1. Thematik
Dass sich Rechtsbereiche entwickeln – und zwar zuweilen intensiv oder gar abrupt – stellt mittlerweile eine Binsenwahrheit dar. Von Bedeutung ist dabei insbesondere, welche Faktoren diese Entwicklung beeinflussen. Dabei kann es zum einen darum gehen, dass sich die Rechtsetzung entwickelt; zum anderen können Impulse für die Entwicklung eines Rechtsgebietes auf die Rechtsprechung zurückgehen. Wenn das Sozialversicherungsrecht bezogen auf diese beiden Entwicklungselemente analysiert wird, fällt bei einer längerfristigen Würdigung auf, dass sich die Rechtsetzung nicht immer gleich gewichtig wie die Rechtsprechung – und umgekehrt – verändert.1
Zunächst ist ein allgemeiner Blick auf die Rechtsetzung zu werfen. Gegenwärtig werden auf Bundesebene verschiedene grundlegende Änderungen der Rechtsetzung vorbereitet; es geht um die zentrale Vorlage «Altersvorsorge 2020» sowie um das Gesamtprojekt «Gesundheit 2020». Daneben sind bei der Rechtsetzung verschiedene Einzelentwicklungen festzustellen; hier geht es um die seit längerer Zeit pendente erste UVG-Revision sowie um Entwicklungen im Bereich des Krankenversicherungsrechts (KVAG = Bundesgesetz über die Aufsicht in der Krankenversicherung; Prüfung der Frage, ob denn weitere Leistungserbringende zuzulassen sind). Damit ist absehbar, dass in den nächsten Jahren die Entwicklung der Rechtsetzung wieder ein erhöhtes Gewicht erhalten wird. Das verhielt sich in den letzten Jahren anders; in der jüngeren Vergangenheit hat die Rechtsprechung wichtige und zentrale Entwicklungsschritte eingeleitet. Hier ist auf die weitreichende Rechtsprechung zu den unklaren Beschwerdebildern zu verweisen.2
Ebenfalls zentral sind die Festlegungen des Bundesgerichts zur Adäquanz in der Unfallversicherung und hier insbesondere die Dreiteilung der Unfallereignisse bei psychischen Folgen eines Unfallereignisses.3 Ferner ist als zentrale Festlegung der Rechtsprechung anzusehen, dass in der beruflichen Vorsorge, bezogen auf das Zusammenfallen von obligatorischen Leistungen der beruflichen Vorsorge und solchen der weiter gehenden beruflichen Vorsorge, das sogenannte Anrechnungsprinzip als massgebend bezeichnet wurde.4
Die vorliegende Zusammenstellung blickt auf die wichtigen Entwicklungen der Jahre 2014 und 2015 zurück. Bei dieser retrospektiven Darstellung der Entwicklungen geht es insbesondere um Festlegungen der Rechtsprechung.
2. AHV-Beiträge
Die AHV ist als Volksversicherung ausgestaltet und erfasst deshalb sowohl die Erwerbstätigen wie auch die Nichterwerbstätigen. Für die beiden Kategorien von Versicherten mussten unterschiedliche Beitragssysteme geschaffen werden. Während bei den Erwerbstätigen auf das Erwerbseinkommen abgestellt wird – und zwar sowohl bei den Unselbständigerwerbenden wie auch bei den Selbständigerwerbenden –, sind bei den Nichterwerbstätigen die «sozialen Verhältnisse» massgebend.5 Das Bundesgericht hat sich in grundlegender Weise mit der Frage auseinandergesetzt, wie es sich bei der Zuordnung zu den Erwerbstätigen oder zu den Nichterwerbstätigen verhält, wenn die betreffende Person ein Teilzeitpensum ausübt.
Hier ist von Bedeutung, dass eine Mischform zwischen Erwerbstätigkeit und Nichterwerbstätigkeit prinzipiell ausgeschlossen ist. Bezogen auf eine versicherte Person, die nur teilzeiterwerbstätig war und dabei nur ein sehr geringes Einkommen erzielte, hat das Bundesgericht festgelegt, dass der für die Erwerbstätigkeit aufgewendete Zeitrahmen nur insoweit massgebend ist, als daraus eine Erwerbsorientierung abgeleitet werden kann. Wenn also die Erwerbsabsicht mit einer ehrenamtlichen Tätigkeit zusammenfällt, wird bezogen auf das für die Abgrenzung zwischen Erwerbstätigen und Nichterwerbstätigen zentrale Ausmass der Erwerbstätigkeit6 nur diejenige zeitliche Inanspruchnahme berücksichtigt, welche die Erwerbsorientierung spiegelt.7
Zentral ist bezüglich der Abgrenzung zwischen Erwerbstätigkeit und Nichterwerbstätigkeit allemal die erwerbliche Ausrichtung der Tätigkeit. Dies fällt etwa bei der Abgrenzung zwischen Erwerbstätigkeit und Verwaltung des Privatvermögens ins Gewicht. Diesbezüglich hat das Bundesgericht festgelegt, dass nach wie vor vom Geschäftsvermögen auszugehen ist, wenn zwar eine Geschäftsaufgabe erfolgte, indessen über die stillen Reserven (auf den zum Geschäftsvermögen gehörenden Liegenschaften) mit den Steuerbehörden vorderhand nicht abgerechnet wird.8 Einlagen in Limited Partnerships und gleichermassen in Kommanditgesellschaften für kollektive Kapitalanlagen sind grundsätzlich nicht AHV-beitragspflichtig; sie gehören in den Bereich der Verwaltung des Privatvermögens.9
Schliesslich ist auf einen grundlegenden Entscheid des Bundesgerichts zur Haftung der Erben für AHV-Beiträge hinzuweisen.
2.1 Leistungen der AHV
Das Bundesgericht hat sich mit dem Anspruch auf eine Waisenrente für ein Pflegekind auseinandergesetzt: Art. 49 Abs. 3 AHVV ist so auszulegen, dass der Anspruch auf eine Rente für ein Pflegekind erst erlischt, wenn die Eltern die Unterhaltsverpflichtung übernehmen, und zwar unabhängig davon, ob das Pflegekind bei einem Elternteil oder anderswo lebt.11
2.2 Risiko Invalidität und Leistungen der IV
2.2.1 Risiko Invalidität
Beim Risiko der Invalidität bildet der Umgang der Rechtsprechung mit den unklaren Beschwerdebildern nach wie vor das zentrale Interessengebiet. Hier hat das Bundesgericht festgelegt, dass beim Zusammentreffen einer zuverlässig diagnostizierten depressiven Episode und einer somatoformen Schmerzstörung in erster Linie die ärztliche Feststellung des Gesundheitszustandes und der Arbeitsunfähigkeit massgeblich ist.12 Bezüglich des unklaren Beschwerdebildes ist auf ein Grundsatzgutachten von Professor Peter Henningsen zu verweisen. Es zeigt auf, dass die bundesgerichtliche Rechtsprechung bezogen auf Grundsätze zutreffend ist, hingegen aus medizinischer Sicht nicht in allen Einzelaspekten überzeugt.13
Entwicklungen haben sich ferner bei denjenigen Personen ergeben, die ohne gesundheitliche Einbusse teilerwerbstätig wären. Bei ihnen ist die Haushaltsgrösse für die Bestimmung des Ausmasses der Tätigkeit im Aufgabenbereich kein massgebendes Kriterium. Die Bereiche der Erwerbstätigkeit und der Haushaltbesorgung ergeben zusammen im Regelfall einen Wert von 100 Prozent.14 Dies stellt eine wichtige, zentrale Veränderung der Rechtsprechung dar.
2.2.2 Leistungen der IV
Das Bundesgericht hat sich wiederholt mit der Frage des Verhältnisses von (Wieder-)Eingliederung und Rentenanspruch befasst.15
Einige Urteile des Bundesgerichts betrafen die Rentenüberprüfung im Rahmen der Schlussbestimmung der 6. IV-Revision. Für die Ermittlung, ob die Eckwerte des 55. Altersjahrs respektive des 15-jährigen Rentenbezugs vorliegen, ist auf den Zeitpunkt der rentenaufhebenden Verfügung respektive auf den darin verfügten Zeitpunkt der Rentenaufhebung (und nicht auf den Zeitpunkt der Einleitung des Überprüfungsverfahrens oder der ärztlichen Begutachtung) abzustellen.16
Intensiver auseinandergesetzt hat sich das Bundesgericht sodann mit verschiedenen Fragen des Anspruchs auf Hilflosenentschädigung. Hier geht es beispielsweise um die Bestimmung des entsprechenden Anspruchs für ein Kleinkind.17
Ferner hat das Bundesgericht die Abgrenzung zwischen Hilflosigkeit und Intensivpflegezustand thematisiert.18
Ebenfalls Klärungsbedarf bestand für das Bundesgericht bei der Hilflosigkeit, und zwar bezogen auf die Abgrenzung der Leistungspflicht der IV und Unfallversicherung.19 Schliesslich musste das Bundesgericht sich in einem besonders gelegenen Fall mit dem Beginn des Anspruchs auf Hilflosenentschädigung für Minderjährige befassen, wobei es hier nach «Recht und Billigkeit» entschied.20
Der in der IV vorgesehene Assistenzbeitrag kann nicht beansprucht werden, wenn eine Hilflosenentschädigung der Unfallversicherung bezogen wird.21 Beim Assistenzbeitrag wirft die Abklärung des massgebenden Sachverhaltes regelmässig erhebliche Schwierigkeiten auf. Hier hat das Bundesgericht festgelegt, dass das Abklärungsinstrument FAKT 2 ein geeignetes Instrument ist.22
Wichtig für den Leistungsanspruch ist das Kriterium, ob sich jemand in Ausbildung befindet (etwa bezogen auf den Anspruch auf Kinderrente). Das Bundesgericht hat sich verschiedentlich mit dem Ausbildungsbegriff nach Art. 49bis AHVV auseinandergesetzt.23
In der IV können Hilfsmittel beansprucht werden, wobei die hier recht breit angelegte Hilfsmittelliste die einzelnen Leistungsansprüche konkretisiert. Bei den Hilfsmitteln sind gegebenenfalls grundrechtlich geschützte Positionen abzuwägen gegenüber dem Anliegen der Einfachheit und Zweckmässigkeit der Hilfsmittelversorgung.24 Zurückhaltend war das Bundesgericht etwa bei der Frage des Anspruchs auf die Abgabe einer elektrischen Schieb- und Bremshilfe zum Handrollstuhl.25
Schliesslich ist auf ein Urteil zum Anspruch auf eine IV-Rente hinzuweisen, wenn die Erbschaft ausgeschlagen und liquidiert wurde.26
Oft werden im Zusammenhang mit nachträglich ausgerichteten IV-Leistungen Verrechnungen mit den Ansprüchen Dritter vorgenommen. Das Bundesgericht hat sich in grundsätzlicher Weise mit diesem Vorgehen auseinandergesetzt. Im ATSG fehlt eine allgemeine Verrechnungsnorm; die Tilgung von Forderungen mittels Verrechnung bestimmt sich bei dieser Ausgangslage nach den zweigbezogenen sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen. Was die allfällige Rangordnung in der Befriedigung der von verschiedenen Parteien angemeldeten Verrechnungsforderungen betrifft, ist vorab die betroffene Sozialversicherung für eigene Forderungen und Schulden zur Verrechnung berechtigt; an zweiter Stelle stehen Forderungen anderer Sozialversicherungszweige, bevor die extrasystemischen Forderungen zu befriedigen sind.27
2.2.3 Ergänzungsleistungen
In zunehmendem Mass setzt sich das Bundesgericht mit praxisrelevanten und zuweilen grundlegenden Fragen der Ergänzungsleistungen auseinander. Das Bundesgericht hat es, bezogen auf die Frage der zu berücksichtigenden Gebäudeunterhaltskosten, als massgeblich erachtet, wer der tatsächliche Eigentümer einer Liegenschaft ist respektive wer die entsprechenden Liegenschaftenunterhaltskosten tatsächlich zu tragen hat.28
Bei Invalidenrentenbezügern mit Teilinvalidität berücksichtigt die Ergänzungsleistungsbehörde regelmässig ein – auch nur hypothetisches – Resterwerbseinkommen. Diesbezüglich fällt die Schadensminderungspflicht ins Gewicht.29 Was das hypothetische Einkommen bei Teilinvaliden betrifft, gelten als solche Einkommen auch Taggelder der Arbeitslosenversicherung, und zwar auch dann, wenn auf deren Geltendmachung verzichtet wird.30
Bei der Berechnung von Ansprüchen der Hinterlassenen geht es beim Zusammenleben mit anderen Personen um die Frage, wann eine gesonderte Berechnung des Anspruchs auf Ergänzungsleistungen vorzunehmen ist.31 Praxisrelevant bei der Anspruchsberechnung ist schliesslich der Tatbestand eines Einkommensverzichts beziehungsweise eines Vermögensverzichts. Hier musste sich das Bundesgericht mit der Frage auseinandersetzen, ob und mit welchen Folgen ein Freizügigkeitsguthaben berücksichtigt werden kann.32
3. Berufliche Vorsorge
3.1 Grundsatzfragen
Das Bundesgericht hat sich erneut in grundsätzlicher Weise mit dem Anrechnungsprinzip befasst, welches das Verhältnis von obligatorischer und weiter gehender Vorsorge prägt.33 Weiterhin hat sich das Bundesgericht in grundsätzlicher Hinsicht mit der Massgeblichkeit von Art. 29 Abs. 1 und Abs. 3 IVG (betreffend den Leistungsanspruch in der IV) mit Blick auf die berufliche Vorsorge auseinandergesetzt.34
Regelmässig muss sich das Bundesgericht auch mit der Frage von Überentschädigungsberechnungen der beruflichen Vorsorge beschäftigen.35 Wichtig ist ein Urteil zur Frage, wie Art. 41 Abs. 1 BVG betreffend die Verjährung der Leistungsansprüche zu verstehen ist.36 Schliesslich ging es in der Rechtsprechung wiederholt um Fragen der Verantwortlichkeit in der beruflichen Vorsorge.37 Bei einer Überentschädigungsberechnung in der beruflichen Vorsorge ist dem Anspruch auf rechtliches Gehör genügend Rechnung zu tragen.38
3.2 Einzelfragen
Regelmässig beschäftigt sich das Bundesgericht mit Fragen der Teilliquidation einer Vorsorgeeinrichtung. Dabei geht es um den allfälligen Anspruch auf technische Rückstellungen sowie um den Grundsatz der Gleichbehandlung.39 Besondere Fragen werden in Fällen aufgeworfen, in denen bei der Teilliquidation eine öffentlich-rechtliche Vorsorgeeinrichtung beteiligt ist.40
Die Leistungen der beruflichen Vorsorge können gegebenenfalls in Kapitalform bezogen werden, wobei sich besondere Fragen stellen, wenn bislang eine Invalidenrente beansprucht wurde.41 Bei Kapitalzahlungen kommt dem Nachweis der richtigen Erfüllung ein erhebliches Gewicht zu.42
Bei eingetragenen Partnerschaften und sich gegebenenfalls ergebender Begünstigung hat die allfällige Meldepflicht eine hohe Bedeutung. Eine solche Meldepflicht kann – auch bezogen auf das Konkubinat – von der Vorsorgeeinrichtung im Reglement festgelegt werden.43
Beschäftigt hat sich das Bundesgericht schliesslich mit der Überweisung des Freizügigkeitsguthabens im internationalen Bereich44 sowie mit der Frage der Gesundheitsüberprüfung beziehunsgweise des Vorbehaltes in der weiter gehenden beruflichen Vorsorge.45
4. Krankenversicherung
Der Krankenversicherungsbereich ist sowohl in der Rechtsprechung wie auch in der Rechtsetzung in Bewegung. Auf beide Bereiche ist jedenfalls bezogen auf die grundlegenden und praxisrelevanten Entwicklungen kurz einzugehen.
4.1 Rechtsprechung
Leistungen der Krankenversicherung werden vergütet, wenn die betreffende Leistung wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich ist (sogenannte WZW-Kriterien).46 Ob eine Leistung diesen Kriterien genügt oder nicht, muss grundsätzlich im Rahmen des Untersuchungsprinzips abgeklärt werden. Zudem muss berücksichtigt werden, dass eine Pflichtleistungsvermutung besteht, welche beinhaltet, dass eine vorgenommene ärztliche Behandlung grundsätzlich als Pflichtleistung gilt. Damit hat sich das Bundesgericht befasst, als zu klären war, ob für eine Mikronährstofftherapie eine Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung gegeben ist.47 In einem anderen Entscheid hatte das Bundesgericht zu klären, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen eine Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung für eine Behandlung im Ausland besteht.48
Zuweilen ist in der Rechtsprechung zu klären, ob und in welchem allfälligen Ausmass eine Gestaltungsmöglichkeit für die Krankenversicherung besteht. In einem konkreten Fall ging es um die Problematik, ob gestützt auf ein bestimmtes individuelles Verfahren die Krankenversicherung befugt ist, eine – eben individuelle – Rückerstattung der Prämie vorzunehmen.49
Bei der aktuellen Rechtslage ist die ausserkantonale Wahlbehandlung (anders als gemäss der auf das frühere Recht bezogenen Rechtsprechung) als Pflichtleistung der Krankenversicherung zu qualifizieren. Sie untersteht damit dem Tarifschutz insoweit, als dafür höchstens der KVG-Tarif des Leistungserbringers verrechnet werden darf.50
Schliesslich hat sich das Bundesgericht verschiedentlich mit der Pflegefinanzierung nach Art. 25a KVG befasst. Hier musste das Bundesgericht eine verfahrensrechtliche Frage klären, nämlich diejenige nach der innerkantonalen Zuständigkeit für die Beurteilung einer strittigen Fristfinanzierung der Pflegekosten nach Art. 25a Abs. 5 KVG.51 Ferner hat das Bundesgericht die Frage geprüft, ob der Standortkanton oder der Herkunftskanton für die Finanzierung der Pflegekosten zuständig ist; bis auf Weiteres ist zumindest im interkantonalen Verhältnis die Finanzierungszuständigkeit nach dem Wohnortsprinzip zu bestimmen.52
4.2 Wirtschaftlichkeit, vor allem bei der Tarifgestaltung
Gegenwärtig gehört die Frage nach der Wirtschaftlichkeit zu den zentralen Fragestellungen in der Krankenversicherung. Die Rechtsprechung beurteilt die Wirtschaftlichkeit allenfalls im Einzelfall; daneben ist besonders wichtig, welche Tragweite das allgemeine Wirtschaftlichkeitsgebot bei den Tarifen der Krankenversicherung hat.
Kritisch untersucht wird oft die Frage, ob im ambulanten Bereich das ärztliche Handeln wirtschaftlich war. Hier hat das Bundesgericht festgestellt, dass die Rückerstattung der Honorare nach Art. 59 Abs. 1 lit. b KVG nicht des Nachweises eines Verschuldens des Leistungserbringers bedarf.53
Art. 43a Abs. 5 BV54 legt fest, dass staatliche Aufgaben bedarfsgerecht und wirtschaftlich erfüllt werden müssen. Diese Bestimmung – die nicht justiziabel ist – meint, dass die angestrebten Wirkungen auch tatsächlich erreicht werden können und die Leistungen zu möglichst geringen (volkswirtschaftlichen) Kosten erbracht werden.55
Besonders wichtig ist die Regelung von Art. 43 Abs. 6 KVG. Danach achten die Vertragspartner und die zuständigen Behörden darauf, dass eine qualitativ hochstehende und zweckmässige gesundheitliche Versorgung zu möglichst günstigen Kosten erreicht wird. Die von der sozialen Krankenversicherung übernommenen Leistungen sollen – nach der Formulierung in der bundesrätlichen Gesetzesbotschaft – «bei aller erwünschten Wirtschaftlichkeit (…) qualitativ hochstehend sein».
Die Qualität bezieht sich dabei sowohl auf die Behandlungsergebnisse wie auch auf die Angemessenheit der Leistung und auf die Zufriedenheit des Patienten.56 Die im Gesetz vorgesehenen «kostendämpfenden Massnahmen sollen nicht zu einer ‹billigen› Medizin führen. Preis und Leistung sollen aber in einem möglichst günstigen Verhältnis stehen».57
Weiter hält der Bundesrat fest, dass die Qualitätssicherung zur Kostendämpfung beiträgt, «indem sie Ressourcen von den Tätigkeiten abzieht, die unnötig, unwirksam und unzweckmässig sind. Der Begriff der Qualität wird weit gefasst, damit die drei Elemente Behandlungsergebnisse, Angemessenheit der Leistung und Zufriedenheit des Patienten von der Qualitätskontrolle erfasst werden können».58 Der Rechtsprechung ist zu entnehmen, dass Art. 43 Abs. 6 KVG als Leitschnur für die Tarifgestaltung anzusehen ist.59
5. Unfallversicherung
5.1 Risiko Unfall
In grundsätzlicher Hinsicht hat sich das Bundesgericht mit den Kriterien des Unfalls gemäss Art. 4 ATSG befasst, als zu beurteilen war, welches die Voraussetzungen sind, damit ein im Zustand der gänzlichen Urteilsunfähigkeit begangener Suizid als Unfall zu betrachten ist.60
Immer wieder strittig ist die Frage, unter welchen besonderen Voraussetzungen ein medizinischer Eingriff zu einem Unfall werden kann (sogenannter accident médical). Das Bundesgericht hatte sich hier etwa mit einer Perforation eines Herzgefässes zu befassen.61 Zwischen dem Unfallereignis und der Krankheit liegt die sogenannte unfallähnliche Körperschädigung (UKS). Hier kann der vorausgesetzte äussere Faktor nur angenommen werden, wenn immerhin ein gesteigertes Schädigungspotenzial besteht.62
Schliesslich musste sich das Bundesgericht auch mit Berufskrankheiten befassen, die als ein versichertes Risiko ebenfalls zu Leistungsansprüchen gegenüber der Unfallversicherung Anlass geben.63
Immer wieder zu beurteilen ist die Leistungspflicht der Unfallversicherung für Rückfälle und Spätfolgen.64
Zentral für die Leistungspflicht der obligatorischen Unfallversicherung nach dem UVG ist das Bestehen eines hinreichenden Kausalzusammenhangs zwischen dem Unfallereignis und der tatsächlich eingetretenen gesundheitlichen Einbusse. Das Bundesgericht musste sich hier mit der Adäquanzbeurteilung bei einem Schreckereignis auseinandersetzen.65
Ferner ging es um die Frage nach dem adäquaten Kausalzusammenhang bei einem sogenannt «gemischten» Vorfall mit den Elementen eines Schreckereignisses sowie einer physischen Einwirkung.66 Bei alledem geht es um die Frage der hinreichenden Abklärung des natürlichen Kausalzusammenhangs.67
5.2 Einzelfragen
Im Bereich der Unfallversicherung sind verschiedene Unfallversicherungen tätig. Im Zusammenhang mit der Umwandlung einer kantonalen Dienststelle in eine Anstalt mit eigener Rechtspersönlichkeit musste das Bundesgericht die Auswirkungen auf die allfällige Neuwahl des Unfallversicherers klären.68
Bei der Klärung von Leistungsansprüchen gegenüber der Unfallversicherung ist allemal abzuklären, ob eine Versicherungsunterstellung besteht. Hier geht es um den Begriff der arbeitnehmenden Person69 beziehungsweise um die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine arbeitslose Person obligatorisch unfallversichert ist.70
Zentral für die Bestimmung der Geldleistungen ist die zutreffende Festlegung des versicherten Verdienstes.71 Fallen Leistungen der obligatorischen Unfallversicherung mit Leistungen anderer Sozialversicherungen zusammen, geht es um die Frage einer allfälligen Überentschädigung.72 Eine gewisse praktische Bedeutung haben Bestimmungen der Unfallversicherung, welche die Leistungskürzung ordnen; hier musste das Bundesgericht die Frage beurteilen, unter welchen Voraussetzungen eine Beteiligung an einem Raufhandel anzunehmen ist.73 Ausnahmsweise übernimmt die Unfallversicherung auch nach dem Festsetzen einer Invalidenrente weiterhin die Kosten der Heilbehandlung.74
Verschiedentlich hat sich das Bundesgericht mit Kürzungsfragen auseinandergesetzt. So muss zum Beispiel das sogenannte Dirt-Biken als ein absolutes Wagnis bezeichnet werden, weil das erhebliche Gefahrenpotenzial nicht auf ein vernünftiges Mass reduzierbar ist.75 Wer sich rund zwölf Meter über dem Boden auf einen Balkonrand mit einer Breite von ungefähr zwanzig Zentimetern setzt (und in der Folge hinunterstürzt), begeht ebenfalls ein Wagnis im Sinne von Art. 39 UVG.76 Ebenso musste eine im konkreten Fall gewählte Reiseroute durch Pakistan als ein absolutes Wagnis eingeordnet werden; weder die Reisevorbereitung noch die besonderen Fähigkeiten der beteiligten Personen (eine Polizistin und ein Polizist) vermochten an der Unkontrollierbarkeit der bekannten Gefahren für Leib und Leben etwas zu ändern.77
Soweit das Unfallereignis zugleich ein Ereignis mit Haftpflichtansprüchen darstellt, geht es jeweils um den allfälligen Einbezug der haftpflichtigen Drittperson.78
6. Arbeitslosenversicherung
Der Bereich der Arbeitslosenversicherung ist – wie natürlich auch andere Sozialversicherungszweige – mitgeprägt durch die Vorgaben des internationalen Sozialrechts.79 Was einzelne Kategorien von anspruchsberechtigten Personen betrifft, musste sich das Bundesgericht mit dem allfälligen Anspruch des Grenzgängers im europäischen Kontext befassen.80 Gewisse Besonderheiten – die zuweilen nicht leicht zu verstehen sind – bestehen, wenn die arbeitslose Person bisher dem obersten betrieblichen Entscheidungsgremium zugehörte (ihr also eine sogenannt arbeitgeberähnliche Funktion zukam) und deshalb vom Leistungsanspruch ausgeschlossen ist.81
Regelmässig geht es bei den Leistungsansprüchen der Arbeitslosenversicherung um die zutreffende Ausgestaltung der Koordination mit der IV. Hier muss etwa berücksichtigt werden, dass besondere Bestimmungen für die Festlegung des versicherten Verdienstes von Behinderten bestehen.82 Bei behinderten Personen muss bezogen auf den versicherten Verdienst eine Koordination mit dem IV-Entscheid über den Invaliditätsgrad vorgenommen werden.83 Die Arbeitslosenversicherung hat bei Personen, die sich zum Leistungsbezug bei der IV angemeldet haben, eine Vorleistungspflicht, die indessen zeitlich begrenzt ist (Schwebezustand, bis das Ausmass der Erwerbsunfähigkeit fest-steht).84
Was die Verpflichtung betrifft, eine zumutbare Arbeit anzunehmen, hatte das Bundesgericht zu klären, wie es sich diesbezüglich verhält, wenn die arbeitslose Person bisher eine hochbezahlte Arbeit ausgeübt hat.85
In einen ähnlichen Kontext ordnet sich ferner ein Urteil ein, das zu klären hatte, unter welchen Voraussetzungen und wie lange das Einkommen aus einem Arbeitsverhältnis auf Abruf noch als Zwischenverdienst eingeordnet werden kann.86 Unter bestimmten Voraussetzungen – etwa beim Fehlen von hinreichenden Arbeitsbemühungen – kann die Arbeitslosenversicherung eine Einstellung der Anspruchsberechtigung vornehmen.87
7. Familienzulagen
Vom Anspruch auf Familienzulagen sind Personen ausgeschlossen, die Ergänzungsleistungen beziehen; dabei sind nur die jährlichen Ergänzungsleistungen im Sinne von Art. 3 Abs. 1 lit. a ELG massgebend.88 Angesichts der zuweilen bunten Familienverhältnisse müssen im Familienzulagenrecht oft Kumulationsfragen beantwortet werden; hier gilt ein Verbot des Doppelbezuges von Familienzulagen.89
Wenn Familienzulagen zu Unrecht bezogen wurden, sind sie rückerstattungspflichtig.90
8. Erwerbsersatzordnung
Das Bundesgericht befasste sich in verschiedener Hinsicht mit dem Anspruch auf eine Mutterschaftsentschädigung. Es ging um die grundsätzliche Frage, ob auch der Vater Anspruch auf die Mutterschaftsentschädigung erheben kann.91
Ferner musste das Bundesgericht klären, ob eine berufliche Eingliederungsmassnahme als unselbständige Erwerbstätigkeit betrachtet werden kann92 und wie bei selbständiger Erwerbstätigkeit das massgebende Einkommen zu bestimmen ist.93
9. Verwaltungsverfahren
Das Bundesgericht befasste sich in grundsätzlicher Weise mit der Frage, wie bei Mitarbeitenden eines Sozialversicherungsträgers mit privat erlangtem Wissen umzugehen ist.94 Wenn Mitarbeitende einen Verfahrensfehler zu verantworten haben oder das materielle Recht falsch angewendet haben, begründet dies noch nicht einen Ausstandsgrund.95 Falls aber die sachverständige Person dem Versicherungsträger zu einem Vorgehen rät, damit dieser in einem Rechtsstreit bessere Erfolgsaussichten habe, erweckt dies objektiv den Anschein mangelnder Unparteilichkeit.96
Grundsätzlich ist die Verwaltungstätigkeit auch im Bereich des Sozialversicherungsrechts an das Legalitätsprinzip gebunden. Ausnahmsweise kann indessen ein Vergleich abgeschlossen werden.97 Heikel ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen auf einen geschlossenen Vergleich zurückgekommen werden kann (Frage nach der Wiedererwägung).98
Die Verwaltungstätigkeit setzt regelmässig mit der Prüfung der Eintretensfrage ein, was etwa bei der Neuanmeldung zu Leistungsbezug bei der IV nicht immer einfach ist.99
Zentral für die Verwaltungstätigkeit ist das Untersuchungsprinzip. Dabei muss zuweilen eine Abgrenzung zwischen der Aufgabe eines aussenstehenden Sachverständigen und der Rechtsanwendung vorgenommen werden.100 Befasst hat sich das Bundesgericht mit der Frage, ob die sogenannte ICF und das Mini-APP beitragen können zu einer verlässlichen Beurteilung der Zumutbarkeit einer Arbeitstätigkeit.101 Bei der Abklärung kommt den (insbesondere medizinischen) Gutachten hohen Stellenwert zu; hier befasste sich das Bundesgericht mit dem Vorgehen bei der Beauftragung mit einer mono- oder bidisziplinären Expertise.102 Bei Gutachten sind gegebenenfalls Ergänzungsfragen einzubeziehen.103
Ist die zu explorierende Person nicht in der Lage, in einer verständlichen Sprache mit der sachverständigen Person zu sprechen, ist – gerade bei psychiatrischen Begutachtungen – eine Übersetzung beziehungsweise Dolmetscherleistung notwendig.104 Was das Ausmass der Abklärungspflicht betrifft, hat das Bundesgericht festgelegt, dass bei Annahme eines Anpassungsgrundes im Sinne von Art. 17 ATSG der Rentenanspruch in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht umfassend geprüft wird, wobei keine Bindung an frühere Beurteilungen besteht.105
Im Rahmen der Schlussbestimmungen der 6. IV-Revision wurden in den Jahren 2012 bis 2014 Überprüfungen von laufenden Renten eingeleitet. Hier klärte das Bundesgericht, wie die Einleitung einer Rentenüberprüfung nachgewiesen werden kann106 und welche Bedeutung der Grundsatz der Verhältnismässigkeit hat.107
Die Verwaltungstätigkeit wird mit einer Verfügung abgeschlossen, die mit einer Rechtsmittelbelehrung zu versehen ist.108 Gegebenenfalls stellt sich die Frage einer Parteientschädigung.109 Die Partei hat Anspruch auf Einsicht in die Akten des Sozialversicherungsträgers.110 Das Bundesgericht hat in grundsätzlicher Hinsicht geklärt, dass bezogen auf die Wiedererwägungsmöglichkeit keine absolute zeitliche Befristung besteht, weshalb eine formell rechtskräftige Verfügung auch nach über zehn Jahren noch wiedererwägungsweise korrigiert werden kann.111
Auf die im Sozialversicherungsrecht grundsätzlich zur Verfügung stehende Einsprachemöglichkeit kann verzichtet werden, wobei der Verzicht gegebenenfalls noch widerrufen werden kann.
9.1 Gerichtsverfahren
Bei der Prüfung der Eintretensfrage hat das Gericht (beziehungsweise die zuvor zuständige Einspracheinstanz) die Frage der Rechtzeitigkeit des Rechtsmittels zu klären.113 Zu bestimmen ist sodann regelmässig der sogenannte Streitgegenstand, was bei der Beurteilung der Veränderung des Rentenanspruchs nicht immer leichtfällt.114
Wenn die als unentgeltliche Vertreterin bestellte Anwältin mit einer Substitutionsvollmacht eine weitere Anwältin beizieht, können die entsprechenden anwaltlichen Aufwendungen der substituiert tätigen Anwältin nicht im Rahmen der unentgeltlichen Vertretung aus der Gerichtskasse entschädigt werden.115
Im Verfahren vor Bundesgericht ist von zentraler Bedeutung – und zuweilen strittig –, dass das Bundesgericht auf Beschwerden gegen Zwischenentscheide des kantonalen Versicherungsgerichts nur unter bestimmten Voraussetzungen eintritt. Hier hatte sich das Bundesgericht mit einer Reihe von Fragen befasst, nämlich mit der Anfechtbarkeit des Zwischenentscheides
- betreffend weitere Abklärung116
- betreffend Feststellung einer Gehörsverletzung117
- betreffend Zulässigkeit von Ergänzungsfragen118
- betreffend die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.119
Ferner hat das Bundesgericht geklärt, wie es sich bezüglich der Anfechtbarkeit eines Rückweisungsentscheides durch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) verhält.120