen stehen 32 314 Strafbefehle entgegen.10 Um den staatlichen Strafanspruch durchzusetzen bemühte sie noch in 1,4 Prozent der Fälle ein unabhängiges Gericht. Bei weiteren 0,2 Prozent liess sie sich den ausgehandelten Vergleich immerhin noch vom Gericht notariell beglaubigen. Und bei den restlichen 98,4 Prozent hat sie sich in bewährter Inquisitionsmanier die Binde der Justiz über das Gesicht gezogen und den von ihr ertappten Missetäter gleich selbst auch noch verurteilt.11
Bei der Bundesanwaltschaft, immerhin spezialisiert auf die Verfolgung besonders komplexer Fälle im Bereich der organisierten Kriminalität, der Wirtschaftskriminalität und der Betäubungsmitteldelikte, sieht das Bild nicht viel besser aus. 8 Anklagen im or-dentlichen und 9 Anklagen im abgekürzten Verfahren stehen 718 Strafbefehlen gegenüber.12 Auch dort also: kaum Anklagen beim Bundesstrafgericht, dafür annähernd 98 Prozent Verurteilungen mit Strafbefehl.
Besondere Verfahren und Prozessmaximen. Irgendetwas stimmt nicht mit unserer Strafprozessordnung. Das ganze Zeremoniell mit all seinen rechtsstaatlichen Grundsätzen wird noch in 1 bis 2 Prozent aller Fälle aufgefahren. Mit dem Rest wird kurzer Prozess gemacht. Ich habe nichts gegen den fairen kurzen Prozess, aber ich habe etwas gegen die Unredlichkeit. Was soll all das hehre Gerede von tat- und täterbezoge-nem Individualverschulden, von Untersuchungsgrundsatz und Offizialmaxime, von Anklageprinzip und Unmittelbarkeit, vom Anspruch auf den verfassungsmässigen Richter, von freier Beweiswürdigung, dem Grundsatz «In dubio pro reo» oder dem Öffentlich-keitsgrundsatz, wenn die vielgelobten Prozessmaximen nur noch an den wenigen hohen Feiertagen aus der Sakristei geholt werden? Denn genau dies hat uns die Probleme eingebrockt, mit denen wir uns in unserem Berufsalltag herumschlagen. Strafbefehl und abgekürztes Verfahren lassen sich nun halt einfach nicht mit den traditionellen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens vereinbaren; da helfen alle intel-lektuellen Verrenkungen nicht weiter.13
Besondere Verfahren als eigenständige Vorstufe zum Strafprozess. Marc Thommen ist in seiner Habilitationsschrift mit dem Titel «Kurzer Prozess – fairer Prozess?» dieser Frage nachgegangen und postuliert eine neue Betrachtungsweise. Der kurze Prozess soll nicht mehr länger an den Regeln des ordentlichen Prozesses gemessen werden, sondern als ordentlicher und zugleich eigenständiger Prozess wahrgenommen werden, als ein Prozess, der anderen Zwecken dient, andere Ziele verfolgt und von anderen Abläufen geprägt ist.14
Legitimationsgrundlage der strafrechtlichen Verurteilung bildet bei dieser Verfahrenskategorie nicht mehr länger die Ausgestaltung des Verfahrens nach rechtsstaatlichen Grundsätzen, sondern ausschliesslich und allein die konsensuale Einwilligung des Betroffenen. Die formelle Wahrheit wird durch eine konsensuale Wahrheit ersetzt – der einvernehmliche Vertrag ersetzt den staatlichen Hoheitsakt. Es kommt analog den neueren technischen Gepflogenheiten in Bibliotheken oder Einkaufszentren zu einer Selbstverurteilung durch den geständigen Beschuldigten. Er akzeptiert den von den Strafverfolgungsbehörden gehegten Verdacht, übernimmt dafür die Verantwortung und willigt in die offerierte Strafe ein. Erst wenn diese auf Konsens beruhende Erledigung nicht gelingt, erst dann soll der traditionelle Strafprozess ins Spiel kommen – dafür dann aber mit dem Vollprogramm.
Ich hatte anfangs Mühe, diesen Gedanken zu folgen und damit zugleich Abschied zu nehmen vom traditionellen Bild des Strafbefehls. Denn dieser soll ja nach gängiger Auffassung nichts anderes sein als ein vollwertiges Surrogat für das gerichtliche Urteil, das unter Wahrung der Partizipationsrechte aller Beteiligten und nach umfassender Abklärung und Würdigung aller Umstände im ordentlichen Verfahren ergeht. Aber je länger ich mich mit dem Gedanken beschäftigte, desto mehr drängte sich mir die Frage auf, ob es vielleicht nicht sinnvoller wäre, Strafbefehl und abgekürztes Verfahren aus dem Kontext des Strafverfahrens zu lösen und damit auch die Realitäten im Alltag der Strafrechtspflege anzuerkennen. Denn Strafe und Strafrecht sind in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts nicht mehr das, was sie zu den Zeiten der grossen Strafrechtsdenker vor nun doch auch schon mehr als hundert Jahren einmal waren.
Von der Strafe zur staatlichen Lenkungsmassnahme. Bis weit in die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts war das Strafrecht noch geprägt von der Idee eines klassischen Individualgüterrechtsschutzes. Es beschränkte sich darauf, im Nachhinein Verstösse gegen die grundlegendsten Gebote des menschlichen Zusammenlebens zu ahnden. Ein bisschen mehr als die seinerzeitigen zehn Gebote waren es zwar schon, aber es hielt sich in engen Grenzen. Seither hat sich der Charakter des Strafrechts entscheidend verändert. Die Politik hat das Strafrecht als Allerweltsheilmittel zur vermeintlichen Lösung aller Probleme in allen Lebenslagen entdeckt. Ob Terrorismus oder Hooliganismus, ob Nacktwandern oder Pelztragen, ob häusliche Gewalt oder Littering, ob streunende Jugendliche oder freilaufende Hunde – die Antwort blieb sich in den vergangenen Jahren immer gleich: Die Lösung gesellschaftlicher Probleme wird an die Strafjustiz delegiert.
Dies zeigt sich besonders eindrücklich am Gesetzgebungsaktivismus der vergangenen Jahrzehnte. In den ersten vierzig Jahren seit Inkrafttreten des StGB sah sich der Gesetzgeber noch kaum veranlasst, Änderungen vorzunehmen. Und heute? Heute folgen sich die Revisionen fast im Zweimonatsrhythmus. Allein in den letzten zehn Jahren waren es nicht weniger als 56 Änderungsverfahren, die mehr oder weniger geglückt über die Bühne gingen.15
Was bedeutet dies nun für die Strafrechtsanwendung? Die fast schon flächendeckende Kriminalisierung des Alltags zeitigt Auswirkungen in zweierlei Hinsicht. Zum einen sinkt die Bedeutung des gesellschaftlichen Unwerturteils, das mit der strafrechtlichen Verurteilung zum Ausdruck gebracht werden soll. Wie schon der Soziologe Heinrich Popitz Ende der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ausgeführt hat, verliert nicht nur der Pranger seinen Schrecken, sondern auch der Normbruch seinen Ausnahmecharakter, wenn allzu viele an den Pranger gestellt werden.16 Die Strafe wirkt in diesem Fall nicht mehr stigmatisierend, sie ist einfach hinzunehmen, wenn man sich im Alltag bewegen will. Das ist die eine Konsequenz der inflationären Ausbreitung strafrechtlicher Normen: Strafe ist – jedenfalls im Bereich der Bagatellkriminalität – nicht mehr mit einer gesellschaftlichen Stigmatisierung verbunden, sondern nähert sich je länger je mehr einer staatlichen Lenkungsabgabe an, mit der ein möglichst normkonformes Verhalten im Alltag gesteuert werden soll. Dies hat aber auch Auswirkungen auf das Verfahren: Lenkungsabgaben sind ein typisches Instrument des Verwaltungs-, allenfalls noch des Polizeirechts, sicher aber nicht des Strafprozessrechts. Akzeptiert der Betroffene die ihm auferlegte Abgabe, kann es damit sein Bewenden haben. Einer weiteren Legitimierung bedarf es dazu nicht mehr.
Von der individuellen Schuldzurechnung zum anonymen Massengeschäft. Die andere Konsequenz der zunehmenden strafrechtlichen Durchdringung des Alltags ist die Überfrachtung des Systems. Das Strafjustizsystem kollabiert, falls es nicht geeignete Gegenstrategien entwickelt. Und mit dem Siegeszug des Strafbefehls scheint diese Entlastungsstrategie gefunden zu sein. Das abgekürzte Verfahren – heute eigentlich nichts anderes als ein qualifizierter Strafbefehl für das Grobe, der zusätzlich noch der notariellen Bestätigung durch das Gericht bedarf – steht zwar erst am Anfang. Für mich besteht aber kein Zweifel daran, dass auch diese Abschlussart – ob man es nun will oder nicht – in absehbarer Zukunft den vermeintlich ordentlichen Prozess weiter verdrängen wird.
Bei diesen besonderen Verfahrensarten handelt es sich schon heute längst nicht mehr um eine blosse Abart des traditionellen Strafprozesses. Es geht hier nicht um die akribische Erforschung der materiellen Wahrheit; es geht auch nicht um eine umfassende Partizipation aller Beteiligten. Das Ganze spielt sich auch nicht im Rahmen eines von der Öffentlichkeit argwöhnisch beobachteten Verfahrens ab. Es geht hier allein um eine möglichst reibungslose, kostengünstige und speditive Liquidation der durch einen Normverstoss ausgelösten Konfliktsituation.17
Und hier kann ich mir sehr wohl vorstellen, weitgehend alle herkömmlichen strafprozessualen Prozessmaximen über Bord zu werfen, sofern und solange der Betroffene mit dem Schuldspruch und der ausgefällten Sanktion einverstanden ist und nicht die Durchführung eines formellen Verfahrens verlangt. Ich habe es bereits erwähnt: Staatliche Lenkungsabgaben, auch wenn sie in der althergebrachten Form einer strafrechtlichen Sanktion verhängt werden, erfordern nicht das gleiche Programm wie die Ahn-dung eines schwerwiegenden Verstosses gegen die elementaren Regeln des menschlichen Zusammenlebens.
Aus meiner Sicht spricht deshalb wenig dagegen, den ganzen Bereich der alltäglichen Massenkriminalität aus dem traditionellen Strafprozess auszugliedern und in eine neue Art des Ordnungswidrigkeitenrechts vorzuverlagern. Ordnungsbussen kennen wir bereits. Auch die provisorische Sanktionierung ohne Durchführung eines Strafprozesses ist bereits vorgedacht – mit der Möglichkeit, einen Strafbefehl schon vor der Eröffnung der Untersuchung zu erlassen.18
So beruhen etwa im Kanton St. Gallen von den insgesamt über 28 000 Strafbefehlen nicht weniger als 91 Prozent ausschliesslich auf den Ergebnissen des polizeilichen Ermittlungsverfahrens, ohne dass es je zur Eröffnung einer staatsanwaltschaftlichen Untersuchung gekommen wäre.19 Was eigentlich noch fehlt, ist nur der Mut, Strafrecht und Strafprozessrecht von unnötigem Ballast zu entschlacken. Ultrakurzer Prozess, aber nicht mehr länger Strafprozess für die ganze Masse der Bagatellkriminalität. Und ordentlicher, dafür aber wirklich ordentlicher Strafprozess, wenn der Betroffene dies wünscht.
Die Konsequenzen. Zunächst einmal stelle ich mir einen radikalen Ausbau des Ordnungsbussenrechts vor, der weitgehend alle Übertretungen erfasst, mit denen einerseits nicht Rechtsgüter Dritter verletzt wurden und zu deren Sanktionierung andererseits nicht das individuelle Verschulden des Täters im Vordergrund steht. Auf den heute im Ordnungsbussengesetz noch vorgesehenen Höchstbetrag von 300 Franken könnte ohne weiteres verzichtet werden, wenn nicht mehr der strafende Charakter der Sanktion, sondern die Einwilligung des Betroffenen in den Vordergrund gerückt wird.20 Damit würde auch endlich eingestanden, dass im Bereich der Massenkriminalität die Praxis mit ihren formellen und informellen Strafmassempfehlungen21 schon längst Abschied vom individuellen Tatverschulden genommen hat.
Zweitens könnte ich mir vorstellen, dass für den gesamten Bereich der mit Geldstrafe – deren Anwendungsbereich ja ohnehin auf 180 Tagessätze reduziert werden soll22 – und/oder Busse zu sanktionierenden Vergehen ein dem Strafprozess vorgelagertes und von den Strafbehörden getrenntes, eigenständiges Verfahren eingeführt wird. Im Rahmen dieses Verfahrens würde es allein darum gehen, ohne weitere Beweiserhebungen und aufgrund einer summarischen Abklärung des Tatvorwurfs den Normverstoss provisorisch festzustellen und dafür eine Sanktion auszufällen. Provisorisch deshalb, weil die Betroffenen frei entscheiden können, ob sie das vorläufige Verdikt akzeptieren oder die Durchführung eines ordentlichen Strafprozesses verlangen möchten. Ich kehre damit zu meinem Ausgangspunkt zurück: Der Konsens ersetzt für den gesamten Bereich der massenhaften Bagatellkriminalität die rechtsstaatliche Legitimationsbasis. Dieser Konsens – und das dürfte eines der Hauptprobleme sein – setzt allerdings einen informierten Klienten voraus, der in Kenntnis der Situation und der ihm zustehenden Rechte das Angebot annimmt. Liegt diese Zustimmung nicht vor, weil etwa der Betroffene von allem Anfang an mit dem ultrakurzen Prozess nicht einverstanden ist oder Einspruch gegen die im Rahmen jenes Verfahrens verhängte Sanktion erhebt, gelangt das Vollprogramm des ordentlichen Strafprozesses zur Anwendung.
Die Idee ist nicht ausgereift, und es wären noch zahlreiche Fragen zu klären, die sich allerdings auch bei der heutigen Ausgestaltung der besonderen Verfahren stellen. Wie sieht es mit den Partizipationsrechten anderer Verfahrensbeteiligter aus? Müsste der ultrakurze Prozess allenfalls auf opferlose Delikte beschränkt oder müsste das Konsenserfordernis auch auf das Tatopfer ausgedehnt werden? Wie wird sichergestellt, dass die Zustimmung zur Lenkungsabgabe freiwillig und in Kenntnis aller dazu erforderlichen Informationen erfolgt? Braucht es eine ausdrückliche Zustimmung oder genügt ein stillschweigendes Einverständnis. Hat die Öffentlichkeit einen Anspruch darauf, von allen Vergleichen mit strafrechtlichem Hintergrund Kenntnis zu erhalten? Unter welchen Voraussetzungen kann das provisorisch erledigte Verfahren wieder aufgenommen werden? Wie sieht es mit dem Grundsatz «Ne bis in idem» aus? Werden auch die Ergebnisse der ultrakurzen Prozesse im Strafregister eingetragen? Welche Anforderungen sind an die Ausbildung und die Verantwortung der zum Dealen befugten Beamten zu stellen?
Ich höre schon den Einwand, dass wir ja den ultrakurzen Prozess schon mit dem heutigen Strafbefehl haben und eine Neuausrichtung nicht nötig ist. Das mag zum Teil stimmen. Mir scheint aber, dass der Strafbefehl in seiner heutigen Form weder Fisch noch Vogel ist. Er wurde einfach einmal vor vielen, vielen Jahren als Annex an den Strafprozess angebaut, weil er sich damals gerade so anbot. Aus der Strafkompetenz von anfänglich drei Wochen noch in den 1980er-Jahren wurden dann später ein Monat, dann drei Monate – und inzwischen sind wir bei sechs Monaten angelangt. Die ursprüngliche Ausnahme ist schon längst zur Regel geworden. Damit scheint für mich der Zeitpunkt gekommen zu sein, um sich grundsätzliche Gedanken darüber zu machen, ob wir im Strafprozess weiterhin mit provisorischen Anbauten leben möchten – oder ob wir nicht doch besser einen zeitgemässen Neuaufbau wagen sollten.
Leicht gekürzter Vortrag, gehalten an der Jahrestagung der Schweizerischen Kriminalistischen Gesellschaft in Basel (28. Mai 2015)