Artikel 64a Absatz 1 des Strafgesetzbuchs (StGB) lautet: «Der Täter wird aus der Verwahrung bedingt entlassen, sobald zu erwarten ist, dass er sich in Freiheit bewährt.» Bisher hatten weder Psychiater noch Richter oder Strafverteidiger Probleme mit dieser Formulierung – nur Politiker aus rechtskonservativen Kreisen. Zum Beispiel Natalie Rickli.
Die Zürcher SVP-Nationalrätin will den StGB-Artikel wie folgt ändern: «Der Täter darf aus der Verwahrung erst bedingt entlassen werden, wenn praktisch sicher ist, dass er sich in der Freiheit bewährt.» Ricklis parlamentarische Initiative wurde von der Rechtskommission des Nationalrats bereits mehrheitlich gutgeheissen.
Gegen diesen Vorschlag laufen Strafrechtsexperten Sturm. Marianne Heer, Kantonsrichterin in Luzern: «Die Sicherheitshysterie hat eine Eigendynamik angenommen. Sie geht von Politikern aus, die sich mit solchen Themen profilieren wollen. Sie sind sich nicht bewusst, welche Konsequenzen das auf die Justiz hat.»
«Praktische Sicherheit ist nicht prognostizierbar»
Vor allem die Formulierung «praktisch sicher» stösst auf Kritik: «Sie ist für eine Risikoprognose unsinnig. Eine solche Sicherheit kann wissenschaftlich seriös nicht festgestellt werden», sagt Frank Urbaniok, Chef des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes des kantonalen Justizvollzugs Zürich. Wie sonst in der Medizin gebe es auch bei Straftätern keine hundertprozentige Erfolgsgarantie. Als «praktisch sicher» könne die Erfolgsaussicht eines Täters nur dann bezeichnet werden, wenn es gar keine Entlassung gebe. «Wenn man das Strafgesetzbuch in dieser Weise verändern will, wäre es ehrlicher, das direkt so ins Gesetz zu schreiben», sagt Urbaniok.
Elmar Habermeyer, Direktor der Klinik für forensische Psychiatrie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und ebenfalls ein erfahrener Gutachter, bestätigt Urbanioks Einschätzung. Psychiater würden ein Rückfallrisiko mit «leicht, gering, mittel oder hoch» formulieren – aber nicht mit «praktisch sicher». Auch Josef Sachs, leitender Arzt der psychiatrischen Klinik Königsfelden in Brugg AG, sagt: «Psychiater werden eine praktische Sicherheit nie prognostizieren können.»
«Hundertprozentige Wahrscheinlichkeit»
Die SVP-Initiantin verlangt aber genau dies: «Im Prinzip darf ein Täter aus meiner Sicht nur entlassen werden, wenn die hundertprozentige Wahrscheinlichkeit besteht, dass er nicht mehr rückfällig wird. Alles andere bedeutet ein Restrisiko für die Bevölkerung.» Im Wissen darum, dass sie mit dieser Formulierung im Parlament chancenlos wäre, habe sie eine Formulierung gewählt, «die die Hürden erhöht und einen kleinen Spielraum zulässt», so Rickli gegenüber plädoyer. Sie betont: «Ist die Frage, ob die erforderliche praktische Sicherheit vorliegt, nicht eindeutig zu beantworten, muss im Grundsatz gelten: Im Zweifel für die Sicherheit.»
Laut Psychiater Sachs müssen Richter und Politiker entscheiden, welche Sicherheit für die Öffentlichkeit zumutbar ist. Habermeyer befürwortet eine Debatte darüber, «was die Gesellschaft bereit ist, an Risiken zu akzeptieren». Diese Diskussion dürfe jedoch nicht an die Psychiatrie und an die Gutachter delegiert werden.
«Haftprüfungsanspruch würde vereitelt»
Der Zürcher Rechtsanwalt Matthias Brunner geht einen Schritt weiter: «Wird vom Strafrecht verlangt, dass es die stets bestehenden Risiken ausschliesst, mutiert es zu einem totalitären Polizeirecht.» Mit der von Nationalrätin Rickli angestrebten Änderung würde laut Brunner das Kerngeschäft eines Rechtsstaats eliminiert – die Güterabwägung zwischen dem privaten Interesse an den elementaren Grundrechten einerseits und dem öffentlichen Sicherheitsinteresse andererseits. Brunner verweist auf Artikel 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Danach habe auch ein Verwahrter Anspruch darauf, dass ein Gericht aufgrund der konkreten Umstände prüft, ob eine Haftentlassung gerechtfertigt ist. «Wenn diese Prüfung durch eine zu rigide gesetzliche Regelung obsolet ist, wird der Haftprüfungsanspruch vereitelt», sagt Brunner.
Der ehemalige Strafrechtsprofessor Günter Stratenwerth sieht ein weiteres Problem: Die erstrebte Änderung würde nicht nur dazu zwingen, die Verwahrung aufrechtzuerhalten, wenn Zweifel am künftigen Wohlverhalten des Betroffenen bestehen, sondern auch dazu, die Verwahrung schon in einem solchen Fall anzuordnen. «Das steht in klarem Widerspruch zu rechtsstaatlichen Mindesterfordernissen.» Für Marianne Heer ist Ricklis Vorschlag denn auch «ein Angriff auf den Rechtsstaat».
Jonas Weber, Strafrechtsprofessor an der Uni Bern, vermutet politische Motive: «Es geht darum, Vollzugslockerungen und insbesondere die bedingte Entlassung bei Verwahrten möglichst zu verhindern.» Letztlich komme es zu einer noch stärkeren Gewichtung der öffentlichen Sicherheit zulasten der persönlichen Freiheit der Betroffenen. Da bei Wahrscheinlichkeitsaussagen jedoch immer ein Restzweifel bleibe, ziele Ricklis Vorstoss darauf ab, Verwahrte gar nicht mehr in Freiheit zu lassen. Weber: «Seriösen forensischen Psychiatern wird durch die Initiative praktisch verunmöglicht, in einem Gutachten Vollzugsöffnungen bzw. die bedingte Entlassung gutzuheissen.» Auch die Fachkommissionen und die Vollzugsbehörden würden sich bei Vollzugslockerungen und bedingten Entlassungen wohl noch mehr zurückhalten als heute.
Rechtsanwalt Brunner kennt diese Nullrisikopraxis aus den Verwaltungen. «Die Verwaltungen ticken bereits so. Das Personal ist dermassen verängstigt.» Immerhin: Laut Brunner sind die Gerichte von dieser Nullrisikoforderung weniger vereinnahmt: «Es gibt durchaus Gerichtsentscheide, in denen es heisst, die Vorinstanz habe sich vom Nullrisikoprinzip leiten lassen. Und das gehe im Rechtsstaat nicht.»
Die Luzerner Richterin Marianne Heer glaubt ebenfalls an die Unabhängigkeit der Gerichte: «Wir sind nicht politisch unterjocht.» Anders sei die Situation jedoch bei Vollzugsbehörden, die einem politisch denkenden Regierungsrat unterstellt und entsprechend weisungsgebunden seien. Heer kennt Fälle, bei denen Leute immer noch verwahrt werden, «obwohl wichtige Entscheidungsträger wie die Leitung des Therapiezentrums, der Therapeut und der psychiatrische Sachverständige dafür sind, dass man ihnen grössere Lockerungen gewährt oder sie sogar ganz frei lässt».