plädoyer: Der emeritierte Professor Franz Riklin schreibt in der Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins: «Nirgendwo gibt es so viele Fehlurteile wie beim Strafbefehlsverfahren.» Was heisst das konkret? Im Kanton St. Gallen etwa endeten im Jahr 2014 insgesamt 98 Prozent der Strafverfahren der Staatsanwaltschaft mit einem Strafbefehl. Wie viele Fehlurteile sind darunter?
Rolf Grädel: Beim Strafbefehlsverfahren sind die Anforderungen an die Beweiserhebung geringer. Dies ist vom Konzept her so gewollt. Damit ist auch klar, dass es potenziell fehleranfälliger ist. Aber die Betroffenen können ja Einsprache erheben. Und falls die Staatsanwaltschaft das Verfahren nach der Einsprache nicht einstellen will, kommt der Fall vor den Richter.
plädoyer: Schieben Sie damit die Verantwortung für die Vermeidung von Fehlurteilen nicht von der Staatsanwaltschaft auf den Beschuldigten?
Grädel: Nein, ein Strafbefehl ist nur eine Urteilsofferte. Der Beschuldigte kann sie annehmen oder ablehnen. Die Frage nach der Häufigkeit von Fehlurteilen lässt sich nicht beantworten. Dazu gibt es keine Statistiken. Im Übrigen gibt es auch Fehlurteile, nachdem ein ordentliches Verfahren vor dem Gericht durchgeführt wurde. Die Chance, dass in einem Strafbefehlsverfahren das Urteil nicht der materiellen Wahrheit entspricht, ist aber zugegebenermassen höher als in einem ordentlichen Verfahren.
Das Wichtigste scheint mir beim Konzept des Strafbefehls zu sein, dass sich eine ungenügende Beweiserhebung nicht zum Nachteil der Beschuldigten auswirkt. Wenn es Zweifel an ihrer Schuld gibt, sollte man das Verfahren einstellen oder zusätzliche Beweiserhebungen vornehmen.
Marc Thommen: Wir wissen nicht, wie viele Fehlurteile es gibt. Das ist eines der grössten Probleme, die wir mit dem Strafbefehlsverfahren haben. Wir von der Uni Zürich haben deshalb kürzlich ein Nationalfondsprojekt zusammen mit der Uni Neuenburg eingegeben. Dabei wollen wir in Bern, Genf, Neuenburg, St. Gallen, im Tessin und in Zürich die Strafbefehle unter die Lupe nehmen – unter anderem hinsichtlich Sachverhalt, Verteidigung und Übersetzungssituation. Wir hoffen, uns so ein Bild zu verschaffen, zu wie vielen Fehlurteilen es tatsächlich kommt. Ich glaube übrigens auch nicht, dass es im Strafbefehlsverfahren mehr Fehlurteile gibt als im ordentlichen Verfahren. Beide sind fehleranfällig.
Grädel: Es gibt auch Fehlurteile wegen der Betroffenen selbst. Beispiel: Im Rahmen von Revisionsverfahren kommen nach Trennungen oder Scheidungen immer wieder Frauen zu uns, die sagen, sie hätten für ihren Ex-Partner eine Tempoüberschreitung oder das Überfahren eines Rotlichts auf sich genommen. Dies deshalb, weil dieser schon vorbestraft war und riskiert hätte, den Führerausweis zu verlieren.
plädoyer: Wie wichtig ist die materielle Wahrheit überhaupt in einem Strafverfahren?
Grädel: Die Ergründung der materiellen Wahrheit gemäss Art. 6 StPO ist ein Auftrag an die Strafverfolgungsbehörden und somit Ziel jedes Strafverfahrens. Im ordentlichen Verfahren wird zur Erreichung dieses Zieles mehr Aufwand betrieben.
plädoyer: Wäre es nicht Aufgabe der Strafjustiz, den Sachverhalt zu untersuchen, bevor man über Beschuldigte richtet?
Grädel: Meines Erachtens müsste ab einer gewissen Höhe der geforderten Strafe obligatorisch eine Befragung durchgeführt werden. Vor der Einführung der StPO im Jahr 2011 ging ich davon aus, dass im Kanton Bern bei Straftaten, bei denen im Strafbefehlsverfahren eine Sanktion von über 90 Tagessätzen Geldstrafe oder eine unbedingte Freiheitsstrafe von über 90 Tagen ausgesprochen wird, in jedem Fall eine Einvernahme durchgeführt werden sollte. Bei dieser Schwere der Sanktion sollten die Beschuldigten befragt werden. Dies scheiterte, weil wir über zu wenig Personal verfügen. Überall herrscht Kostendruck. Deshalb gibt es auch Strafbefehlsverfahren mit bis zu 180 Tagessätzen Geldstrafe, in denen bloss eine polizeiliche und keine staatsanwaltschaftliche Einvernahme erfolgt. Es handelt sich um wenige Fälle, die Situation aber ist unbefriedigend.
plädoyer: Das Strafmass sollte laut Gesetz dem persönlichen Verschulden des Täters entsprechen. Ohne genaue Befragung zur Person und zur Tat kann man das Verschulden schlecht einschätzen.
Grädel: Es kommt darauf an, wie umfassend das Dossier ist, das dem Staatsanwalt von der Polizei zur Verfügung gestellt wird. Im Kanton Bern gibt es übrigens eine Besonderheit: Seit jeher besteht eine Vereinigung von Richtern und Staatsanwälten. Diese erlassen mit Mehrheitsbeschluss gemeinsame Strafzumessungsrichtlinien. Davon kann selbstverständlich im Einzelfall abgewichen werden. Auch vom Obergericht werden diese Richtlinien herangezogen. Diese Richtlinien sind zugänglich und auch für die Anwälte wichtig. So haben sie es einfacher, die Klienten zu beraten.
Thommen: Ich finde auch, dass ab einer beantragten Freiheitsstrafe von drei Monaten eine Einvernahme Pflicht sein sollte. Im oberen Rahmen der Strafbefehle sind wir in einem kritischen Bereich. Das ist rechtsstaatlich nicht tragbar. Die Staatsanwälte sehen dies eigentlich auch so, sagen aber, wir haben eine Ressourcensituation, die das nicht erlaubt.
plädoyer: Man könnte in die Strafprozessordnung schreiben, dass ein Staatsanwalt die Leute vor dem Erlass eines Strafbefehls anhören muss.
Thommen: Genau. Dann müssten die Kantone die Ressourcen dafür schaffen.
plädoyer: In einer Studie haben Martin Killias und Gwladys Gilliéron herausgefunden, dass es in der Schweiz rund 800000 Illetristen gibt. Diese Leute dürften einen Strafbefehl kaum verstehen.
Grädel: In Bern haben wir spezielle Abteilungen, die sich nur mit Strafbefehlen befassen. Diese Abteilungen machen dann auch Rechtsberatungen. Es gibt relativ viele Anfragen von Leuten, die einen Strafbefehl erhalten haben und ihn nicht verstehen. Ob dies auf inhaltliches oder sprachliches Unverständnis zurückzuführen ist, kann ich nicht sagen, dazu haben wir keine Daten. Eindeutig klar ist aber: Ein rudimentäres Verfahren, wie es das Strafbefehlsverfahren darstellt, darf sich nicht zum Nachteil der Bürger auswirken.
Thommen: Ich postuliere die obligatorische Befragung von Beschuldigten insbesondere bei Delikten im hohen Strafbereich auch wegen der Verständnisfrage. In einer Einvernahme könnten nicht nur Verschulden und persönliche Verhältnisse von Beschuldigten besser abgeklärt werden. Der Staatsanwalt, der den Strafbefehl erlässt, erkennt in einer Einvernahme erst wirklich, ob es ein Sprach- oder Verständnisproblem gibt. Wenn man jemandem einen Strafbefehl heimschickt, kann es sein, dass der Empfänger ihn nicht lesen kann oder ihn nicht versteht. Sei es, weil er das Amtsdeutsch nicht versteht oder fremdsprachig ist. Bei der Einvernahme kann auch erklärt werden, was jemandem vorgeworfen wird und welche Konsequenzen dies hat.
plädoyer: Im Strafbefehlsverfahren ist der Staatsanwalt nicht nur Ankläger, sondern auch Richter: Er entscheidet über die Höhe der Sanktion. In Deutschland hingegen erlässt ein Richter den Strafbefehl, gestützt auf den Antrag der Staatsanwaltschaft. So schaut sich immerhin ein zweiter Jurist die Angemessenheit und die Richtigkeit des Strafbefehls an. Eine gute Lösung?
Grädel: Im Kanton Bern hatten wir diese Regelung: Strafmandate – so bezeichnet man hier Strafbefehle – durften bloss in Übertretungsfällen, und auch dort nur sehr beschränkt, von eine m Strafeinzelrichter erlassen werden. In einer ersten grossen Justizreform wurde diese Aufgabe den Untersuchungsrichtern übertragen und die Kompetenz kontinuierlich auf drei Monate Freiheitsstrafe erhöht. Die Einsprachen mussten von den Gerichten behandelt werden. Die eidgenössische Strafprozessordnung ging noch weiter: Man beliess auch die Einspracheverfahren bei der Staatsanwaltschaft.
Wir würden uns nicht dagegen wehren, wenn die Gerichte die Strafbefehle erledigen würden. Ich glaube aber nicht, dass dies einen grossen Mehrwert an Rechtsstaatlichkeit mit sich bringen würde. Denn Strafbefehle sind zu einem wesentlichen Teil ein Massengeschäft, da unterschreibt man als Staatsanwalt oder Richter einfach noch.
Thommen: Die Erfahrungen in Deutschland zeigen tatsächlich, dass es um «rubber stamping» geht: Man bekommt etwas auf das Pult, unterschreibt es und gibt es weiter, ohne es gross anzuschauen. Deutschland hat übrigens viel weniger Strafbefehle zu bewältigen, weil dort die Einstellung einer Strafuntersuchung unter Auflagen möglich ist.
plädoyer: Würde ein Beschuldigter einen Strafbefehl eines Richters nicht eher akzeptieren als einen von der Staatsanwaltschaft?
Grädel: Wir haben bereits heute eine relativ hohe Akzeptanz. Einsprachen gibts nur bei etwa 5 Prozent der Strafbefehle. Von diesen Einsprachen geht nach den Einspracheverhandlungen knapp jede fünfte an ein Gericht weiter.
Thommen: Wahrscheinlich ist allen besser gedient, wenn das Strafbefehlsverfahren in der Untersuchung möglichst fair verläuft und der Zugang zum Gericht möglichst ungehindert ist. Dazu gehört, dass man im Einsprachever- fahren kulant ist und sicherstellt, dass der Adressat den Strafbefehl versteht. Das ist viel wichtiger, als dass der Strafbefehl formell durch einen Richter erlassen wird. Den Richter kann man bereits heute in jedem Fall verlangen. Zur Einsprachequote von 5 Prozent: Man sollte vorsichtig sein, von der Einsprachequote auf die Akzeptanz der Strafbefehle zu schliessen. Dass jemand nicht Einsprache erhebt, muss nicht heissen, dass er den Strafbefehl akzeptiert. Es kann viele verschiedene Gründe geben, weshalb jemand keine Einsprache erhebt. Das können die drohenden Kosten sein oder die Angst vor dem Gang vor Gericht.
plädoyer: Macht es für Sie vor dem Hintergrund der Gewaltentrennung im Verfahren keinen Unterschied, ob ein Richter oder ein Staatsanwalt den Strafbefehl erlässt?
Thommen: Der ehemalige Bundesrichter Martin Schubarth sprach im Zusammenhang mit dem Strafbefehl von einem Inquisitionsverfahren. Dies ist eine sehr plakative Aussage, aber sie ist nicht falsch. Man muss fairerweise sagen, dass das ganze Verfahren auf die Vermeidung von Hauptverhandlungen ausgelegt ist. Der Grund, weshalb man früher die anklagende und die richterliche Institution trennte, war die Annahme, dass der Staatsanwalt durch seine eigene Untersuchung korrumpiert ist. Er hat also eine gewisse These vor Augen und untersucht dann in diese Richtung. Die Macht des Staatsanwalts wollte man beschränken, indem man jemand anderen richten lässt. Das ist vom Grundatz her nach wie vor richtig. Dass ein Richter den Strafbefehl erlassen muss, wäre aber angesichts der beschränkten Ressourcen nicht die sinnvollste Änderung im Strafbefehlsverfahren. Viel eher sollte man diese Ressourcen einsetzen, um zusätzliche Einvernahmen durchzuführen oder mehr Beweisabklärungen zu machen.
plädoyer: Wie soll ein rechtsunkundiger Beschuldigter erfahren, ob er einen Anspruch auf einen Verteidiger hat, wenn im Strafverfahren etwa eine bedingte Strafe widerrufen wird?
Thommen: Der durchschnittliche Beschuldigte weiss, ob er Anspruch auf einen Anwalt hat. Wenn er polizeilich einvernommen wurde und dies nach den Regeln der Kunst geschah, wird er darauf hingewiesen, dass er das Recht hat, einen Verteidiger zu bestellen, und dass dieser vom Staat bezahlt wird, falls er ihn sich nicht leisten kann. Das Problem ist eher, dass die Schwelle relativ hoch ist, bis er einen Anwalt bekommt. In einem System, das so staatsanwaltszentriert ist wie dem Strafbefehlsverfahren, sollte man sich ernsthaft überlegen, ob man nicht eine Waffengleichheit schaffen will, indem man die Verteidigungsmöglichkeiten verbessert. Dies ist aber auch wieder eine Frage der Ressourcen.
Grädel: Wichtig ist, dass die Polizei die Beschuldigten richtig und vollständig informiert. Wenn das Verfahren zur Staatsanwaltschaft gelangt, ist schon relativ viel passiert, dann erfolgt in vielen Fällen direkt der Strafbefehl. Bei uns verfügt die Polizei über eine Checkliste, wie sie bei der Information der Beschuldigten vorgehen muss.
plädoyer: Wie weit werden in Strafbefehlsverfahren überhaupt Beweise erhoben? Gilt der Untersuchungsgrundsatz nicht?
Grädel: Da darf man sich keine Illusionen machen. Man hat mit der Strafprozessordnung in Kauf genommen, dass Beweise mit minimalem Aufwand erhoben und dem Staatsanwalt präsentiert werden. Das ist aber nicht immer zum Nachteil des Beschuldigten. Es kann auch dazu führen, dass man sagt, da wurde jetzt ungenügend abgeklärt, und dann gibt es eine Einstellung oder eine Nichtanhandnahme.
Thommen: Der Gesetzgeber hat hier keine klare Stellung bezogen. Der Untersuchungsgrundsatz ist gemäss Gesetz im Strafbefehlsverfahren nicht eingeschränkt. Der Gesetzgeber tut also so, als ob man im Strafbefehlsverfahren genau gleich viel Untersuchungsaufwand betreiben würde wie im ordentlichen Verfahren – dass man also für und gegen den Beschuldigten untersuchen muss, Geständnisse überprüft usw.
De facto sind sich aber alle Beteiligten bewusst, dass dies nicht der Fall ist. In meiner Habilitationsschrift habe ich es «kurzen Prozess» genannt, weil bei der Sachverhaltsabklärung kurzer Prozess gemacht wird. Es stellt sich die Frage, inwiefern wir bereit sind, dies zu akzeptieren…
plädoyer: … und wo die Fürsorgepflicht des Staates anfängt.
Thommen: Genau, das ist die entscheidende Frage: Wie weit wollen wir es dem Beschuldigten überlassen, ob er die Sache vor Gericht bringen will oder nicht? Diese Grenze, bei der man gesagt hat, es ist für uns erträglich, beträgt momentan sechs Monate. In meiner Abhandlung über den Strafbefehl habe ich es eine «konsentierte Verdachtsstrafe» genannt. Man akzeptiert quasi einfach den Vorschlag, der einem vorgelegt wird. Dann ist das Verfahren für alle erledigt.
plädoyer: Die Einsprachefrist gegen einen Strafbefehl beträgt bloss zehn Tage, obwohl es oft um bedeutende Sanktionen, etwa einen Freiheitsentzug, geht. In diesen zehn Tagen sollten die Leute verstehen, was in der Post der Staatsanwaltschaft steht, einen Anwalt finden, der sie über Chancen und Kosten einer Einsprache aufklärt, und dann auch noch rechtzeitig reagieren.
Weshalb diese im Vergleich zu zivilgerichtlichen Verfahren sehr kurze und nicht erstreckbare Frist?
Thommen: Im Verfahren Hennings gegen Deutschland hat der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg entschieden, eine siebentägige Frist sei zwar kurz, aber gerade noch konventionskonform. Da sagte man sich in der Schweiz, wenn sieben Tage konventionskonform sind, dann nehmen wir zehn Tage, dann sind wir auf der sicheren Seite. Von der Bedeutung der Einsprache her wären dreissig Tage aber durchaus angebracht.
plädoyer: Sollte der Mechanismus nicht umgekehrt werden: Der Staatsanwalt schickt den Beschuldigten den Strafbefehl, diese müssten dann innert einer bestimmten Frist erklären, ob sie damit einverstanden sind. Bestünde so nicht eher Gewähr, dass der Strafbefehl verstanden und akzeptiert wird?
Thommen: Doch. Im abgekürzten Verfahren ist das deshalb auch so geregelt. Beim Strafbefehl haben wir aber momentan ein «Opting-in-Verfahren»: Man muss quasi ein Verfassungsrecht aktiv anwählen und sagen, man hätte gern einen unabhängigen Richter.
Grädel: Eine Umkehr des Vorgehens beim Strafbefehlsverfahren gäbe einen zusätzlichen Aufwand. Das Problem würde sich einfach an die Gerichte verlagern. Tausende würden sich nicht melden, sie müsste man dann vorladen. Ich zweifle, ob das viel mehr brächte.
Der Bürger ist bis zu einem gewissen Grad mündig. Im Steuerverfahren erhalten die Leute die Veranlagung nicht einmal mit einer Übersetzung. Es ist der Steuerverwaltung völlig egal, ob die Leute die Steuerveranlagung verstanden haben.
plädoyer: Kritisiert wird oft auch die mangelnde Begründung der Strafbefehle. Das Gesetz regelt dies sehr rudimentär. Das führt in der Praxis dazu, dass Strafbefehle fast nicht begründet werden.
Ist das vertretbar?
Grädel: Ich könnte mir eine erhöhte Anforderung an die Begründungspflicht vorstellen. Vor der letzten Gesetzesrevision fragte das Bundesamt für Justiz die Staatsanwältekonferenz, wie sie zu einer obligatorischen Begründungspflicht bei unbedingten Freiheitsstrafen stehe. Wir standen diesem Anliegen mehrheitlich positiv gegenüber. Schliesslich war das Parlament dagegen – mit der Begründung, es gebe einen Zusatzaufwand und das koste Geld.
Momentan gibt es die Begründungspflicht nur beim Widerruf einer bedingten Strafe und beim Widerruf der bedingten Entlassung. Gemäss Strafgesetzbuch müssen kurze Freiheitsstrafen begründet werden, nach der Strafprozessordnung nicht. Hier liegt eine Diskrepanz. Es fragt sich, ob die Prozessordnung als lex posterior oder das Strafgesetzbuch als lex specialis vorgeht. Im Kanton Bern müssen unsere Leute diese Strafen begründen.
plädoyer: Erachten Sie die Grenze für Strafbefehle bei Sanktionen bis zu sechs Monaten Freiheitsentzug als richtig gesetzt?
Thommen: Im Kanton Genf lag früher der Anwendungsbereich des Strafbefehls bei drei Jahren Freiheitsstrafe.
Grädel: Die Romands wollten den Anwendungsbereich des Strafbefehls durch ihre Ständeräte in der letzten Revision wieder ausdehnen. Wir von der Staatsanwältekonferenz sagten, zwölf Monate für das Strafbefehlsverfahren seien zu hoch. Im Kanton Bern hatten wir früher drei Monate als Höchstgrenze für das Strafbefehlsverfahren. Damit konnte ich gut leben.
Thommen: Für meine Habilitation habe ich das historisch untersucht. Eingeführt wurde das Strafbefehlsverfahren zunächst im Kanton Aargau, Zürich spielte eine prägende Rolle. Als es dort 1919 eingeführt wurde, sagte man, 50 Franken Busse seien die absolute Obergrenze für ein Verfahren ohne Richter. Eine Gefängnisstrafe im Strafbefehlsverfahren zu verhängen war undenkbar. Über das letzte Jahrhundert dehnte man dann den Anwendungsbereich des Strafbefehlsverfahrens immer mehr aus. Meine Voraussage ist deshalb, dass die heutige Sechsmonatsschranke früher oder später fallen wird und man den Bereich des Strafbefehlsverfahrens weiter ausdehnen wird.
Grädel: Eine solche Ausdehnung ist in der Deutschschweiz kein Thema. Ich erhoffe mir aber eine Reduktion der Strafbefehle durch die Ausweitung des Ordnungsbussengesetzes. Dort ist ein einfaches Verfahren unproblematisch.
plädoyer: Was sollte bei der nächsten Gesetzesrevision in der Prozessordnung hinsichtlich Strafbefehl geändert werden?
Grädel: Ich wünschte mir eine klarere Regelung bei der Zustellung des Strafbefehls an die Privatklägerschaft. Die heutige Regelung kommt aus der Überlegung heraus, dass Zivilforderungen im Strafverfahren nichts zu suchen haben und Privatkläger auch nichts. Es gibt jedoch durchaus Fälle, in denen ein Zivilkläger involviert ist – auch im Strafpunkt.Dann muss man auch diesem eine Ausfertigung des Strafbefehls zustellen.
Wichtig wäre auch – da besteht aber kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf –, dass Strafbefehle in allen Kantonen nach einheitlichen Kriterien eingesehen werden können. Die Staatsanwältekonferenz hat eine Arbeitsgruppe mit dem Auftrag betraut, eine Empfehlung vorzubereiten.
Thommen: Für mich sind Übersetzungen ein Muss. Die EMRK sagt deutlich, dass alle wichtigen Verfahrensakte übersetzt werden müssen. Meines Erachtens gehört das Urteilsdispositiv dazu. Auch eine Einvernahmepflicht ist essenziell, um ein faires Verfahren zu gewährleisten.
Ich möchte aber über die technische Ausgestaltung des Strafbefehls hinausdenken. Man sollte auch einmal die Frage stellen, weshalb wir eigentlich so viel Massenkriminalität haben. Darauf gibt es verschiedene Antworten: Es könnte mehr Kriminelle geben, die Leute könnten anzeigefreudiger sein als früher, es könnte aber auch daran liegen, dass es immer mehr neue Gesetze gibt. Dass man jedes gesellschaftliche Problem mit Hilfe des Strafrechts lösen will. Dies führt dann dazu, dass man mehr Delikte und mehr Verurteilte hat. Wenn man hier den Hebel ansetzen würde, würde sich die Anzahl der Verfahren reduzieren, Einvernahmen und Übersetzungen liessen sich finanzieren.
Man könnte auch einmal diskutieren, ob man die ganze Betäubungsmittelkriminalität wirklich braucht. Sie macht einen grossen Teil der Delikte aus. Auch die Migration könnte man verwaltungsrechtlich durchaus in den Griff bekommen, ohne eine strafrechtliche Zusatzschlaufe.
Strafbefehl: Staatsanwaltschaft macht kurzen Prozess
Das Strafbefehlsverfahren ist in den Artikeln 352–356 der Strafprozessordnung geregelt. Es bezweckt eine prozessökonomische Verfahrenserledigung im Bereich der Massen- und Bagatelldelikte. Beschuldigten wird aber eine Reihe von Verfahrensgarantien entzogen, beispielsweise oft der Anspruch auf das rechtliche Gehör.
Das Strafbefehlsverfahren gelangt zur Anwendung, wenn der Sachverhalt im Vorverfahren von der beschuldigten Person eingestanden wird oder «anderweitig ausreichend geklärt ist» und eine Busse, eine Geldstrafe von höchstens 180 Tagessätzen, eine gemeinnützige Arbeit von höchstens 720 Stunden oder eine Freiheitsstrafe von höchstens sechs Monaten zur Diskussion steht. In diesen Fällen kann die Staatsanwaltschaft das Verfahren ohne Beweisverfahren miteinem Strafbefehl beenden.
Erhebt der Betroffene nicht innert zehn Tagen nach Erhalt des Strafbefehls schriftlich Einsprache, wird der Strafbefehl zu einem vollstreckbaren Urteil. Wird dagegen Einsprache erhoben, klärt die Staatsanwaltschaft die Beweislage und entscheidet dann, ob sie am Strafbefehl festhält, das Verfahren einstellt, einen neuen Strafbefehl erlässt oder Anklage beim Gericht erhebt. Hält die Staatsanwaltschaft am Strafbefehl fest, überweist sie die Akten dem erstinstanzlichen Gericht zur Durchführung eines ordentlichen Hauptverfahren. Der Strafbefehl gilt dann als Anklageschrift.
Marc Thommen, 41, ist Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Zürich sowie Mitglied der Anwaltsprüfungskommission des Kantons Zürich.
Rolf Grädel, 64, ist Generalstaatsanwalt des Kantons Bern, Präsident der Schweizerischen Staatsanwältekonferenz und Mitglied der Anwaltsprüfungskommission des Kantons Bern.