plädoyer: Das Parlament nahm in den letzten 30 Jahren viele neue Tatbestände ins Strafgesetzbuch auf, etwa Geldwäscherei, Insiderdelikte oder neue Ausländerdelikte. Wurde das Leben in der Schweiz dadurch sicherer?
Nina Fehr Düsel: Wichtig ist, dass man auf gesellschaftliche Veränderungen auch mit dem Strafrecht antwortet. Wenn wir neue Probleme haben, etwa im Cyber-Bereich, dann muss man auch das Strafgesetzbuch ergänzen.
Stephan Bernard: Gesellschaftliche Steuerungsprozesse sind etwas Hochkomplexes. Die Annahme, dass ein neuer Straftatbestand die Kriminalität senkt, ist massiv simplifizierend. Die Wirkung des Strafrechts wird deutlich überschätzt. Die Schweiz sollte alternative Konfliktlösungsstrategien stärker fördern. Die Möglichkeiten für einfache zivilrechtliche Verfahren werden zunehmend eingeschränkt, beispielsweise durch prohibitiv hohe Vorschusszahlungen und formal aufgeblasene Verfahren.
Das führt dazu, dass Strafanzeigen erhoben werden, obwohl viele Probleme zivilrechtlich gelöst werden könnten. Wir sollten flächendeckend niederschwellige Konfliktlösungsmechanismen wie Mediation und soziale Arbeit einführen und in Bereichen, wo der Staat eingreifen muss, verstärkt verwaltungsrechtliche Lösungen in Betracht ziehen.
Fehr Düsel: Es ist sicherlich sinnvoll, Hürden im Zivilprozess abzubauen. Umgekehrt gilt im Strafrecht der Grundsatz: Keine Strafe ohne Gesetz. Wir brauchen also einen Straftatbestand, um überhaupt auf verpöntes Verhalten reagieren zu können. Natürlich müssen wir Parlamentarier genau prüfen, ob ein Straftatbestand Sinn ergibt oder ob es vielleicht auch verwaltungsrechtliche, zivilrechtliche Möglichkeiten gibt.
plädoyer: Das Parlament diskutiert neue Tatbestände wie Cyber-Mobbing, Stalking und Cyber-Grooming. Genügen bestehende Normen wie Ehrverletzung, sexuelle Belästigung oder Nötigung nicht?
Fehr Düsel: Wir müssen den neuen Gegebenheiten Rechnung tragen, vor allem im Bereich der Internetdelikte. Deshalb brauchen wir in diesem Bereich ein griffiges Strafrecht. Nehmen wir zum Beispiel das Grooming, also das Anbahnen von sexuellen Kontakten im Internet. Ich habe selbst Kinder, die sich auch mal in Chatforen von Spielen bewegen, und sehe die Dringlichkeit dieses Problems. Es gibt zunehmend Fälle, in denen Erwachsene sich in Chatforen als Jugendliche ausgeben und Kinder zu Treffen auffordern. Auch wenn noch kein sexueller Übergriff stattgefunden hat, sind Kinder zurzeit nicht ausreichend geschützt.
Bernard: Natürlich benötigt eine digitale Gesellschaft andere Strafnormen als eine ländliche Gesellschaft des 17. Jahrhunderts – generell braucht es ein angepasstes Strafsystem. In den letzten 30 bis 40 Jahren hat sich jedoch eine gewisse Hilflosigkeit im Umgang mit gesellschaftlichen Problemen entwickelt. Die Fantasie des Gesetzgebers ist beschränkt. Sobald ein gesellschaftliches Problem auftaucht, greift er reflexartig nach der Keule des Strafrechts und will zuschlagen – als würde man jede Grippe sofort mit Antibiotika behandeln.
Es gab Zeiten, in denen Kinder mit Antibiotika vollgepumpt wurden, und am Ende war eine ganze Generation antibiotikaresistent. Ähnlich verhält es sich mit dem Strafrecht. Wir sollten den Grundsatz des Strafrechts als «ultima ratio» wieder ernst nehmen, den wir an der Uni im ersten Semester gelernt haben, und uns auf die Bekämpfung von schwerer Kriminalität wie Mord, Vergewaltigung, Raub, Erpressung und Betrug konzentrieren.
Fehr Düsel: Nein, das geht nicht. Sich ausschliesslich auf Mord oder Vergewaltigung im Strafrecht zu konzentrieren, ist nicht der richtige Weg. Aber es stimmt: Zurzeit wird das Strafrecht manchmal auch für Angelegenheiten benutzt, die eigentlich nicht in seinen Bereich fallen. Wir müssen einen Mittelweg finden.
plädoyer: Ist das Strafrecht das richtige Mittel, um etwa Littering zu reduzieren?
Fehr Düsel: Wir leben in einer 24-Stunden-Gesellschaft. Das Leben findet viel mehr im Freien statt. Früher galt die Schweiz als ein Land wie aus dem Bilderbuch – sauber und ordentlich. Doch das hat sich in den letzten zehn Jahren stark verändert. Littering ist ein ernstes Thema. Abfälle landen zunehmend auch in Gewässern und auf Weiden. Es braucht eine strafrechtliche Norm dafür. Eine Busse von beispielsweise 300 Franken ist für mich der einzige wirkliche Weg, um Abschreckung zu erzielen. Unsere bisherigen Versuche mit Prävention und Informationskampagnen brachten nichts.
Bernard: Das Zusammenleben klappt auch ohne solche Bussen. Ich befürworte einen Mittelweg zwischen dem Chaos in Neapel und der Sterilität von Singapur.
plädoyer: Neu ins Strafgesetzbuch eingeführt wurde auch der Tatbestand des unerlaubten Bezugs von Sozialleistungen. Genügt in solchen Fällen nicht die Rückforderung von zu viel bezahlten Beträgen?
Fehr Düsel: Wahrscheinlich braucht es nicht jeden neu eingeführten Tatbestand. Aber dass der unrechtmässige Bezug von Leistungen einer Sozialversicherung neu eine Straftat ist, finde ich sinnvoll. Vorher musste man auf den Tatbestand des Betrugs zurückgreifen. Dort ist Arglist vorausgesetzt. Diese fehlt in solchen Fällen oft.
Bernard: Das Parlament geht rigoros gegen sozial Schwächere vor, während es die oberen Schichten mit Samthandschuhen anfasst. Im Steuerstrafrecht zum Beispiel gibt es keinen vergleichbaren Tatbestand. Gerecht wäre es, im Steuerstrafrecht dieselben strengen Massstäbe anzuwenden.
plädoyer: Es gibt doch den Tatbestand des Steuerbetrugs.
Bernard: Ja, aber es braucht enorm viel, bis dieser greift. Gibt ein Sozialhilfebezüger aus dem Ausland etwa Einkünfte von 20'000 Franken nicht an, droht ihm ein Landesverweis. Wenn dagegen ein norwegischer Steuerflüchtling in der Schweiz Millionen hinterzieht, passiert nichts.
Fehr Düsel: Das stimmt so nicht. Steuerbetrug ist ganz klar ein Vergehen. Doch man könnte auch strenger sein. Ich bin generell für ein griffigeres Strafrecht.
plädoyer: Im Migrationsrecht gibt es heute viel mehr Strafbestimmungen als früher. Doch was nützt eine Strafandrohung, wenn jemand trotz mehrfachen Versuchen nicht ausgeschafft werden kann?
Fehr Düsel: Unerlaubte Aufenthalte lassen sich nicht nur durch das Strafrecht verhindern. Ich befürworte Rücknahmeabkommen mit Drittstaaten, eine Intensivierung des Grenzschutzes und weniger Zurückhaltung bei Ausschaffungen. Viele Ausschaffungen scheitern, weil die Betroffenen angeblich keine Papiere haben. Es braucht die abschreckende Wirkung einer Strafe.
Bernard: Das Strafrecht wird heutzutage als primäres Steuerungsinstrument für gesellschaftliche Probleme verwendet – oft mit der Argumentation, das wirke abschreckend. Empirische Studien und der Konsens unter Kriminologen zeigen jedoch, dass die Abschreckung weit überschätzt wird und wenig mit der Realität zu tun hat. Es ist ein Wunschdenken. Wir investieren immer mehr Geld in Kontrollstrukturen und Strafrechtsapparate, ohne einen Nutzen zu erzielen. An anderen Orten fehlen dann die notwendigen Mittel.
Fehr Düsel: Meine Partei, die SVP, verfolgt grundsätzlich eine Sparpolitik. Ich bin aber der Meinung, dass wir im Strafrecht nicht sparen sollten. Die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte sind bereits überlastet. Eine zeitnahe Verfolgung ist aber entscheidend. Zurzeit dauert es oft ein Jahr, bis nach einem Delikt etwas passiert. Das beeinträchtigt die abschreckende Wirkung. Daher plädiere ich für hohe Strafen und für eine zügige Verfolgung. Wir haben im Vergleich zum Ausland ein eher mildes Strafrecht.
Bernard: Das stimmt nicht. Kein Land in Europa stellt so viele Strafbefehle aus wie die Schweiz. Deutschland zum Beispiel stellt viele Verfahren gegen Kostenauflagen ein, während bei uns massenhaft Strafbefehle verschickt werden. In diesem Sinne ist die Schweiz wesentlich punitiver als die umliegenden Länder.
plädoyer: Welche Tatbestände könnte man problemlos abschaffen?
Bernard: Einige. In einer liberalen Gesellschaft ist es etwa schwer nachvollziehbar, warum der Drogenkonsum strafbar ist. Eigenverantwortung schliesst auch das Risiko von Selbstzerstörung ein. Beispiele wie die Alkoholprohibition in den USA zeigen, dass solche Verbote zu mehr Kriminalität führen. Die heutige Drogenpolitik richtet mehr Schaden an, als Probleme zu lösen. Sie fördert kriminelle Milieus. Die Menschen leiden, werden süchtig und haben keinen sauberen Stoff, während der Strafapparat immense Ressourcen verschlingt, ohne das Problem zu lösen. Wir sollten nach 40 Jahren Kontrollkultur den Denkansatz ändern und überlegen, wie wir die Gesellschaft durch positive Anreize in eine gewünschte Richtung lenken können.
Fehr Düsel: Das sehe ich anders. Städte wie Amsterdam werden in ihrer Drogenpolitik wieder restriktiver, weil die Situation unkontrollierbar wurde. Und es geht ja nicht nur um den Konsum, sondern auch um den Handel. Drogen dürfen nicht liberalisiert werden. Sonst hätten wir keine Interventionsmöglichkeiten mehr. Das Strafrecht entwickelt sich derzeit aber in die andere Richtung. Statt restriktiver zu werden, neigen wir dazu, die Zügel schleifen zu lassen.
Bernard: Das stimmt nicht. Die Gesellschaft und das Strafrecht waren in den 1980er- und 1990er-Jahren wesentlich milder und liberaler. Wo sind wir heute weniger streng als vor 30 Jahren?
Fehr Düsel: Ich war selbst auf der Staatsanwaltschaft und auf dem Gericht tätig und finde nicht, dass wir strenger geworden sind. Das Problem zeigt sich unter anderem im Jugendstrafrecht. Im Vergleich zum Ausland sind wir hier sehr mild. Unser System ist nur auf Massnahmen und Resozialisierung ausgelegt. Die Täter werden jünger und die Delikte immer gravierender. Gruppendelikte und bewaffnete Kriminalität haben stark zugenommen. Das bestätigt der Zürcher Kriminologieprofessor Dirk Baier. Man müsste das Jugendstrafrecht stärker auch auf Abschreckung ausrichten.
plädoyer: Und was fordern Sie im Jugendstrafrecht?
Fehr Düsel: Nebst der Resozialisierung auch härtere Strafen. Ich habe kürzlich in einem Vorstoss vorgeschlagen, den Strafrahmen um jeweils zwei Jahre zu erhöhen. In Extremfällen sollte im Jugendstrafrecht punktuell auch das Erwachsenenstrafrecht angewendet werden können. Bei schweren Straftaten wie Mord oder schwerer Körperverletzung sollten Freiheitsstrafen auch für Ersttäter möglich sein. Ein Beispiel ist der 15-Jährige, der in Zürich einen älteren Mann mit einem Messer angegriffen hat. In solchen Fällen sollte auch eine Landesverweisung möglich sein. Bei der Verwahrung bin ich zurückhaltend, da sie mir im Jugendstrafrecht zu weit geht.
Bernard: Wir sind im Jugendstrafrecht mit den Massnahmen äusserst erfolgreich. Das pädagogisch orientierte Jugendstrafrecht ist in der Schweizer Justiz eine Erfolgsstory. Wir haben praktisch keine Tötungsdelikte, die von Jugendlichen begangen wurden. Es gibt immer Einzelfälle wie der erwähnte Vorfall in Zürich, wo etwas schiefläuft. Aber anhand von Einzelfällen eine Gesetzgebung zu ändern, ist falsch. Es gibt zwar durchaus eine Zunahme von mit Messern bewaffneten Jugendlichen – die Zahlen bestätigen das. Dennoch zeigen die Zahlen auch, dass die Jugendkriminalität in der Schweiz insgesamt in den letzten 30 Jahren nicht gestiegen ist. Das meine ich mit der Erfolgsstory.
Fehr Düsel: Doch. Seit 2005 und vor allem seit 2015 steigt die Jugendkriminalität stetig. Zudem gibt es weniger Bagatelldelikte und immer mehr Gewaltdelikte.
Bernard: Gemessen an der Wohnbevölkerung sind Delikte von Jugendlichen in den letzten 30 Jahren nicht gestiegen.
plädoyer: Das Parlament hat die Strafrahmen auch für Erwachsene erhöht. Bei Gewaltdelikten und Raserei wurden neue Mindeststrafen eingeführt. Vertraut der Gesetzgeber den Richtern nicht mehr?
Fehr Düsel: Die Richter schöpfen zum Teil das Strafmass nicht aus. Es gibt viele Fälle, in denen die Bevölkerung unzufrieden ist, weil Täter für schwere Delikte nur bedingte Geldstrafen erhalten. Im Sinne von Abschreckung und Gerechtigkeit wollen wir keinen Täterschutz, sondern Opferschutz.
Bernard: Ich arbeite seit mehr als 20 Jahren als Strafverteidiger, in dieser Zeit wurden die Strafen erheblich verschärft. Ob jemand am Ende zwei, vier oder sieben Jahre im Gefängnis verbringt, scheint mir dabei weniger relevant. Ich beobachte, dass Personen, die lange in Haft sind, sich zunehmend in einem kriminogenen Milieu bewegen. Das erschwert die Resozialisierung. Daher müssen wir eine Balance finden. Die weggesperrten Personen müssen auf irgendeine Weise wieder in die Gesellschaft integriert werden.
plädoyer: Der jüngste Fall eines Insassen der psychiatrischen Klinik in Basel liess die Bevölkerung am Erfolg der Resozialisierungsbestrebungen zweifeln.
Bernard: Natürlich ist dieser Fall eine Tragödie. Aber ich habe den Eindruck, dass in der Mediengesellschaft durch einige skandalöse Einzelfälle ein verzerrtes Bild davon gezeichnet wird, wie die Justiz funktioniert oder eben nicht funktioniert. Hundertprozentige Sicherheit ist unmöglich.
Fehr Düsel: Mir geht hier der Schutz der Bevölkerung klar vor. Jeder Fall ist ein Fall zu viel. Unbegleitete Hafturlaube müssen künftig noch restriktiver gehandhabt werden, um die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten, vor allem im Falle von Verwahrten und von Personen in geschlossenen Anstalten.
Die Gesprächsteilnehmer
Nina Fehr Düsel, 43, Unternehmensjuristin bei der Swiss Life, Zürich, Nationalrätin SVP.
Stephan Bernard, 49, Rechtsanwalt, Zürich, Dozent an den Universitäten Freiburg und Zürich.
Neue Tatbestände im Strafgesetzbuch – eine Auswahl
- Cyber-Mobbing, Stalking, Cyber-Grooming (im Parlament)
- Burkaverbot (BVVG, noch nicht in Kraft)
- Rachepornos (Art. 197a StGB, 2024)
- Verletzung der beruflichen Schweigepflicht (Art. 62 DSG, 2023)
- Verletzung Meldepflicht im Gesellschaftsrecht (Art. 327 StGB, 2019)
- Sozialleistungsmissbrauch (Art. 148a StGB, 2016)
- Rassendiskriminierung (Art. 261bis StGB, 1995)
- Unbefugtes Eindringen in Datenverarbeitungssysteme (Art. 143bis StGB, 2012)
- Verletzung von Aufzeichnungs- und Meldepflichten im Finanzbereich (Art. 148–153 FinfraG, 2016)
- Krasse Verkehrsregelverletzung (Art. 90 Abs. 3 SVG, 2013)
- Littering (Art. 61 Abs. 1 lit. g USG, 2010, seither Diskussion um Ordnungsbusse)
- Unrechtmässiger Aufenthalt und Förderung desselben (Art. 115 ff. AIG, 2008)
- Gebrauch und Handel von Entschlüsselungssoftware (Art. 150bis StGB, 1998)
- Geldwäscherei (Art. 305bis StGB, 1990)
- Insiderinformationen (Art. 154 FinfraG, 1988)