1. Strafrecht
1.1 Allgemeine Bestimmungen
Art. 43 StGB (Teilbedingter Vollzug): Verweigert die Rechtsmittelinstanz – im Gegensatz zur ersten Instanz – den bedingten Strafvollzug, so ist das Verschlechterungsverbot von Art. 391 Abs. 2 StPO verletzt, auch wenn die Dauer der Strafe gesamthaft kürzer ist. Die Bestimmung von Art. 391 Abs. 2 StPO ermöglicht der Rechtsmittelinstanz, Tatsachen, die der ersten Instanz noch nicht bekannt sein konnten, wie beispielsweise eine Verurteilung, bei der Prüfung der Legalprognose beim bedingten Strafvollzug zu berücksichtigen.1
Art. 47 ff. StGB (Strafzumessung): Hält das Strafgericht eine den Antrag der Staatsanwaltschaft übersteigende Strafe für angemessen, ist eine besonders einlässliche Begründung erforderlich. Im Weiteren drücken die in den einzelnen Tatbeständen meist sehr weiten Strafrahmen eine abstrakte Bewertung ihres mehr oder weniger grossen Unrechtsgehalts aus, wobei zwischen Mindest- und Höchststrafe alle Schweregrade der zu beurteilenden Straftaten abgedeckt werden. Sie sind lediglich eine erste Richtlinie für die Festsetzung der Strafe und legen die Eckwerte fest, innerhalb derer sich das Gericht auf der Grundlage der Schuld und unter Berücksichtigung der spezial- und generalpräventiven Bedürfnisse die Strafe zu bestimmen hat. Dabei wird es vom statistischen Regelfall ausgehen, der nur einen verhältnismässig geringen Schweregrad erreicht. Zudem resultiert aus dem Handeln in Mittäterschaft für sich allein keine erhöhte Vorwerfbarkeit. Schliesslich ist zu prüfen, soweit die ins Auge gefasste Sanktion im Grenzbereich zum teilbedingten Vollzug (36 Monate) liegt, ob eine Strafe, welche diese Grenze nicht überschreitet, noch als vertretbar erscheint.2
Art. 49 Abs. 2 StGB (Zusatzstrafen nur zu inländischen Strafurteilen): Art. 49 StGB ist eine Strafzumessungsnorm, die nur zur Anwendung gelangt, wenn die zu beurteilende Straftat der schweizerischen Gerichtsbarkeit nach den Bestimmungen über den räumlichen Geltungsbereich unterliegt. Art. 49 Abs. 2 StGB soll gewährleisten, dass das in Abs. 1 verankerte Asperationsprinzip auch bei retrospektiver Konkurrenz zur Anwendung gelangt, erweitert hingegen den Anwendungsbereich des StGB nicht.
Implizite Voraussetzung für eine Zusatzstrafe gemäss Art. 49 Abs. 2 StGB ist, dass für die bereits beurteilten und noch zu beurteilenden Delikte im Falle gleichzeitiger gerichtlicher Beurteilung eine Gesamtstrafe hätte ausgesprochen werden können (vgl. allgemein rund um die [teilweise] retrospektive Konkurrenz den Bundesgerichtsentscheid 6B_829/2014 vom 30.6.2016 E. 2.3.2). Kommt jedoch eine gemeinsame gerichtliche Beurteilung und somit eine Gesamtstrafe nicht in Betracht, da die im Ausland begangenen Straftaten nicht in den (räumlichen) Geltungsbereich des StGB fallen, muss dies auch im Rahmen der retrospektiven Konkurrenz gelten.3
Art. 52 StGB (Fehlendes Strafbedürfnis): Liegt die Voraussetzung von Art. 52 StGB, d.h. Geringfügigkeit von Schuld und Tatfolgen vor, muss ein Verfahren eingestellt werden. Die Regelung von Art. 52 StGB ist zwingend.4
Art. 56 Abs. 3 StGB (Keine Prüfung einer Massnahme ohne Gutachten): Wenn gewisse Indikatoren eine Prüfung der Anordnung einer Massnahme nahelegen und diese durch das Gericht auch geprüft werden, muss zwingend ein Gutachten eines Sachverständigen eingeholt werden. Wenn das Gericht die sich stellenden Fragen beim Entscheid über die tatsächlichen Voraussetzungen der Massnahmenanordnung ohne die vom Gesetz vorausgesetzte Expertenhilfe beantwortet, eignet es sich unzulässigerweise Fachkompetenz an, über die es nicht verfügt.
Die Frage beispielsweise, ob die betroffene Person zu einer Suchtbehandlung bereit sei, betrifft letztlich die Erfolgsaussicht dieser Behandlung, worüber sich zwingend die sachverständige Person zu äussern hat.5 Der forensisch-psychiatrische Sachverständige im Rahmen von Art. 56 Abs. 3 StGB hat den Gutachterauftrag persönlich auszuführen. Eine Delegation seiner Aufgabe und seiner Verantwortung an Dritte ist grundsätzlich nicht zulässig. Er kann für untergeordnete Arbeiten Hilfspersonen heranziehen – eine Weitergabe der wesentlichen gutachterlichen Aufgaben durch den ernannten Sachverständigen an eine Drittperson ist mit der persönlichen Leistungspflicht des beauftragten Sachverständigen nicht vereinbar und ohne ausdrückliche Ermächtigung durch den Auftraggeber nicht zulässig.6
Art. 59 Abs. 4 StGB (Keine vorsorgliche Verlängerung einer stationären Massnahme): Die Verlängerung einer stationären Massnahme kann nicht gestützt auf Art. 59 Abs. 4 StGB vorsorglich, d.h. für die Dauer des gerichtlichen Nachverfahrens (Art. 364 f. StPO), durch den instruierenden Präsidenten angeordnet werden. Die fehlende Zuständigkeit des Strafgerichtspräsidenten zusammen mit den zumindest leicht erkennbaren schweren Verfahrensfehlern bewirken die Nichtigkeit der entsprechenden Verfügung. Soll der Betroffene für die Dauer des gerichtlichen Nachverfahrens in Haft behalten werden, ist ein Verfahren betreffend Anordnung von vollzugsrechtlicher Sicherheitshaft beim zuständigen Zwangsmassnahmengericht einzuleiten.7
Die in Art. 59 Abs. 4 StGB festgelegte Dauer einer stationären therapeutischen Massnahme beginnt, sofern dem Betroffenen nach der Massnahmenanordnung bis zum effektiven Behandlungsbeginn die Freiheit entzogen ist, mit dem rechtskräftigen und vollstreckbaren Entscheid, in dem die Massnahme angeordnet wird. Sie umfasst somit auch den Freiheitsentzug zwischen vollstreckbarer Massnahmenanordnung und effektivem Behandlungsbeginn.8
Art. 63 Abs. 2 StGB (Aufschub einer unbedingten Strafe zugunsten einer ambulanten Massnahme): Das Bundesgericht erachtet den Aufschub einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten zugunsten einer ambulanten Massnahme als bundesrechtskonform. Ausschlaggebend waren die gefestigten familiären Strukturen, die Würdigung der gesamten Umstände und der Umstand, dass die Befunde des Gutachters und des Therapeuten hinsichtlich der Auswirkungen eines Strafvollzugs auf den Behandlungserfolg übereinstimmten.9
Art. 64 Abs. 1 StGB (Verwahrung): Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist es zulässig, nebst einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe auch eine Verwahrung anzuordnen. Da bei einer Verwahrung neben einer Freiheitsstrafe die Anforderungen an die bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug formell und materiell höher sind und die Anforderungen an die Rückversetzung in den Strafvollzug weniger hoch sind als bei einer Freiheitsstrafe ohne gleichzeitige Verwahrung, werden im Fall der Anordnung einerseits das Risiko von Fehlprognosen beim Entscheid über die bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug und andererseits das Risiko von Straftaten nach der bedingten Entlassung verringert.10
In einem anderen Fall waren für das Bundesgericht aufgrund der konkreten Tatbegehung keine Umstände ersichtlich, wonach von schweren Straftaten im Sinne von Art. 64 Abs. 1 StGB auszugehen war. Bei den massgebenden Taten war es nur zu Sachschaden gekommen, Personen waren bei der Brandstiftung und der versuchten Störung des Eisenbahnverkehrs weder verletzt noch konkret gefährdet worden. Laut der verbindlichen Sachverhaltsfeststellungen im Strafurteil hat der Betroffene in beiden Fällen bloss eine abstrakte Gefahr für die körperliche Integrität Dritter geschaffen und sich überlegt, wie er die Taten umsetzt, ohne Dritte zu verletzen.11
Standardisierte Prognoseinstrumente zur Beurteilung der Rückfallgefahr einer inhaftierten Person können eine individuelle Prognose (allein) nicht begründen. Standardisierte Prognoseinstrumente beruhen auf einer Verallgemeinerung von empirischen Befunden. Sie können Anhaltspunkte über die Ausprägung eines strukturellen Grundrisikos eines Betroffenen liefern, reichen allein aber nicht aus, eine individuelle Gefährlichkeitsprognose tragfähig zu begründen. Für eine individuelle Prognose ist zusätzlich eine differenzierte Einzelfallanalyse durch den Sachverständigen nötig. Zudem hat das Gericht das Gutachten nach fachwissenschaftlichen Kriterien zu verstehen und zu prüfen. Es muss das Gutachten selbständig beurteilen und darf die Prognoseentscheidung nicht dem Sachverständigen überlassen.
Die richterliche Überprüfung des Gutachtens hat sich deshalb nicht nur auf das ermittelte Prognoseergebnis als solches zu beziehen, sondern muss sich auf die Qualität der gesamten Prognosestellung inklusive der vom Sachverständigen allenfalls verwendeten Prognoseinstrumente erstrecken.12
Art. 64 Abs. 1bis StGB (Lebenslängliche Verwahrung): Das Bundesgericht kassiert ein weiteres Mal die Verurteilung eines Wiederholungstäters zu einer lebenslänglichen Verwahrung. Die Schändung stellt keine Katalogtat im Sinne von Art. 64 Abs. 1bis StGB dar. Deshalb ist es unzulässig, die besondere Schwere der Beeinträchtigungen der physischen, psychischen oder sexuellen Integrität im Sinne von Art. 64 Abs. 1bis lit. a StGB gerade damit zu begründen, dass das Opfer die Tat nicht bewusst miterlebt habe und daher sein Leben lang nicht verarbeiten könne.13
Art. 86 Abs. 1 StGB (Bedingte Entlassung): Obschon in der Regel von einer günstigen Prognose auszugehen ist, kann fehlende Einsicht und Therapiebereitschaft auf eine fehlende günstige Legalprognose schliessen lassen. Der Insasse ist gesetzlich verpflichtet, bei Sozialisationsbemühungen und Entlassungsvorbereitungen aktiv mitzuwirken (Art. 75 Abs. 4 StGB) und – so das Bundesgericht – ohne Tataufarbeitung und Einsicht ist eine Verhaltensänderung grundsätzlich nicht zu erwarten. Im konkreten Fall hält das Bundesgericht fest, die im ureigenen Interesse des Insassen liegende Verhaltensänderung könne nur über intensive Therapiearbeit erreicht werden.14
Art. 97 Abs. 3 StGB i.V.m. Art. 354 StPO (Ende der Verfolgungsverjährung): Der Strafbefehl stellt einen Urteilsvorschlag dar, den Beschuldigte frei ablehnen können, indem sie Einsprache erheben. Soweit die Einsprache den Strafbefehl mit Wirkung ex tunc zunichtemacht, fehlt ihm die Eigenschaft eines den Lauf der Verfolgungsverjährung beendigenden erstinstanzlichen Urteils.15
1.2 Besondere Bestimmungen
Art. 111, Art. 113 und Art. 117 i.V.m. Art. 15 f. StGB (Tötung in Notwehrexzess): Ob der Angegriffene den Angriff provoziert hat, ist bei der Zulässigkeit beziehungsweise der Verhältnismässigkeit der Notwehr und der Entschuldbarkeit eines allfälligen Notwehrexzesses zu berücksichtigen. Ein Schuldspruch wegen fahrlässiger Tötung mit der Begründung, der Täter habe die Notwehrsituation selbst verschuldet, wenn auch nur fahrlässig, kommt nicht in Betracht.
Totschlag und Notwehrlage schliessen sich gegenseitig nicht aus. Liegt die heftige Gemütsbewegung in der Aufregung oder Bestürzung über einen unrechtmässigen Angriff, kommen jedoch Art. 113 und 16 Abs. 1 StGB nicht gleichzeitig zur Anwendung. Die Tat ist als vorsätzliche Tötung nach Art. 111 StGB, begangen in Notwehrexzess, zu qualifizieren.16
Art. 133 StGB (Raufhandel): Das «Verfolgen» oder «Nachrennen» ist keine tätliche Beteiligung an einem Raufhandel. Eine psychische Mitwirkung kann als Gehilfenschaft zu Raufhandel qualifiziert werden, falls mindestens drei Personen wechselseitig kämpfen.17
Der Raufhandel ist ein abstraktes Gefährdungsdelikt. Der Tatbestand schützt vor allem das öffentliche Interesse, Schlägereien zu verhindern. Bei abstrakten Gefährdungsdelikten gibt es keine Geschädigten im Sinne von Art. 115 Abs. 1 StPO, ausser jemand werde als Folge eines solchen Delikts konkret gefährdet oder verletzt.18
Art. 139 Ziff. 2 StGB (Gewerbsmässiger Diebstahl): Gewerbsmässiger Diebstahl liegt bei einem versuchten und einem vollendeten Diebstahl nicht vor – die geforderte Häufigkeit der Einzelakte innerhalb eines bestimmten Zeitraumes ist nicht gegeben. Zudem betrug der Deliktsbetrag 380 Franken. Von einer namhaften Finanzierung der Lebensgestaltung konnte nicht die Rede sein. Laut Bundesgericht kann die Aussage des Beschuldigten, nach der Entlassung aus der Haft in Genf habe er kein Geld gehabt und deshalb ein paar Einbrüche geplant, ein gewerbsmässiges Handeln allein nicht begründen.19
Art. 146 StGB (Betrug): Der Regelfall im Geschäftsalltag darf nicht aus dem Schutzbereich des Betrugstatbestands ausgeklammert werden. Wenn ein Privater einen leistungsstarken Drucker der Mittelklasse für 2200 Franken bestellt, kann nicht mehr von einem Alltagsgeschäft gesprochen werden, vor allem, wenn ein Vertrauensverhältnis fehlt. Indem die Verkäuferin den übers Internet bestellten, unüblich teuren Drucker an eine ihr unbekannte Privatperson auf Rechnung lieferte, ging sie ein gewisses Risiko ein. Zudem tätigte sie keinerlei Abklärungen zur Bonität. Das Bundesgericht taxierte diese Missachtung grundlegendster Vorsichtsmassnahmen als leichtfertig, was das Verhalten des Angeklagten ausnahmsweise in den Hintergrund rücken liess. Die arglistige Täuschung wurde verneint.20
Eine Person, die Sozialhilfe bezieht, darf nicht wegen Gewerbsmässigkeit verurteilt werden, wenn sie nur eine einzige Täuschungshandlung begangen hat (wobei das Verschweigen von Einkommensbestandteilen vom Bundesgericht weiterhin als aktives Tun qualifiziert wird). Daran ändert auch eine Vielzahl von Bezügen, die auf die Täuschungshandlung zurückgehen, nichts.21
Art. 173 und Art. 178 StGB (Üble Nachrede und Verfolgungsverjährung): Die üble Nachrede, begangen durch eine ehrverletzende Äusserung in einem Blog auf einer Internetseite, ist ein Zustandsdelikt. Die Verfolgungsverjährung beginnt mit der Publikation.22
Art. 181 StGB (Nötigung durch Stalking): Belästigt der Täter das Opfer vielfach und über längere Dauer, ist mit der Zeit jede einzelne Handlung geeignet, die Handlungsfreiheit des Opfers derart einzuschränken, dass ihr eine mit Gewalt oder Drohung vergleichbare Zwangswirkung zukommt.23
Art. 187 Ziff. 3 StGB (Straflose sexuelle Handlungen mit Kindern): Das Bundesgericht umschreibt in einem Entscheid die besonderen Umstände, unter denen eine Jugendliebe nicht kriminalisiert werden kann.24
Art. 261bis StGB (Rassendiskriminierung): Das Bundesgericht hat entschieden, dass der Kristallnacht-Tweet («Vielleicht brauchen wir wieder eine Kristallnacht,
diesmal für Moscheen») den Tatbestand von Art. 261bis StGB erfüllt. Der Tweet verknüpft die Novemberpogrome ausdrücklich mit «Moscheen» und impliziert für diese, was für die Synagogen tatsächlich stattfand. Der Beschwerdeführer sprach damit Personen und Gruppen der islamischen Glaubensgemeinschaft im Sinne von Art. 261bis Abs. 4 StGB die Existenzberechtigung und Gleichwertigkeit ab, indem er mit seinem Tweet die Frage in den (virtuellen) Raum stellte, ob «wir» in Analogie zu den grauenhaften, zutiefst unmenschlichen Ereignissen in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 eine systematische Vertreibung und Ermordung von Muslimen «brauchen».25
2. Nebenstrafrecht
2.1 Bundesgesetz über die Betäubungsmittel und die psychotropen Stoffe (BetmG)
Art. 19 Abs. 1 lit. c BetmG (Verschaffen von Betäubungsmitteln): Die Materialien legen nahe, dass der Gesetzgeber das Vermitteln von Betäubungsmitteln in der neuen Gesetzesfassung nicht unerwähnt liess, weil er an der Strafbarkeit etwas ändern wollte. Der Wortlaut der mit der Teilrevision eingeführten Tatbestandsvariante «auf andere Weise einem anderen verschafft», bedeutet nicht, dass nur derjenige verschaffen kann, der die Tatherrschaft über die Substanz hat. Es ist davon auszugehen, dass diese Tatbestandsvariante die Vermittlertätigkeit im Sinne der bisherigen Rechtsprechung umfasst.26
Art. 19 Ziff. 2 lit. c BetmG
(Gewerbsmässiger Betäubungsmittelhandel): Wer einen aus dem Marihuana-Handel stammenden Erlös von 130 000 Franken nicht für sich persönlich zurückbehält, sondern weitergegeben hat, erfüllt persönlich das Merkmal des grossen Umsatzes nicht.27
2.2 Strassenverkehrsgesetz
Art. 90 Ziff. 2 i.V.m. Art. 35 Abs. 1 SVG (Unterscheidung zwischen [auf Autobahnen] verbotenem Rechtsüberholen und erlaubtem Rechtsvorfahren): Bei parallelem Kolonnenverkehr ist es erlaubt, rechts an anderen Fahrzeugen vorbeizufahren. Rechtsüberholen durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen ist hingegen gemäss Art. 8 Abs. 3 VRV auch beim Fahren in parallelen Kolonnen ausdrücklich untersagt. Kolonnenverkehr liegt vor, wenn es auf der Überholspur zu einer derartigen Verkehrsverdichtung kommt, dass die Geschwindigkeiten auf der Überhol- und der Normalspur praktisch gleich sind. Passives Rechtsvorbeifahren bei dichtem Verkehr ist mittlerweile eine alltägliche, kaum zu vermeidende Situation, die nicht generell zu einer abstrakt erhöhten Gefahrensituation i.S.v. Art. 90 Ziff. 2 SVG führt.28
Art. 90 Ziff. 3 und 4 SVG (Qualifizierte grobe Verletzung der Verkehrsregeln): Das Bundesgericht kassiert ein Raserurteil, weil die Vorinstanz den Vorsatz nicht geprüft hat. Es bestätigt damit, dass auch vorsätzlich handeln muss, wer objektiv ein Raser ist.29 Bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung im Sinne von Art. 90 Abs. 4 lit. a–d SVG besteht keine unwiderlegbare Gesetzesvermutung, dass die subjektiven Voraussetzungen von Art. 90 Ziff. 3 SVG erfüllt sind. Dem Richter kommt ein – begrenzter – Handlungsspielraum zu, um unter besonderen Umständen die Erfüllung der subjektiven Voraussetzungen zu verneinen.30
Auch wer das Tempolimit des Rasertatbestands um nur einen Kilometer pro Stunde überschreitet, muss zu mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt werden.31
3. Strafverfahren
3.1 Schweizerische Strafprozessordnung:
Art. 5 Abs. 2 StPO (Beschleunigungsgebot in Haftsachen): Das Bundesgericht stellt eine Verletzung des haftrechtlichen Beschleunigungsgebots fest, weil zwischen Anklageerhebung und Hauptverhandlung deutlich mehr als sechs Monate liegen.32
Art. 9 Abs. 1 i.V.m. Art. 333 Abs. 1 StPO (Akkusationsprinzip): Wenn es die Staatsanwaltschaft unterlässt, in der Anklageschrift alle tatsächlichen Umstände aufzuführen, aus denen sich die Pflichtwidrigkeit des vorgeworfenen Verhaltens ergeben könnte, kann dies nicht zur Verpflichtung des Gerichts führen, ihr Gelegenheit zur Anklageänderung bzw. -erweiterung zu geben.33
Wer der Täterschaft angeklagt ist, kann nach Auffassung des Bundesgerichts ohne Verletzung des Anklageprinzips auch als Gehilfe verurteilt werden. Der Umstand, dass die Tathandlungen des Angeklagten nicht als Gehilfenschaft bezeichnet werden, stellt keine Verletzung des Anklagegrundsatzes dar, wenn sich die Gehilfenschaft aus der Sachverhaltsdarstellung in der Anklageschrift als reale Möglichkeit aufdrängt.34
Das Bundesgericht scheint seine Anforderungen an die Informations- und Umgrenzungsfunktion einer Anklageschrift (wieder) zu erhöhen.35
Art. 29 StPO (Grundsatz der Verfahrenseinheit): Das Bundesgericht stärkt den Grundsatz der Verfahrenseinheit, da die Einschränkung der Parteirechte in getrennt geführten Verfahren massiv ist (vgl. BGE 140 IV 172; 141 IV 220 E. 4.5). Nach einem neueren Entscheid besteht ein Anspruch auf Verfahrenseinheit und ein Anspruch auf frühzeitige Vereinigung respektive auf einen begründeten anfechtbaren Zwischenentscheid betreffend Verfahrensvereinigung bzw. -trennung.36
Kommen mehrere Beschuldigte als Täter oder Tatbeteiligte in Frage, darf das Verfahren in der Regel nicht aufgeteilt werden. Belasten sich die Beschuldigten gegenseitig und ist unklar, welcher Beschuldigte welchen Tatbeitrag geleistet hat, besteht bei einer Verfahrenstrennung die Gefahr widersprüchlicher Entscheide, sei es in Bezug auf die Sachverhaltsfeststellung, die rechtliche Würdigung oder die Strafzumessung.37
Art. 56 lit. b StPO (Vorbefasstheit als Ausstandsgrund): Die Vorschriften über den Ausstand lassen nicht zu, eine über besonderes Fachwissen verfügende Person im Rahmen einer Strafuntersuchung betreffend ein Unfallgeschehen konkret zum Ablauf Stellung beziehen zu lassen und sie hernach als Experten für die Analyse des Hergangs zu ernennen. Ein solches Vorgehen kann den Anschein erwecken, der Experte sei bei der Ernennung nicht mehr frei, von seiner zuvor in anderer Stellung geäusserten Auffassung abzurücken, also nicht mehr unvoreingenommen.38
Das Bundesgericht schickt einen Staatsanwalt in den Ausstand, der einen Beschuldigten anlässlich einer Einvernahme als «menteur patenté» bezeichnet hat.39
Art. 80 Abs. 2 StPO (Form der Entscheide): Ein Urteil, das nur die Unterschrift des Gerichtsschreibers, nicht aber des Präsidenten trägt, genügt den Anforderungen von Art. 80 Abs. 2 StPO nicht. Bei der Unterschrift handelt es sich um ein Gültigkeitserfordernis.40
Andererseits sollen Entscheide auch per Fax rechtswirksam und fristenauslösend eröffnet werden können, wenn die Kenntnisnahme der in der falschen Form und auf falschem Weg zugestellten Verfügung belegt ist.41
Art. 80 Abs. 2 i.V.m. Art. 81 Abs. 1 lit. b und Art. 81. Abs. 3 lit. a StPO (Begründung der Entscheide): Da sich die Begründungspflicht des Strafgerichts aus dem Bundesrecht ergibt, darf es die Höhe der Gebühr für das Berufungsverfahren nicht davon abhängig machen, ob es sein Urteil schriftlich begründet oder nicht.42
Art. 108 Abs. 1 lit. b StPO (Einschränkungen des Akteneinsichtsrechts der Privatklägerschaft): Das Akteneinsichtsrecht steht nach Art. 101 StPO den Parteien und damit auch den Privatklägern zu. Ihr Anspruch ist weder absolut noch unbegrenzt und hat im Rahmen der Verhältnismässigkeit private Geheimhaltungsinteressen zu respektieren. Dazu zählen das Steuergeheimnis und die Privatsphäre der beschuldigten Person.43
Art. 113 StPO (Nemo tenetur se ipsum accusare): Gerade im Strassenverkehrsrecht bestehen spezielle Beweiswürdigungsgrundsätze. Das Bundesgericht bestätigt seine Rechtsprechung, wonach das Schweigen einer beschuldigten Person im Rahmen ihres gesamten Aussageverhaltens bei der Beweiswürdigung (zu ihrem Nachteil) mitberücksichtigt werden darf.44
Im Entsiegelungsverfahren hat der Betroffene trotz seines Status als beschuldigte Person eine Mitwirkungsobliegenheit. Danach hat eine detaillierte Triage durch den Entsiegelungsrichter nur zu erfolgen, soweit der betroffene Inhaber, der die Versiegelung beantragt hat, substanziierte Einwände gegen die Entsiegelung und Durchsuchung von sichergestellten Aufzeichnungen und Gegenständen erhebt. Es handelt sich um eine prozessuale Obliegenheit der rechtsuchenden Partei, jene Dateien zu benennen, die ihrer Ansicht nach der Geheimhaltung unterliegen oder offensichtlich keinen Sachzusammenhang mit der Strafuntersuchung aufweisen.45
In einem anderen Urteil postuliert das Bundesgericht eine restriktive Anwendung des Selbstbelastungsprivilegs. Zwar gelte das strafprozessuale Verbot des Selbstbelastungszwangs grundsätzlich auch für juristische Personen. Der Nemo-tenetur-Grundsatz sei jedoch in dem Sinne restriktiv zu handhaben, dass der aufsichtsrechtliche und strafprozessuale Zugriff auf Unterlagen, welche das beschuldigte Unternehmen aufgrund verwaltungsrechtlicher Gesetzesvorschriften erstellen, aufbewahren und dokumentieren muss, nicht unterlaufen werden kann.46
Beweismittel, die bei einem Inhaftierten im Verwahrungsvollzug in einer Strafanstalt wegen Verdacht einer unbewilligten Nutzung des Internets eingezogen wurden, dürfen verwertet werden.47
Art. 115 i.V.m. Art. 121 StPO (Erben als geschädigte Personen): Der einzelne Erbe ist bei Straftaten zum Nachteil der Erbengemeinschaft unmittelbar geschädigt im Sinne von Art. 115 Abs. 1 StPO. Das einzelne Mitglied einer Gemeinschaft zur gesamten Hand ist bei Straftaten zum Nachteil der Gemeinschaft befugt, Strafantrag zu stellen. Der einzelne Erbe ist daher auch berechtigt, sich allein als Privatkläger im Strafpunkt (Strafkläger) am Strafverfahren zu beteiligen und Rechtsmittel zu ergreifen. Im Unterschied zum Zivilpunkt ist im Strafpunkt kein gemeinsames Vorgehen der Erben erforderlich. Gleiches gilt auch für den Ehegatten der verstorbenen geschädigten Person. Sie sind in der Reihenfolge der Erbberechtigung kumulativ oder alternativ zur Zivil- und Strafklage berechtigt.48
Art. 129 StPO (Wahlverteidigung): Der Anspruch auf freie Anwaltswahl kann laut Bundesgericht auch den Anspruch auf eine Terminverschiebung mit sich bringen, wenn der Grund in einer objektiv begründeten Kollision besteht. Dem Beschuldigten ist es gelungen durchzusetzen, dass er anlässlich der Hauptverhandlung von seinem Wahlverteidiger vertreten wird.49
Im Kanton Luzern wurde ein Anwalt nicht als Verteidiger des Beschuldigten A. zugelassen, weil er zuvor in einem anderen Verfahren, aber im gleichen Sachverhalt den Beschuldigten G. vertrat. Das Bundesgericht hat den Entscheid der Staatsanwaltschaft geschützt, obschon das Verfahren gegen G. rechtskräftig eingestellt war.50
Art. 132 Abs. 1 lit. b und Abs. 2 StPO (Unentgeltliche amtliche Verteidigung): In einem Ehrverletzungsverfahren hat der Beschuldigte unter dem Aspekt der Waffengleichheit nicht automatisch Anspruch auf eine amtliche Verteidigung, wenn der Strafantragsteller und Privatkläger anwaltlich vertreten ist. Die Staatsanwaltschaft muss den Sachverhalt von Amtes wegen klären und ist verpflichtet, belastende und entlastende Umstände zu untersuchen (Art. 6 StPO).51
Eine amtliche Verteidigung kann aber bei einer Mehrzahl von Tatvorwürfen geboten sein, was – so das Bundesgericht – bereits eine nicht unerhebliche Komplexität darstellt, und bei heiklen Beweisfragen (Nachbarschaftsstreit, der zu einer Pfeffersprayattacke sowie zu Handgreiflichkeiten mit einer leichten Verletzung geführt haben soll), bei einer anwaltlichen Vertretung der geschädigten Person sowie allfälligen retrospektive konkurrenzrechtlichen Problemen.52
Gleiches kann bei Vier-Augen-Delikten und einem fehlenden Geständnis des Beschuldigten gelten sowie bei Fragen um die Verwertung von Beweiserhebungen, der strafrechtlichen Qualifikation der vorgeworfenen Handlungen und der allfälligen Strafzumessung.53
Art. 134 Abs. 2 StPO (Wechsel der amtlichen Verteidigung): Unterlässt es der amtlich beigeordnete Verteidiger, sich für die Wahrung der Teilnahmerechte seines Mandanten einzusetzen, ist nachvollziehbar, dass sich der Beschuldigte nicht effektiv vertreten fühlt. Lässt der Verteidiger keine Änderung dieser Strategie erkennen, ist dem Begehren um Auswechslung des Verteidigers zu entsprechen.54
Art. 136 Abs. 1 StPO (Unentgeltliche Rechtspflege für die Privatklägerschaft): Mit Art. 136 Abs. 1 StPO hat der Gesetzgeber den Anspruch der Privatklägerschaft auf unentgeltliche Rechtspflege wissentlich und laut Bundesgericht im Hinblick auf Art. 190 BV verbindlich auf den Fall beschränkt, dass im Strafverfahren konnexe privatrechtliche Ansprüche durchgesetzt werden sollen. Beteiligt sich die geschädigte Person hingegen einzig im Strafpunkt als Privatklägerin, hat sie grundsätzlich keinen Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege. Das Bundesgericht bestätigt seine diesbezügliche bisherige Rechtsprechung.55
Art. 140 f. StPO (Verwertbarkeit rechtswidrig erhobener Beweise): Beim Vorwurf von Sexualdelikten scheint die Interessenabwägung im Rahmen von Art. 141 Abs. 2 StPO regelmässig zugunsten des öffentlichen Interesses an der Wahrheitsfindung auszufallen. Betreffend der Frage, ob die Strafverfolgungsbehörden das fragliche Beweismittel rechtmässig hätten erlangen können, sind überdies nur solche gesetzlichen Erfordernisse einzubeziehen, die sich abstrakt anwenden lassen und keine Würdigung konkreter Umstände der jeweiligen Beweiserlangung erfordern. Der Subsidiaritätsgrundsatz muss nicht geprüft werden.56
Aufgrund der Vorschriften zum nachrichtendienstlichen Quellenschutz durfte der NDB Erklärungen zur Herkunft seiner Informationen verweigern. Die Vorinstanz durfte nach Ansicht des Bundesgerichts davon absehen, weitere Beweise abzunehmen. Der NDB untersteht sowohl einer parlamentarischen Kontrolle als auch einer Verwaltungskontrolle, welche die Tätigkeit der Nachrichtendienste unter anderem auf Rechtmässigkeit überprüfen (Art. 25 BWIS i.V.m. Art. 26 ParlG und Art. 26 BWIS). Die Vorinstanz durfte davon ausgehen, dass die im Bericht des Inlandgeheimdienstes DAP bzw. des NDB enthaltenen Informationen legaler Herkunft sind.57
Das Rechtsüberholen eines Personenwagens durch den Lenker eines zivilen Polizeifahrzeugs im Rahmen der Nachfahrkontrolle bei einem anderen Auto war im konkreten Fall verhältnismässig und daher erlaubt. Die während der Nachfahrkontrolle erstellte Videoaufzeichnung, die als Beweis für das Rechtsüberholmanöver des kontrollierten Fahrzeuglenkers diente, war deshalb nicht in strafbarer Weise erlangt worden und war verwertbar. Verkehrsregelverletzungen durch Polizeibeamte sind auch in Fällen, in denen weder Blaulicht noch Wechselklanghorn eingesetzt werden, gestützt auf Art. 14 StGB und allenfalls kantonales Polizeirecht erlaubt und nicht strafbar, wenn sie im Rahmen der Erfüllung polizeilicher Aufgaben erfolgen und verhältnismässig sind.58
Art. 183 Abs. 3, Art. 56 lit. f StPO (Befangenheit eines Gutachters): Ein Metas-Gutachter ist nicht befangen, wenn er sich als Gutachter zur Durchführung einer konkreten Geschwindigkeitsmessung äussern muss, die mit Geräten erfolgte, für deren Zulassung er verantwortlich war. Das Bundesgericht meint, Thema der Expertise sei nicht die Funktionstüchtigkeit des Geräts als solches gewesen, sondern die Durchführung der konkreten Geschwindigkeitsmessung und die Gültigkeit der Messergebnisse.59
Art. 184 Abs. 2 lit. f StPO (Hinweis des Gutachters auf die Straffolgen eines falschen Gutachtens): Telefonische Ausführungen einer Expertin gegenüber dem Staatsanwalt – festgehalten in einer Aktennotiz – sind nicht als gutachterliche Äusserungen verwertbar (vgl. auch BGE 119 V 208 E. 4). Im vorliegenden Fall deutete auch nichts darauf hin, dass der Staatsanwalt die Sachverständige vor ihren telefonischen Erläuterungen auf Art. 307 StGB betreffend falsches Gutachten hingewiesen hätte.60
Auch dauernd bestellte oder amtliche Sachverständige (Art. 183 Abs. 2 StPO) müssen auf die Straffolgen eines falschen Gutachtens hingewiesen werden. Die Vorschrift betreffend Belehrung ist jedoch insoweit lediglich eine Ordnungsvorschrift und das Gutachten eines dauernd bestellten oder amtlichen Sachverständigen ist daher auch bei Fehlen der Belehrung verwertbar.61
Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO (Haft wegen Wiederholungsgefahr): Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr ist zwar nicht ausgeschlossen, wenn «bloss» Vermögensdelikte befürchtet werden, die Anforderungen an den besonderen Haftgrund scheinen aber vom Bundesgericht höher gelegt zu werden. Im betreffenden Fall wog der Vorwurf des gewerbsmässigen Betrugs zwar nicht leicht, angesichts der geringen Deliktssumme (24 Täuschungen in der Höhe von 80 bis 250 Franken) sowie der nicht sehr langen Dauer der deliktischen Tätigkeit (ca. zweieinhalb Monate) auch nicht besonders schwer.62
Da Betrug, auch gewerbsmässiger, nicht die Sicherheit Dritter, sondern «bloss» deren Vermögen bedroht, kann er die Annahme von Wiederholungsgefahr höchstens in objektiv besonders schweren Fällen ausnahmsweise rechtfertigen. Im konkreten Fall soll der Beschuldigte seinen Lebensunterhalt über Jahre hinaus durch unrechtmässige Bezüge von Sozialhilfe- und Arbeitslosengeldern aufgebessert haben.63
In einem anderen Entscheid befürwortet das Bundesgericht – nachdem es den besonderen Haftgrund der Wiederholungsgefahr über den Gesetzestext hinaus bejaht hat (vgl. BGE 137 IV 13) – Untersuchungshaft zur Abklärung, ob Wiederholungsgefahr überhaupt besteht.64
In einem anderen Fall waren Drohungen und Ehrverletzungen nicht geeignet, die Voraussetzung für Präventivhaft zu erfüllen.65
Art. 226 Abs. 4 lit. c, Art. 227 Abs. 5, Art. 237 Abs. 1 StPO (Anordnung von Ersatzmassnahmen anstelle von Untersuchungshaft): Das Zwangsmassnahmengericht kann keine Untersuchungshaft anordnen, wenn die Staatsanwaltschaft lediglich Ersatzmassnahmen beantragt hat.66
Art. 244 StPO (Einwilligung in Hausdurchsuchungen): Stellt das Gesetz Fälle mit Einwilligung der berechtigten bzw. betroffenen (vgl. Art. 249 StPO) Person solchen ohne die entsprechende Einwilligung gegenüber, kann dies nach Ansicht des Bundesgerichts nur bedeuten, dass die fragliche Zwangsmassnahme bei Vorliegen einer rechtsgültigen Einwilligung nicht mehr in der grundsätzlich vorgeschriebenen Form angeordnet zu werden braucht. Räumlichkeiten dürfen deshalb entweder gestützt auf einen Hausdurchsuchungsbefehl oder aufgrund einer Einwilligung der berechtigten Person betreten werden.67
Art. 246 StPO (Durchsuchung von Unterlagen und Gegenständen): Wer als beschuldigte Person widersprüchliche Aussagen über finanzielle Verhältnisse macht, muss mit Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen rechnen, damit die Aussagen überprüft werden können. Eine blosse Schätzung unter seiner Mitwirkung liegt im Lichte des Gebotes der Wahrheitsfindung (Art. 139 Abs. 1 StPO) nicht nahe.68
Art. 248 i.V.m. Art. 264 StPO (Siegelungsrecht aufgrund des Anwaltsgeheimnisses): In Entsiegelungsverfahren stellt sich oft die Frage, welche Informationen dem anwaltlichen Berufsgeheimnis unterliegen. Nach Doktrin und Rechtsprechung nicht geschützt ist die sogenannte (akzessorische) anwaltliche «Geschäftstätigkeit». Dazu zählt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts insbesondere die Geschäftsführung bzw. Verwaltung einer Gesellschaft oder die Vermögensverwaltung. Entscheidend für die Abgrenzung ist, ob bei den Dienstleistungen die kaufmännisch-operativen oder die anwaltsspezifischen Elemente objektiv überwiegen. Delegiert eine Bank ihre gesetzlichen Compliance- und Controllingaufgaben sowie die damit verbundene Pflicht, verdächtige Geschäftsabläufe sachgerecht zu dokumentieren (Art. 7 Abs. 1– 2 GwG) an eine Anwaltskanzlei, kann sich diese im Falle von strafrechtlichen Untersuchungen nicht integral auf das anwaltliche Berufsgeheimnis berufen.69
Im Übrigen kann als sachverständige Person im Rahmen von Art. 248 Abs. 4 StPO nur dann ein Polizeibeamter für die Triage beigezogen werden, wenn er keine Dokumenteninhalte beurteilen muss.70
Die Triage des Gerichts kann nicht an die Strafverfolgungsbehörden delegiert werden.71
Art. 264 Abs. 1 lit. b StPO (Einschränkungen der Beschlagnahme): Das Bundesgericht erachtete es als zulässig, dass ein von der Gefängnisverwaltung entdecktes und gelesenes Tagebuch eines Häftlings als Beweismittel gegen ihn verwendet wird. Stossenderweise war das Tagebuch als Beweismittel nicht für die Aufklärung einer Straftat relevant, sondern für die Frage der allenfalls zu verhängenden Massnahme im Berufungsverfahren.72
Art. 273 StPO (Teilnehmeridentifikation): Um herauszufinden, welches von vier Familienmitgliedern eine schwere Verkehrsregelverletzung (Überschreiten der signalisierten Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um 29 km/h) zu verantworten hat, ist es laut Bundesgericht zulässig, rückwirkend die Randdaten der entsprechenden Mobiltelefone zu erheben.73
Art. 278 Abs. 1 i.V.m. Art. 274 StPO (Genehmigungsverfahren bei Zufallsfunden): Bei Telefonüberwachungen ist die Verwendung von Zufallsfunden nach Art. 278 Abs. 1 StPO genehmigungspflichtig. Art. 274 StPO umschreibt das Genehmigungsverfahren, wobei die Frist von 24 Stunden lediglich eine Ordnungsfrist sein soll.74
Art. 285a StPO (Begriff der verdeckten Ermittlung): Polizisten, die sich beruflich als Minderjährige in Chatrooms aufhalten, gelten grundsätzlich nicht mehr als verdeckte Ermittler. Die erste Phase einer solchen Chatroom-Operation war laut Bundesgericht eine polizeirechtliche Massnahme ausserhalb der Strafprozessordnung (präventive Kontaktaufnahme). Bei der zweiten Phase (Versand eines Nacktbilds durch den Täter) wurde die Aktion zur strafprozessualen verdeckten Fahndung. Das Hauptargument lag für das Bundesgericht darin, dass keine fingierten Urkunden eingesetzt wurden und es deshalb an der für die verdeckte Ermittlung erforderlichen urkundengestützten Legendierung fehlte.75
Art. 319 StPO (In dubio pro duriore): Bei der Frage, ob der subjektive Tatbestand in Bezug auf die zur Diskussion stehenden Strafnormen erfüllt ist, ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung im Zweifel eine Beurteilung durch den Sachrichter erforderlich – insbesondere bei Amtsmissbrauch.76
Art. 319 Abs. 1 i.V.m. Art. 11 Abs. 1 StPO (Teileinstellung und ne bis in idem): Eine Teileinstellung kommt nur in Betracht, wenn mehrere Lebensvorgänge oder Straftaten vorliegen, die getrennt beurteilt werden können. Sie ist unzulässig, wenn derselbe Lebensvorgang oder Tatkomplex bloss anders gewürdigt wird. So kann die gleiche Straftat nicht unter einem Gesichtspunkt eine Verurteilung und unter einem anderen eine Verfahrenseinstellung zur Folge haben.77
Art. 343 Abs. 3 StPO (Beweisabnahme in der Hauptverhandlung): Art. 343 Abs. 3 StPO geht über den in EMRK und BV verankerten Konfrontationsanspruch hinaus, da eine Konfrontation im Vorverfahren nicht genügt, sondern das Gericht verpflichtet wird, im Vorverfahren ordnungsgemäss erhobene Beweise in Anwendung des Unmittelbarkeitsprinzips nochmals zu erheben. Dies ist allerdings nur dann der Fall, wenn die unmittelbare Kenntnis des Beweismittels für die Urteilsfällung notwendig erscheint. Dies ist nach der Rechtsprechung der Fall, wenn die Kraft des Beweismittels in entscheidender Weise vom Eindruck abhängt, der bei seiner Präsentation entsteht, etwa wenn es in besonderem Mass auf den unmittelbaren Eindruck einer Zeugenaussage ankommt, so wenn die Aussage das einzige direkte Beweismittel darstellt (vgl. BGE 140 IV 196 E. 4.4.2).78
Diese Grundsätze gelten grundsätzlich auch für das zweitinstanzliche Verfahren.79
Videoaufzeichnungen der staatsanwaltschaftlichen Befragungen können die Befragung der Hauptbelastungszeugin bei Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen grundsätzlich nur dann ersetzen, wenn weitere Sachbeweise oder Indizien vorliegen und die einvernommene Person konstant und in sich logisch konsistent aussagt. Die Beweiskraft von Videos ist eingeschränkt, wenn die einvernommene Person die Tatvorwürfe zu keinem Zeitpunkt frei und zusammenhängend schildert. Die unmittelbare Befragung durch das erkennende Sachgericht ist in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen insbesondere dann für die Urteilsfällung unerlässlich, wenn die als widersprüchlich gerügten Aussagen nicht das Ergebnis einer eigenständigen Schilderung durch die Opferzeugin sind, sondern in erster Linie auf der Art der polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Befragung, insbesondere der mehrfachen Wiederholung und dem Insistieren auf Fragen beruht, bevor die Antworten protokolliert wurden.80
Art. 353 Abs. 3 StPO (Eröffnung des Strafbefehls): Stellt die Strafbehörde einen Strafbefehl entgegen der gesetzlichen Zustellungsmodalitäten gemäss Art. 85 Abs. 2 StPO mittels einfacher Postsendung zu, trägt sie die Beweislast für die Zustellung und deren Datum. Der Nachweis des für den Fristenlauf zur Einsprache massgebenden Empfangsdatums des Adressaten kann nicht durch den Hinweis auf die übliche Beförderungsdauer bei Postsendungen erbracht werden.81
Art. 363 ff. und Art. 393 Abs. 1 lit. b StPO (Durchführung einer mündlichen Verhandlung bei Beschwerdeentscheiden der Rechtsmittelinstanz in gerichtlichen Nachverfahren): Das Bundesgericht bestätigt seine in BGE 141 IV 396 publizierte Rechtsprechung, wonach selbständige nachträgliche gerichtliche Entscheide im Sinne von Art. 363 ff. StPO mit Beschwerde anzufechten sind. Als spezialisierte Fachbehörde muss die Staatsanwaltschaft das Rechtsmittelsystem und die im Internet veröffentlichte Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Fragen, die zu ihrem elementaren Handwerkszeug gehören, kennen.82
Ein schriftliches Beschwerdeverfahren vermag der Tragweite gewisser selbständiger nachträglicher Entscheidungen womöglich nicht zu genügen. In solchen Fällen drängt sich aufgrund der Eingriffsintensität des Entscheids und der Art der zur Prüfung anstehenden Fragen (zu denken ist insbesondere an Entscheide im Rahmen von Art. 59 Abs. 4 bzw. Art. 62c Abs. 3 u. 6, Art. 65 Abs. 1 oder Art. 62c Abs. 4 StGB) auch im Beschwerdeverfahren eine mündliche Verhandlung auf. Will die Rechtsmittelinstanz trotz entsprechendem Antrag des Betroffenen ausnahmsweise auf eine mündliche Verhandlung verzichten, muss sie sich auf besondere Umstände stützen können.83
Art. 382 StPO (Beschwerderecht der Privatklägerschaft): Wer sich im Verfahren als Privatklägerin konstituiert, kann sowohl die Verfolgung und Bestrafung der Täter verlangen als auch adhäsionsweise Zivilansprüche geltend machen (Art. 119 Abs. 2 lit. a und b StPO). Sie ist Partei des Verfahrens (Art. 104 Abs. 1 lit. a StPO) und befugt, die in der StPO vorgesehenen Rechtsmittel zu ergreifen, sofern sie ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung eines Entscheides hat.
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung begründet der Anspruch der Privatklägerschaft, die Verfolgung und Verurteilung des Täters zu verlangen, das rechtlich geschützte Interesse im Sinne von Art. 382 Abs. 1 StPO, auch wenn sie keine Zivilansprüche geltend machen kann. Diese Bestimmung ist nicht im Sinn von Art. 81 Abs. 1 lit b Ziff. 5 BGG auszulegen, der die Legitimation der Privatklägerschaft zur Beschwerde ans Bundesgericht davon abhängig macht, dass sich der angefochtene Entscheid auf ihre Zivilforderungen auswirken kann (BGE 141 IV 231 E. 2.5).84
Art. 422 ff. StPO (Begriff der Verfahrenskosten): Die Kosten der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft sind keine Auslagen im Sinne von Art. 422 StPO. Sie dürfen der verurteilten Person nicht gestützt auf Art. 426 Abs. 1 StPO auferlegt werden. Kosten für die Bewachung zu Sicherungszwecken während eines Spitalaufenthalts sind den Kosten der Untersuchungshaft gleichzustellen. Für Leistungen der Polizei, welche diese aufgrund ihrer Stellung als Strafbehörde in einem konkreten Strafverfahren zu erbringen hat, dürfen der verurteilten Person grundsätzlich keine Auslagen verrechnet werden. Art und Bemessungsgrundlagen der Gebühren müssen gesetzlich geregelt sein und die Staatsanwaltschaft hat die Pflicht, die Auslagen zu belegen.85
Art. 429 Abs. 1 lit. a und c StPO (Entschädigungs- und Genugtuungsansprüche der beschuldigten Person): Rechtskräftige Beschwerdeentscheide der Rechtsmittelinstanz regeln die Kosten- und Entschädigungsfolgen der diesbezüglichen Verfahren abschliessend – unabhängig davon, welchen Abschluss das Strafverfahren schliesslich findet. Dass das Verfahren gegen einen Beschuldigten eingestellt wurde, ändert nichts daran, dass er vor Ober- und vor Bundesgericht mit seinen Anträgen unterlag und folglich kostenpflichtig wurde und ihm keine Parteientschädigung zustand. Laut Bundesgericht verletzt die Vorinstanz weder Bundes- noch Verfassungsrecht, wenn sie festhält, dass die Kosten- und Entschädigungsregelung in den obergerichtlichen Urteilen respektive im bundesgerichtlichen Entscheid verbindlich sind und weder Art. 429 Abs. 1 StPO noch eine andere Bestimmung der StPO verletzen und die von ihm verlangte Entschädigung im Sinne eines Ersatzes der ihm in diesem Verfahren entstandenen Kosten erlauben.86
Anspruch auf Ersatz der Kosten einer Verteidigung besteht je nachdem auch beim Vorwurf der Verursachung eines Parkschadens oder einer Verkehrsbusse von 40 Franken.87
Einer beschuldigten Person die Entschädigung bei Einstellung des Verfahrens allein deswegen zu verweigern, weil sie eine Rechtsschutzversicherung hat, verstösst gegen Art. 429 StPO.88
Untersuchungshaft, die an eine Geld- oder Freiheitsstrafe angerechnet wurde (Art. 51 StGB), ist nicht auch noch im Rahmen von Art. 429 StPO zu entschädigen.89
Wenn keine besonderen Umstände die Entrichtung eines tieferen oder höheren Betrages rechtfertigen, stellt eine Abfindung von 200 Franken pro Tag ungerechtfertigter kurzfristiger Untersuchungshaft eine angemessene Genugtuung dar. Ausnahmsweise, das heisst bei massiv tieferen Lebenshaltungskosten im Ausland, kann die Genugtuung gekürzt werden.90