1. Arbeitsrecht
Im Jahr 2012 sind nur wenig arbeitsrechtliche Entscheide des Bundesgerichts in der amtlichen Sammlung veröffentlicht worden. Auf einige unter ihnen wurde schon in der Rechtsprechungsübersicht 2011 hingewiesen.
1.1 Passivlegitimation bei Konzerngesellschaften
Ein Temporärarbeiter erlitt einen Unfall auf einer Baustelle. Als er Schadenersatz forderte, war unklar, ob die Tochtergesellschaft Givaudan Schweiz AG (ehemals «Givaudan Roure Aktiengesellschaft») oder die Muttergesellschaft Givaudan AG (ehemals «Givaudan Roure [International] AG») für die Baustelle zuständig war.
Das Bundesgericht erwog in BGE 137 III 550,1 dass es hier nicht um einen eigentlichen Durchgriff gehe, sondern um eine Vermischung der Wirkungsbereiche, wenn äusserlich die Identität einer Tochtergesellschaft nicht von der Identität der Muttergesellschaft unterschieden werden könne. Der Anschein der Einheit könne durch äusserliche Anzeichen wie identische oder sehr ähnliche Firmen oder identische Sitze, Räumlichkeiten, Organe, Angestellte oder Telefonnummern erweckt werden. Im Fall von Givaudan wurde eine solche Sphärenvermischung bejaht. Dies erlaubte dem Arbeitnehmer, wahlweise von der Mutter- oder von der Tochtergesellschaft Schadenersatz zu verlangen.
1.2 Lohnfragen
In einem zur Publikation bestimmten Urteil vom 26. Februar 20132 schränkte das Bundesgericht seine bisherige Rechtsprechung, wonach ein Bonus neben dem Lohn nur eine zweitrangige Bedeutung haben darf, um den Charakter einer Sondervergütung zu wahren und nicht zum variablen Lohn zu werden, in Fällen hoher Einkommen ein. Wenn der eigentliche Lohn die wirtschaftliche Existenz des Arbeitnehmers bei Weitem gewährleistet beziehungsweise seine Lebenshaltungskosten erheblich übersteigt, so das Bundesgericht, ist die Höhe der Gratifikation im Verhältnis zum Lohn kein taugliches Kriterium mehr, um über den Lohncharakter des Bonus zu entscheiden. Ein richterliches Eingreifen in die Privatautonomie der Parteien sei in einem solchen Fall nicht durch ein entsprechendes Schutzbedürfnis des Arbeitnehmers legitimiert.
Im beurteilten Fall standen einem Wertschriftenhändler unbestrittenermassen über 2 Millionen Franken Fixgehalt und Cashanteil des Bonus zu. Das Gericht verweigerte dem Wertschriftenhändler weitere 1,3 Millionen Franken Performance Incentive Bonus, den die Bank nach der Kündigung durch den Arbeitnehmer nicht mehr auszahlen wollte.
In BGE 138 III 1073 bestätigte das Bundesgericht die Rechtsprechung, wonach die Zulagen für Nacht-, Feiertags- und Wochenendarbeit bei der Berechnung des Ferienlohnes nur zu berücksichtigen sind, wenn sie einen andauernden und regelmässigen Charakter haben.
Das Arbeitsgericht Zürich hatte über eine Lohnforderung eines Verkäufers von Sprachkursen zu befinden, der ausschliesslich mit Provisionen entschädigt wurde.4 Es sprach dem Kläger gestützt auf statistische Lohndaten einen Monatslohn von 5500 Franken zu. Das Gericht befand, dass die Voraussetzungen von Art. 349a Abs. 1 OR für die Abgeltung des Handelsreisenden ausschliesslich durch Provisionen in doppelter Hinsicht nicht erfüllt waren: Weder war eine diesbezügliche schriftliche Abrede getroffen worden, noch stellten die vom Arbeitgeber monatlich ausbezahlten 1272 Franken ein angemessenes Entgelt für die Tätigkeit des mit reichlich Berufserfahrung ausgestatteten Handelsreisenden dar.
1.3 Überstunden
Wenn ein Arbeitnehmer eine dem GAV widersprechende Vereinbarung über die Arbeitszeit im eigenen Interesse und in Kenntnis ihrer Unzulässigkeit selber vorschlägt, handelt er gemäss dem Arbeitsgericht Zürich5 rechtsmissbräuchlich, wenn er sich später auf die zwingende GAV-Norm beruft, um eine Überstundenforderung geltend zu machen. Die Forderung aus Überzeitarbeit verwirkt er hingegen nicht, hatte doch der Arbeitgeber den Vertrag in bewusster Missachtung arbeitsgesetzlicher Vorschriften abgeschlossen.
1.4 Konkurrenzverbot
Der Arbeitsvertrag eines Kaderangehörigen enthielt eine Klausel, die dem Arbeitnehmer während des Vertragsverhältnisses sowie sechs Wochen nach dessen Beendigung ein Konkurrenz- und Abwerbeverbot auferlegte, unter Abrede einer Konventionalstrafe von sechs Monatslöhnen. Der Arbeitnehmer hatte das Arbeitsverhältnis aus berechtigtem Anlass gekündigt, wie schon die kantonalen Gerichte feststellten.
Vor dem Bundesgericht war die Höhe der Konventionalstrafe strittig. Das Bundesgericht schützte die Erwägungen der Vorinstanz vollumfänglich.6 Auch wenn eine Kündigung aus begründetem Anlass zum Wegfall des nachvertraglichen Konkurrenzverbots geführt habe, sei der Arbeitnehmer während der Kündigungsfrist an das aus Art. 321a OR fliessende Konkurrenzverbot gebunden. Zwar sei es ihm erlaubt, während der Kündigungsfrist eine nachvertragliche konkurrenzierende Tätigkeit vorzubereiten. Er dürfe jedoch eine vertragliche Erweiterung des aus der allgemeinen Treuepflicht fliessenden Konkurrenzverbots nicht verletzen.
Der Beschwerdeführer habe den Arbeitsvertrag verletzt, indem er während noch laufendem Arbeitsverhältnis ein Konkurrenzunternehmen mitgegründet habe. Eine Herabsetzung der Konventionalstrafe müsse jedoch deswegen erfolgen, weil sie dem Arbeitsvertrag zufolge nicht nur Straf- und Disziplinarcharakter habe, sondern auch Ersatzcharakter. Letzteres sei aufgrund der relativ zwingenden Bestimmung von Art. 321e OR unzulässig. Im Übrigen aber treffe den Arbeitnehmer ein nicht unerhebliches Verschulden, zumal der Treuepflicht bei Kaderangehörigen eine erhöhte Bedeutung zukomme. Das Bundesgericht fand deshalb keinen Grund, die von der Vorinstanz festgesetzte Höhe der Konventionalstrafe von 25 000 Franken (rund zwei Monatslöhne) zu beanstanden.
1.5 Ordentliche Kündigung
Einer Angestellten des Kantons Neuenburg wurde trotz Schwangerschaft gekündigt. Die Angestellte befand sich noch in einem sogenannten «provisorischen Anstellungsverhältnis», das nach der neuenburgischen Gesetzgebung zwei Jahre dauern kann. Das kantonale Gesetz verbietet zwar missbräuchliche Kündigungen auch beim provisorischen Anstellungsverhältnis, sieht jedoch keinen zeitlichen Kündigungsschutz vor. Das Bundesgericht lehnte es ab, eine Gesetzeslücke anzunehmen, und erklärte die Kündigung für rechtens.7
Die E-AG kündigte ihrem Generaldirektor unter Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist. Gemäss seinem Arbeitsvertrag betrug die Arbeitszeit mindestens 42 Stunden pro Woche. Er war verpflichtet, die ganze Arbeitszeit für die Arbeitgeberin einzusetzen. Und es war ihm ohne ausdrückliche Genehmigung verboten, Tätigkeiten für andere Unternehmen auszuüben, die möglicherweise die E-AG konkurrenzieren.
Nun wurde dem Generaldirektor vorgeworfen, an mehreren Verwaltungsratssitzungen der neugegründeten Firma F. teilgenommen zu haben. Gemäss ihrem statutarischen Zweck sollte F. eine konkurrenzierende Tätigkeit zur E-AG beziehungsweise mit der E-AG konzernmässig verbundenen Gesellschaften ausüben. Dass die Firma F. ihre konkurrenzierende Tätigkeit im Zeitpunkt der Kündigung bereits aufgenommen hatte, war nicht erwiesen. Die Arbeitgeberin warf dem Generaldirektor in der Kündigung vor, den Arbeitsvertrag verletzt zu haben, indem er nicht seine ganze Zeit der E-AG zur Verfügung gestellt habe.
Der Generaldirektor berief sich auf die Vereinsfreiheit; er habe ein verfassungsmässiges Recht im Sinne von Art. 336 Abs. 1 lit. b OR ausgeübt. Das Bundesgericht stellte sich zwar die Frage, ob jede noch so geringfügige Vertragsverletzung ausreiche - wie in casu eine geringfügige zeitliche Absenz -, um die Missbräuchlichkeit der Kündigung zu beseitigen. Dies sei dann zu verneinen, wenn die Vertragsverletzung im Normalfall geduldet worden wäre und der Arbeitgeber nur deshalb mit der Kündigung reagierte, weil die Vertragsverletzung im Zusammenhang mit der Ausübung eines verfassungsmässigen Rechts stand. Doch fand das Bundesgericht die Rechtfertigung für die Kündigung darin, dass der Generaldirektor gegen die im Arbeitsvertrag gegenüber dem Gesetz noch verschärfte Treuepflicht verstossen hatte.
Die Tatsache, dass die Arbeitgeberin die Kündigung zunächst mit nicht zutreffenden Motiven begründet hatte, blieb ohne Einfluss auf den Entscheid. Eine falsche Begründung schafft noch keine Vermutung der Missbräuchlichkeit und führt nicht zu einer Umkehr der Beweislast.8
1.6 Missbräuchliche Änderungskündigung
Eine Arbeitgeberin beschuldigte drei Mitarbeiterinnen eines Pflegeheims, Insassen misshandelt zu haben. Das Pflegeheim konnte die Vorwürfe nicht beweisen; die schriftlichen Beschwerden hatten sich gegen eine andere Mitarbeiterin gerichtet. Die Arbeitgeberin wollte den Mitarbeiterinnen mit einer Änderungskündigung ein reduziertes Pensum und andere Aufgaben zuweisen, was die Betroffenen jedoch nicht akzeptierten. Das Bundesgericht sprach den Arbeitnehmerinnen letztinstanzlich eine Entschädigung wegen missbräuchlicher Kündigung zu.9
Es handle sich um einen sanktionswürdigen Angriff auf die berufliche und persönliche Ehre der Arbeitnehmerinnen, wenn die Arbeitgeberin ihnen schwere Verfehlungen in der Arbeitsausführung vorwerfe, ohne dafür genügende Beweise vorlegen zu können. Das Bundesgericht fügte hinzu, dass eine Stigmatisierung von Arbeitnehmern auch dann eine Verletzung der Fürsorgepflicht darstellen könne, wenn die Vorwürfe zutreffend sind.
Ein langjähriger leitender Direktor lehnte zweimal seine Funktion und seinen Lohn betreffende Änderungsofferten ab. Darauf kündigte ihm die Arbeitgeberin. Das Arbeitsgericht Zürich beurteilte die Kündigung als missbräuchlich und sprach dem Direktor drei Monatslöhne Entschädigung zu.10
Der als Kündigungsmotiv geltend gemachte Gewinneinbruch sei nur temporär gewesen. Es seien ausschliesslich «die nackten Geschäftszahlen» gewesen, welche die Arbeitgeberin veranlassten, den Lohn des Klägers um immerhin gut zehn Prozent zu senken. Hierzu habe kein hinreichend schützenswertes Interesse der Beklagten bestanden. Das Sparpotenzial sei nur gering gewesen. Das Interesse des zwei Jahre vor der Pension stehenden und zwanzig Jahre für die Beklagte tätig gewesenen Direktors sei angesichts der in diesem Fall erhöhten Fürsorgepflichten höher zu gewichten.
1.7 Fristlose Kündigung
Die Gerichte des Kantons Waadt hatten einem Angestellten, der an seinem Arbeitsplatz gemobbt worden war und psychisch krank wurde, 39 000 Franken Entschädigung wegen ungerechtfertigter fristloser Kündigung und 12 000 Franken Genugtuung zugesprochen. Der Angestellte verlangte vor Bundesgericht eine Erhöhung der Entschädigung und eine Genugtuung von 100 000 Franken. Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab. Es verwies auf frühere Urteile und hielt fest, dass sich der Rahmen der Genugtuungsbeträge in Fällen von Mobbing und sexueller Belästigung zwischen 5000 und 25 000 Franken bewegte.11
In BGE 138 I 113 äusserte sich das Bundesgericht ausführlich zur Reaktionsfrist bei fristlosen Kündigungen in öffentlich-rechtlichen Arbeitsverhältnissen. Die «Zwei-bis-drei-Tage-Regel» des Privatrechts kommt gemäss Bundesgericht nicht zur Anwendung. Dem öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber wird eine längere Frist eingeräumt. Dies sei deshalb gerechtfertigt, weil einerseits die formellen Anforderungen an eine rechtmässige fristlose Entlassung höher als im Privatrecht seien und andererseits eine fristlose Kündigung für den Arbeitgeber und damit für die öffentliche Hand mit höheren Risiken verbunden sei.
Im betreffenden Fall war einem Lehrer, der am 2. Juli 2007 auf einer Schulreise gegenüber einer unbotmässigen Schülerin handgreiflich geworden war, am 30. Juli fristlos gekündigt worden. Der Lehrer hatte vor Bundesgericht erfolglos geltend gemacht, dass die fristlose Kündigung verspätet erfolgt sei. Das Bundesgericht hielt dem Lehrer vor, dass er die zeitliche Verzögerung, die nach Gewährung des rechtlichen Gehörs eintrat, grösstenteils selber verschuldet habe.
Mehr Glück hatte ein Zugbegleiter der SBB, der einem renitenten Fahrgast bei einer Fahrausweiskontrolle die Faust ins Gesicht geschlagen hatte. Nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts hatte der Zugbegleiter zwar eine schwere Pflichtverletzung begangen, doch hätte eine Verwarnung als Sanktion ausgereicht.12 Zu berücksichtigen sei, dass der Angestellte provoziert worden sei (der Fahrgast hatte ihm gegen das Schienbein getreten) und er reflexartig zugeschlagen habe. Der Zugbegleiter hatte sich zuvor in einer 24-jährigen Tätigkeit für die SBB nichts zu Schulden kommen lassen. Das Bundesverwaltungsgericht erklärte die Kündigung für nichtig. Weder für eine fristlose noch für eine ordentliche Kündigung habe ein ausreichender Grund vorgelegen.
In einem zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehenen Urteil vom 17. Januar 201313 erkannte das Bundesgericht im Fall eines stellvertretenden Zivilschutzkommandanten, dass eine fristlose Kündigung nicht aufgrund unrechtmässig beschaffter Beweismittel ausgesprochen werden dürfe. Der Angestellte war verdächtigt worden, den Arbeitscomputer während der Arbeitszeit zu arbeitsfremden Zwecken zu nutzen. Mit einer Spionagesoftware konnte ihm nachgewiesen werden, dass er einen erheblichen Teil seiner Arbeitszeit für private oder zumindest geschäftsfremde Tätigkeiten verwendete.
Das Bundesgericht befand jedoch, dass der verdeckte Einsatz eines Überwachungsprogramms unzulässig sei. Das berechtigte Interesse an der Kontrolle der Arbeitsleistung lasse sich auch mit weniger in die Privatsphäre eingreifenden Mitteln - etwa der Sperrung gewisser Webseiten und der Analyse der Webnutzung und der elektronischen Post gemäss den Richtlinien des Eidgenössischen Datenschützers - durchsetzen. Die fristlose Kündigung war deshalb nicht rechtmässig.
Bei einer ungerechtfertigten fristlosen Entlassung hat die Arbeitnehmerin Anspruch auf Schadenersatz für den entgangenen Lohn, bei Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit für die entgangene Lohnfortzahlung. Hatte die Arbeitnehmerin indessen Kenntnis von der Möglichkeit zum Abschluss einer freiwilligen Versicherung zur Deckung von Risiken, die infolge der Kündigung nicht mehr versichert waren, und ist sie dennoch untätig geblieben, kann sie sich nicht über die entstandene Deckungslücke beklagen. Dies ist Folge der Schadenminderungspflicht, die auch die ungerechtfertigt entlassene Arbeitnehmerin trifft.14 Konkret ging es darum, dass von der Arbeitnehmerin verlangt wurde, nach Ablauf der Nachdeckungsfrist in die Einzelversicherung der Krankentaggeldversicherung überzutreten. Die Versicherungsprämien hätte sie als Schadenersatz geltend machen können.
1.8 Betriebsübergang
Gemäss BGE 137 V 46315 entfaltet der Übergang des Arbeitsverhältnisses nach Art. 333 OR seine Wirkung frühestens ab dem Zeitpunkt der Mitteilung des Betriebsübergangs. Der Schutzzweck von Art. 333 OR verbiete eine Rückwirkung, auch wenn eine solche zwischen übernehmendem und übergebendem Betrieb vertraglich vereinbart wurde. Sieht der Arbeitsvertrag ausdrücklich eine der weitergehenden beruflichen Vorsorge zugehörige Versicherungsdeckung vor, so muss der neue Arbeitgeber diese Vorsorge aufrechterhalten und zu den gleichen Bedingungen weiterführen.
1.9 GAV-Recht
Eine Bauunternehmung, die nicht dem Schweizerischen Baumeisterverband angeschlossen war, weigerte sich, die Beiträge für den flexiblen Altersrücktritt gemäss dem Gesamtarbeitsvertrag für den flexiblen Altersrücktritt im Bauhauptgewerbe (GAV FAR) zu bezahlen. Sie stellte sich auf den Standpunkt, die Beitragserhebung entbehre einer genügenden gesetzlichen Grundlage und verstosse gegen das Legalitätsprinzip im Abgaberecht und das Gewaltentrennungsprinzip.
Das Bundesgericht teilte die Meinung des Bauunternehmers nicht.16 Es liess offen, ob es sich bei Arbeitgeberbeiträgen, die gestützt auf eine Allgemeinverbindlicherklärung zu entrichten sind, um öffentlich-rechtliche Abgaben handelt. Der Kreis der Abgabepflichtigen werde durch die materiellen Voraussetzungen von Art. 2 Ziff. 3 des Bundesgesetzes über die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen (AVEG) genügend eingeschränkt. Laut der gesetzlichen Vorgabe von Art. 1 Abs. 2 AVEG in Verbindung mit Art. 357b Abs. 1 lit. b OR können Beiträge an Ausgleichskassen und andere das Arbeitsverhältnis betreffende Einrichtungen erhoben werden. Würde man der Auffassung der beschwerdeführenden Bauunternehmung folgen, wonach die Bemessung der Beiträge einer formell-gesetzlichen Grundlage bedürfe, würde in der Konsequenz das Institut der Allgemeinverbindlichkeit von Gesamtarbeitsverträgen - wie auch jenes des Gesamtarbeitsvertrages selber - weitgehend seines Gehalts entleert, befand das Bundesgericht.
Ein Schlosser wollte gestützt auf den allgemeinverbindlich erklärten GAV mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 41 Stunden eine Überstundenforderung durchsetzen, da er aufgrund einer mündlichen Vereinbarung 45 Stunden pro Woche arbeitete. Das Bundesgericht wies die Forderung ab.17 Das Bundesgericht erwog, dass eine vom GAV abweichende Vereinbarung der Wochenarbeitszeit nicht zwingend in Schriftform zu erfolgen habe; auch wenn die GAV-Wochenarbeitszeit überschritten werde, liege keine Überzeit-Arbeit vor. Es komme das Günstigkeitsprinzip zur Anwendung. Es sei jedoch ein objektiver Massstab anzulegen, was dazu führe, dass nicht die einzelnen Bestimmungen isoliert miteinander verglichen werden könnten.
Der Günstigkeitsvergleich in Form eines Gruppenvergleichs durch Gegenüberstellung des Minimallohns gemäss GAV zuzüglich Überstundenentschädigung und des vereinbarten Lohns ergebe, dass der vereinbarte Lohn für den Arbeitnehmer günstiger gewesen sei. Das Bundesgericht supponiert, dass eine Herabsetzung der Arbeitszeit auch zu einer Herabsetzung des Lohnes mittels Änderungskündigung geführt hätte, weshalb auch bei einem Einzelvergleich kein anderes Ergebnis resultiert hätte.
Die bedauerliche Folge dieser Rechtsprechung ist, dass GAV-Arbeitszeiten nicht eingehalten werden müssen, wenn nur der GAV-Minimallohn, hochgerechnet auf die vertragliche (jedoch GAV-widrige) Arbeitszeit inklusive Zuschlag, eingehalten wird. Es ist abzusehen, dass dies dazu führt, dass die GAV-Standards ausgehöhlt werden können.
2. Mietrecht
2.1 Zivilprozessordnung
Während in der letzten Berichtsperiode18 nur gerade ein höchstrichterlicher Entscheid aus diesem Rechtsbereich zu vermelden war, hatte das Bundesgericht inzwischen Gelegenheit, mehrere Fragen zu klären, die in den zahlreichen ZPO-Kommentaren der ersten Stunde unterschiedlich beantwortet werden. Die Prozessanwälte bewegen sich damit zumindest ein Stück weit auf weniger dünnem Eis.
2.1.1 Gerichtsferien
Mit der Ausstellung der Klagebewilligung ist das Schlichtungsverfahren abgeschlossen. Die nachfolgende dreissigtägige Frist zur Anrufung des Gerichts (Art. 209 Abs. 4 ZPO) fällt daher nicht mehr unter die Regeln des summarischen Verfahrens und wird während der Gerichtsferien (Art. 145 ZPO) unterbrochen.19
Anders verhielt es sich in jenen Fällen, in denen die Schlichtungsbehörde noch nach altrechtlicher Zuständigkeit einen Prima-facie Vorentscheid fällte (Art. 273 Abs. 4 aOR). Dieser Entscheid fiel bei Anrufung des Richters dahin. Er schloss keine Instanz ab. Übergangsrechtlich unterbrachen die Gerichtsferien die Frist zur Anrufung des Richters daher nicht.20
2.1.2 Vereinfachte Verfahren
Mietrechtliche Auseinandersetzungen unterstehen unabhängig vom Streitwert den vereinfachten Verfahren, sofern sie den Kernbereich der Sozialschutzgesetzgebung betreffen (bei der Mietzinshinterlegung, dem Schutz vor missbräuchlichen Mietzinsen und Kündigungen und bei der Erstreckung; Art. 243 Abs. 2 lit. c ZPO).
Insbesondere in der Westschweiz wird die Meinung vertreten, dass Klagen gegen eine ausserordentliche Kündigung nicht unter diese Bestimmung fallen, falls nur die Wirksamkeit der Kündigung Gegenstand des Verfahrens ist (vgl. dazu BGE 121 III 156 E. 1c/aa). Das leiten einzelne Kommentare aus dem in Art. 243 Abs. 2 lit. c verwendeten Begriff «Kündigungsschutz» ab. Ihrer Auffassung nach ist dieser Begriff so auszulegen, wie er in der Überschrift zum dritten Abschnitt des 8. Titels des Obligationenrechts verstanden wird.21 François Bohnet dehnt das auch auf die Ausweisungen aus.
Diese Lehrmeinungen gehen ohne Not von einer engen Begriffsauslegung aus und führen zu einem eher paradoxen Ergebnis. Das vereinfachte Verfahren stellt weniger hohe formelle Anforderungen und soll damit der Mietpartei die Durchsetzung der mit der Sozialschutzgesetzgebung gewährleisteten Rechte erleichtern. Diese Erleichterung würde aber ab einem Streitwert von 30 000 Franken ausgerechnet in jenen Fällen wegfallen, die für den Mieter sehr einschneidende Auswirkungen haben, nämlich bei der ausserordentlichen Kündigung und bei einer Ausweisung.
Die Argumente für und gegen die zitierten Lehrmeinungen wurden dem Bundesgericht vorgetragen, das sich aber nicht festlegen wollte. Immerhin markierte es Verständnis für die kritischen Einwendungen der Vorinstanz zu den zitierten Lehrmeinungen.22
2.1.3 Dauer der Schlichtung
Die ZPO schreibt der Schlichtungsbehörde eine Verfahrensdauer von höchstens zwölf Monaten vor (Art. 203 Abs. 4 ZPO). Diese Obergrenze versteht sich aber ohne die Verfahrenszeit, die nach dem Weiterzug eines Nichteintretensentscheides der Schlichtungsbehörde verstreicht. Hinzu kommt, dass auch ein Schlichtungsverfahren im Sinne von Art. 126 ZPO sistiert werden kann. Das kann ebenfalls zu einem überjährigen Verfahren führen.
Die Sistierungsverfügung ist jedoch anfechtbar, zum Beispiel weil das Verfahren damit voraussichtlich länger als ein Jahr dauert. Eine derartige Sistierung sollte nach Auffassung des Bundesgerichts ohnehin nur mit grosser Zurückhaltung angeordnet werden.23
2.1.4 Kantonales Recht
Der Kanton Schwyz sah bei Ausweisungen - gestützt auf seine Vollzugsverordnung vom 25. Oktober 1974 - generell nur das summarische Verfahren vor. Diese Regelung kam mit der neuen ZPO in Konflikt. Denn nach Art. 257 ZPO steht das rasche summarische Verfahren lediglich für den Rechtsschutz in klaren Fällen zur Verfügung.
Erfordert die Rechtsanwendung hingegen einen Ermessens- oder Billigkeitsentscheid mit wertender Berücksichtigung der gesamten Umstände, liegt bereits keine klare Rechtslage mehr vor. In diesem Fall muss der Richter im summarischen Verfahren einen Nichteintretensentscheid fällen (vgl. dazu BGE 138 III 123). Das zwingt den Vermieter, das ordentliche Verfahren anzurufen. Das Bundesgericht stellte daher in einem Leitentscheid fest,24 dass die Verfahrensvorschrift des Kantons Schwyz bundesrechtswidrig ist. Der Kanton Schwyz wird die Ausweisung auch im ordentlichen Verfahren zulassen müssen. Im Gegenzug muss er im summarischen Verfahren jeweils genau prüfen, ob klares Recht vorliegt.
Nicht bundesrechtswidrig sind dagegen die Vorschriften der Kantone Waadt, Genf und Freiburg, die ein kostenloses mietrechtliches Verfahren vorsehen und in diesen Verfahren auch keine Parteientschädigungen zusprechen. Art. 116 Abs. 1 ZPO gibt ihnen diese Kompetenz. Nun verwendet das Gesetz im deutschen Text den Begriff «Prozesskosten», der die Parteientschädigung umfasst und in Art. 95 ZPO auch so definiert wird. Der französische Text spricht dagegen von «frais». Doch ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien zweifelsfrei, dass der Gesetzgeber die bisher im französischsprachigen Raum gehandhabte Kostenlosigkeit der Verfahren mit der neuen ZPO beibehalten wollte. Das entschied das Bundesgericht als Frage von grundsätzlicher Bedeutung in einem kürzlich ergangenen Leitentscheid.25
2.2 Formvorschriften
Das Bundesgericht unterscheidet recht subtil zwischen Verletzungen von Formvorschriften, bei denen sich der Mieter auf die Formungültigkeit berufen kann, und solchen, die ihm das verwehren. Unbestritten ist, dass Kündigungen, Mietzinserhöhungen und andere Forderungen des Vermieters mit amtlich genehmigtem Formular angezeigt werden müssen. Die Mitteilungen sind ungültig, wenn diese Form qualifizierter Schriftlichkeit nicht eingehalten wird.
2.2.1 Ungültige Kündigung
Ungültig ist nach Bundesgericht26 eine Kündigung, wenn der Kündigungstermin auf dem amtlichen Formular fehlt und nur in einem Begleitbrief mitgeteilt wird. Der Kündigungstermin gehöre nach Art. 9 Abs. 1 lit. b VMWG zu den Angaben, die eine amtliche Formularanzeige enthalten müsse. Nach Auffassung des Bundesgerichts zeichnet sich das Mietrecht durch strenge Formvorschriften aus, die zum Schutz des Mieters gelten. Abweichungen davon sind nach langjähriger Rechtsprechung nicht zugelassen.
2.2.2 Faksimile-Unterschrift bei Mietzinserhöhung
Weniger streng handhabte das Bundesgericht die mit einer Faksimileunterschrift unterzeichnete Formularanzeige einer Mietzinserhöhung. Schon früher hatte es sich mit dieser Frage zu befassen. In seinem Urteil 4C.10/2003 vom 8. Juli 2003 (in mp 3/03 S. 115) entschied es, dass das amtliche Formular zur Mitteilung einer Mietzinserhöhung eigenhändig zu unterzeichnen ist. Die eigenhändige Unterschrift - so das Bundesgericht damals - gehöre zur vorgeschriebenen qualifizierten Schriftform. Sie diene dem Bedürfnis nach Zurechnung der Erklärung an eine eindeutig identifizierbare Person. Nur wo der Gebrauch einer Faksimile-Unterschrift im Verkehr üblich sei, könne auf eine mechanische Nachbildung der eigenhändigen Unterzeichnung ausgewichen werden.
Knapp neun Jahre später wurde die gleiche Frage dem Bundesgericht erneut vorgelegt.27 Es ging um einen Mieter, der im Verlauf seines Mietverhältnisses mehrere Erhöhungen mit eigenhändig unterzeichneten Formularanzeigen erhalten hatte. Nur gerade die letzte Mietzinserhöhung vom 13. November 2002 war mit einer Stempelunterschrift versehen. Der Mieter zahlte den höheren Mietzins während mehr als sechs Jahren, bis er auf die Formungültigkeit der Anzeige aufmerksam gemacht wurde und die zu viel bezahlten Mietzinse zurückverlangte. Unbestritten war, dass die Erhöhung mangels eigenhändiger Unterschrift formungültig war.
Die vorbehaltlose Zahlung der an sich ungültigen Mietzinserhöhung während über sechs Jahren schliesst zudem nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung eine spätere Rückforderung nicht aus, solange die Zahlung in Unkenntnis des Formmangels erfolgte. Hingegen nahm nun das Bundesgericht den Zweck der geforderten eigenhändigen Unterschrift näher unter die Lupe. Dem Mieter sei immer klar gewesen, erwog es, dass die bloss mit einer Stempelunterschrift versehene Formularanzeige zweifelsfrei dem Vermieter zugeordnet werden müsse. Es sei daher rechtsmissbräuchlich, wenn er sich auf die Formungültigkeit der Anzeige berufe.
Diese Zuordnung dürfte nur in sehr speziell gelagerten Fällen unklar sein. Daher kann neu als Regel gelten, dass die Mietzinserhöhung zwar mangels eigenhändiger Unterschrift grundsätzlich ungültig ist, die Berufung auf diese Ungültigkeit jedoch in aller Regel als rechtsmissbräuchlich erachtet wird. Pikantes Detail dieser Kehrtwende: Die beiden Fälle wurden vom gleichen Anwalt vertreten. Im ersten Fall obsiegte er. Im zweiten Fall wurde ihm eine rechtsmissbräuchliche Berufung auf den Formmangel vorgeworfen.
2.3 Mietzinserhöhung
2.3.1 Anfechtung des Anfangsmietzinses
a) Beweislast für die Missbräuchlichkeit des Mietzinses: In der Westschweiz kennen die meisten Kantone die Formularpflicht für die Anzeige des Anfangsmietzinses. Wohl aus diesem Grund war hier lange umstritten, wer bei der Anfechtung des Anfangsmietzinses die Beweislast trägt. Das Bundesgericht hat sich in einem zur Veröffentlichung vorgesehenen Entscheid vom 6. Dezember 2012 nun einlässlich mit dieser Fragestellung auseinandergesetzt.28 Es zieht Parallelen zur Anfechtung einer missbräuchlichen Kündigung im Arbeitsrecht und einer missbräuchlichen Kündigung im Mietrecht. In beiden Fällen liegt die Beweislast bei der anfechtenden Partei. Aus dogmatischen Gründen dränge es sich daher auf, die Beweislast bei der Anfechtung eines Anfangsmietzinses ebenfalls dem Mieter als anfechtender Partei zu überbinden. Das entspreche der Normentheorie im Beweisrecht. Der Mieter muss damit die rechtshindernde Tatsache beweisen, hier die Missbräuchlichkeit des Mietzinses.
b) Mitwirkungspflicht des Vermieters bei der Nettorenditeberechnung: Der Vermieter kann sich allerdings nicht einfach zurücklehnen. Er ist zur Mitwirkung verpflichtet. Die konkrete Ausgestaltung dieser Mitwirkungspflicht hängt davon ab, ob der noch zulässige Mietzins durch die Nettorendite oder durch die Ortsüblichkeit begrenzt wird.
Nach der konstanten Rechtsprechung, jüngst wiederholt in einem Entscheid vom 27. Januar 2012,29 hat die Nettorendite Vorrang vor der Ortsüblichkeit. Steht das Mietobjekt jedoch bereits «seit mehreren Jahrzehnten» im gleichen wirtschaftlichen Eigentum, kann sich der Vermieter der Nettorenditeberechnung entziehen und sich auf die Behelfsgrösse der Ortsüblichkeit verlegen. Bei der Nettorenditeberechnung obliegt es dem Vermieter, alle in seinem Besitz befindlichen Unterlagen für die Vornahme dieser Rechnung einzureichen. Was er nicht belegt, wird nicht berücksichtigt. Ein säumiger Vermieter schadet sich daher, wenn er die Unterlagen nicht vollständig zusammenträgt.
c) Mitwirkungspflicht des Vermieters beim Nachweis des ortsüblichen Mietzinses: Der strikte Beweis der Ortsüblichkeit ist angesichts der strengen Massstäbe der Rechtsprechung an die Vergleichbarkeit der mindestens fünf Mietobjekte schwer zu erbringen. Doch auch hier setzt das Bundesgericht in einem neuen Entscheid30 eine Mitwirkungspflicht des Vermieters voraus.
Im konkreten Fall wurde der Mietzins bei Mieterwechsel um rund 43 Prozent erhöht. Gleichzeitig beruhte der Mietzins des Vormieters noch auf einem Hypothekarzinssatz von 4,5 Prozent. Die Angleichung an den aktuellen Stand des Referenzzinssatzes von 2,25 Prozent führte nach relativer Methode zu einer Mietzinssenkung von über 20 Prozent. Dem stand eine sehr tiefe Teuerungsentwicklung gegenüber. Allein mit diesen Fakten konnte der Mieter die Missbräuchlichkeit des Mietzinses beweisen. Jedenfalls stellte das Bundesgericht fest, dass die Mietzinsdifferenz zwischen bisherigem und neuem Mietzins angesichts der geschilderten konjunkturellen Entwicklung ein klares Indiz für einen missbräuchlichen Anfangsmietzins sei.
In einem anderen Fall konnte ein Geschäftsmieter in einem offenbar ebenfalls eindeutigen Fall den von ihm geforderten Beweis des missbräuchlichen Anfangsmietzinses anhand der Mietzinsstatistik des Kantons Genf erbringen.31 Hier setzt nun die Mitwirkungspflicht des Vermieters gemäss dem erwähnten neuen BGE 139 III 13 ein.
Der Vermieter kann die einmal angenommene Missbräuchlichkeit durch den Gegenbeweis umstossen, dass der Mietzins, den er fordert, immer noch in einem ortsüblichen Rahmen liegt. Diese Mitwirkung rechtfertigt sich nach den Ausführungen des Bundesgerichts ganz besonders, wenn der Mietzins beim Mieterwechsel um über zehn Prozent angehoben wurde.
Offenbar leuchtete dem Bundesgericht die Bemerkung des Mieteranwaltes ein, der Vermieter könne andernfalls den Anfangsmietzins bei jedem Mieterwechsel missbräuchlich erhöhen und sich dabei auf die Ortsüblichkeit berufen. Das sei gefahrlos, denn er wisse genau, dass der Mieter das ortsübliche Niveau nicht beweisen könne.
2.3.2 Kostensteigerungen nach Sanierung
Nach einem Entscheid des Bundesgerichts aus dem Jahre 200032 können ausserordentliche Aufwendungen für den Liegenschaftenunterhalt auf die Lebensdauer der finanzierten Einrichtung verteilt und zu fünf Prozent verzinst werden. Sie erscheinen damit nach erfolgter Sanierung als allgemeine Kostensteigerungen oder genauer als eine überwälzbare Unterhaltsteuerung.
Mit diesem Argument verweigerte eine Vermieterin nach einer umfassenden Sanierung die Weitergabe des gesunkenen Referenzzinssatzes. Die betreffende Wohnüberbauung wurde 2006 und 2007 umfassend saniert. Fast alle Mietparteien fochten die anschliessend vorgenommene Mietzinserhöhung an. Doch konnten sich die Parteien auf einen wertvermehrenden Anteil der Investitionskosten von fünfzig Prozent und eine auf dieser Grundlage berechnete Mietzinserhöhung einigen. Der Vergleich hielt unter anderem fest, dass mit dem so erhöhten Mietzins die allgemeinen Kostensteigerungen bis 31. Januar 2008 ausgeglichen sind.
Das Bundesgericht33 stellte nun fest, dass allein schon dieser Vergleich verhindere, dass der Vermieter nachträglich weitere, aus den Sanierungskosten abgeleitete allgemeine Kostensteigerungen überwälze. Zugleich stellte es aber auch klar, dass es ganz grundsätzlich nicht angehe, die werterhaltenden Kosten einer umfassenden Sanierung unter dem Titel allgemeine Kostensteigerungen zu überwälzen. Das widerspreche dem Grundsatz des Mietrechts, wonach Unterhaltsarbeiten nicht zu einer Mietzinserhöhung führen können. Einzig ein ausserordentlicher Unterhalt könne überwälzt werden.
Nach Bundesgericht ist es Sache des Vermieters, den ausserordentlichen vom ordentlichen Unterhalt abzugrenzen und ihn konkret nachzuweisen. Der ausserordentliche Unterhalt muss den üblichen Unterhalt übersteigen. Hohe Investitionskosten für die Werterhaltung im Rahmen einer umfassenden Sanierung sind noch kein schlüssiges Merkmal für einen ausserordentlichen Unterhalt. Sie können auch auf einen lange aufgeschobenen Unterhalt zurückzuführen sein.
Weitere Handlungsanweisungen gab das Bundesgericht jedoch nicht. Insbesondere definierte es nicht auf positive Weise, was unter einem ausserordentlichem Unterhalt zu verstehen ist und inwiefern dieser so definierte Unterhalt dann doch entgegen den Grundsätzen des Preisschutzes im Mietrecht nicht mehr mietzinsneutral erfolgen muss. Immerhin ergeben sich diese Grundsätze auch aus der mietrechtlich definierten Nettorendite.
In der mietrechtlichen Nettorenditeberechnung wird die Altersentwertung einer Liegenschaft nicht berücksichtigt. Die Liegenschaft kann ihren Wert in dieser Rechnung nicht vermindern, denn das Mietrecht verpflichtet den Vermieter, die für den vertraglichen Gebrauch notwendigen Unterhaltsarbeiten stetig und mietzinsneutral vorzunehmen. Könnten die werterhaltenden Aufwendungen nun plötzlich auf den Mietzins überwälzt werden, müsste dementsprechend auch die Nettorendite angepasst werden.
Als Folge davon müssten die Anlagekosten um die eingetretene Altersentwertung entsprechend dem Zustand der Liegenschaft beziehungsweise des anstehenden Renovationsbedarfs reduziert werden. Der zitierte Bundesgerichtsentscheid erwähnt diese Zusammenhänge zwar nicht, respektiert sie aber.
2.4 Kündigung
2.4.1 Missbräuchlichkeit im Zeitpunkt der Kündigung
In früheren Entscheiden hatte das Bundesgericht eingeräumt, das nachträgliche Verhalten des Vermieters könne Rückschlüsse auf einen vorgeschobenen und damit missbräuchlichen Kündigungsgrund zulassen, so wenn beispielsweise Eigenbedarf geltend gemacht werde, anschliessend aber eine nach erfolgter Kündigung frei gewordene geeignete Wohnung allerdings trotzdem an Dritte vermietet werde.34
Inzwischen zeigt sich eine Tendenz des Bundesgerichts, diese Differenzierung fallen zu lassen und bis zum strikten Gegenbeweis auf die Fakten im Zeitpunkt der Kündigung abzustellen. So entschied es, dass der geltend gemachte Eigenbedarf nicht ohne weiteres entkräftet wird, wenn nachträglich frei gewordene Wohnungen anderweitig vermietet werden. Im konkreten Fall wurde Eigenbedarf für die Tochter geltend gemacht und konnte auch plausibel begründet werden. Aus der Tatsache, dass nach der erfolgten Kündigung in der gleichen Liegenschaft zwei Wohnungen unerwartet zurückgegeben wurden, lasse sich nicht mit Gewissheit ableiten, der Vermieter habe gar nicht vorgehabt, die von ihm gekündigte Wohnung tatsächlich seiner Tochter zu geben.35
In eine ähnliche Richtung geht die Klarstellung des Bundesgerichts, dass eine Sanierungskündigung nicht anfechtbar wird, wenn der Mieter erst nach der erfolgten Mitteilung anbietet, die Wohnung dem Vermieter für die Dauer der Sanierung zu überlassen.36 Meist erfährt der Mieter allerdings erst mit der Kündigung, dass die Liegenschaft einer umfassenden Sanierung unterzogen wird. Er hat daher in der Regel keine Gelegenheit, seine Bereitschaft zur vorübergehenden Leerräumung der Wohnung rechtzeitig anzubieten und so eine Kündigung zu verhindern.
2.4.2 Definition der Familienwohnung
Wer die Schutzbestimmungen für Familienwohnung anruft, trägt den Beweis, dass es sich beim Mietobjekt tatsächlich um eine Familienwohnung handelt. Das Bundesgericht hatte in einem neueren Fall Gelegenheit, den Charakter der Familienwohnung anhand eines Beispiels näher zu definieren.37 Mietpartei war im betreffenden Fall nur die Ehefrau, ihr Mann war schon länger ausgezogen. Nach erfolgter Vermieterkündigung strengte die Ehefrau ein Kündigungsschutzverfahren an. Der Ehemann nahm zwar noch an der Schlichtungsverhandlung teil, erschien aber im nachfolgenden Verfahren vor Mietgericht nicht mehr.
Das Bundesgericht hielt fest, dass insbesondere das Interesse jenes Ehegatten schutzwürdig sei, der selbst nicht Mieter ist, im konkreten Fall war dies das Interesse des Ehemannes. Aus dessen Verhalten müsse aber geschlossen werden, dass er die einst eheliche Wohnung definitiv verlassen habe und ihn deren Schicksal nicht mehr kümmere. Damit verlor die Wohnung den Charakter der Familienwohnung.
2.5 Entscheide zu Fragen mit tiefem Streitwert
Im Mietrecht gibt es viele praktische Fragen, die oft nicht ausgestritten werden, weil der Streitwert zu tief liegt. In der folgenden «Fundgrube» wird aus diesem Bereich stichwortartig eine Auswahl der in der Berichtsperiode ergangenen Entscheide angeboten:
- Mit 6 Ampères abgesicherte elektrische Leitungen sind kein Mangel, wenn im Mietobjekt auch eine Steckdose zur Verfügung steht, die mit 13 Ampères abgesichert ist.38
- Der Service für technische Geräte gehört nicht zum kleinen Unterhalt. Daher kann der Mieter nicht verpflichtet werden, entsprechende Serviceverträge abzuschliessen.39
- Vom Mieter einer Wohnung kann nicht verlangt werden, dass er täglich mehrmals querlüftet und Möbel nur an bestimmten Stellen platziert.40
- Eine Erhöhung wegen allgemeinen Kostensteigerungen setzt voraus, dass seit der letzten Mietzinsfestsetzung eine Teuerung eingetreten ist. Bei Neubauten kann dieser Erhöhungsgrund daher nicht bereits wenige Monate nach Einzug mit einer Pauschale aufgerechnet werden.41
- Für den Verwaltungsaufwand zur Erstellung der Nebenkostenabrechnung beträgt die ortsübliche Pauschale in den folgenden drei Kantonen jeweils drei Prozent: St. Gallen,42 Nidwalden43 und Zürich.44
- Der effektive Verwaltungsaufwand für die Erstellung der Nebenkostenabrechnung kann nicht mit pauschalen Durchschnittswerten erbracht werden.45
1 Praxis 2012, Nr. 91.
2 Urteil 4A_520/2012 vom 26.2.2013.
3 Praxis 2012, Nr. 90.
4 Entscheide des Arbeitsgerichts Zürich 2011, Nr. 21.
5 Entscheide des Arbeitsgerichts Zürich 2011, Nr. 24.
6 Urteil 4A_595/2012 vom 21.12.2012.
7 Urteil 8C_358/2012 vom 18.1.2013.
8 Urteil 4A_408/2011 vom 15.11.2011 in ARV 2012, 42.
9 Urteil 4A_99/2012 vom 30.4.2012.
10 Entscheide des Arbeitsgerichts Zürich 2011, Nr. 13.
11 Urteil 8C_910/2011 vom 27.7.2012.
12 Bundesverwaltungsgericht, Urteil A-4611/2012 vom 18.12.2012.
13 Urteil 8C_448/2012 vom 17.1.2013.
14 Urteil 4A_215/2011 vom 2.11.2011 = ARV 2012, 46.
15 Praxis 2012, Nr. 45.
16 BGE 138 V 32.
17 Urteil 4A_629/2011 vom 6.6.2012.
18 plädoyer 3/2012, S. 51 ff.
19 BGE 138 III 615 vom 20.9.2012, deutsche Übersetzung in mp 1/2013, S. 71.
20 BGE 138 III 792 vom 17.10.2012.
21 David Lachat, Procédure civile en matière de baux et loyers 2011, S. 133, N 2.2.3; François Bohnet, «Le droit du bail en procédure civile suisse», in: 16e Séminaire sur le droit du bail, 2010, NN 112, 141 und 143.
22 Urteil 4A_87/2012 vom 10.4.2012 (französisch) in mp 3/2012, S. 221.
23 BGE 138 III 705 vom 22.6.2012.
24 BGE 139 III 38 vom 10.1.2013.
25 Urteil 4A_607/2012 vom 21.2.2013 (französisch), zur Publikation vorgesehen.
26 Urteil 4A_374/2012 vom 6.11.2012 (französisch) in mp 1/2013, S. 39.
27 BGE 138 III 401 vom 5.3.2012.
28 BGE 139 III 13 vom 6.12.2012 (französisch) in mp 1/2013, S. 22.
29 Urteil 4A_645/2011 vom 27. Januar 2012 (französisch).
30 BGE 139 III 13 vom 6.12.2012 (französisch) in mp 1/2013, S. 22.
31 Urteil 4A_250/2012 vom 28.8.2012 (französisch) in mp 1/2013, S. 15.
32 Urteil 4C.293/2000 vom 24. Januar 2001, E. 1b.
33 Urteil 4A_530/2012 vom 17.12.2012.
34 Urteil 4A_623/2010 vom 2.2.2011 (französisch) in mp 2/2011, S. 135.
35 Urteil 4A_383/2012 vom 9.10.2012 (französisch).
36 Urteil 4A_126/2012 vom 3.8.2012 (französisch) in mp 1/2013, S. 32.
37 BGE 139 III 7 vom 5.11.2012 (französisch).
38 Urteil Appellationsgericht Basel-Stadt vom 3.5.2010 in mp 4/2012, S. 265.
39 Obergericht Bern, Urteil ZK 12 157 vom 27.6.2012 in plädoyer 2/13, S. 67 ff.; Gerichtspräsident Rheinfelden vom 24.11.2012 in mp 3/12, S. 192.
40 Obergericht Bern, Urteil ZK 12 157 vom 27.6.2012 in plädoyer 2/13, S. 67 ff.
41 Kantonsgericht Zug vom 15.10.2010 in p 3/12, S. 209.
42 Kreisgericht St. Gallen vom 15.1.2008 in mp 3/2008, S. 178.
43 Obergericht Nidwalden vom 16.5.2012 in mp 1/2013, S. 57.
44 Einzelrichter in Mietsachen des Bezirks Affoltern vom 11.9.2012 in mp 1/2013, S. 49.
45 Kreisgericht St. Gallen vom 15.1.2008 in mp 3/2008, S. 178; Obergericht Nidwalden vom 16.5.2012 in mp 1/2013, S. 57; Einzelrichter in Mietsachen des Bezirks Affoltern vom 11.9.2012 in mp 1/2013, S. 49.