Die Diskussion über medizinische Gutachten im Bereich der Sozialversicherungen erhitzt die Gemüter: Die Rechtsvertreter von Versicherten ärgern sich über die stets gleichen, bekannten Begutachtungsinstitute, denen sie zynisches Geschäftsgebaren vorwerfen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen weist treuherzig auf die vom Bundesgericht aufgezwungenen Verbesserungen in der Verteilung von polydisziplinären Gutachten hin. Das sind Gutachten mit mindestens drei medizinischen Disziplinen. Diese werden über die Plattform Swissmed@p per Zufallsprinzip einer Gutachterstelle mit freier Kapazität zugeteilt. Die Resultate dieses Verfahrens werden aber immer noch nicht systematisch erfasst.
Die Gerichte haben die schwierige Aufgabe, diese Gutachten dann mit dem Lebenssachverhalt in Einklang zu bringen und den Fall zu beurteilen. Mangels medizinischer Kompetenz entledigen sich viele Richter dieser Aufgabe dadurch, dass sie die Gutachten einfach als gut begründet, in Übereinstimmung mit den Akten und nachvollziehbar durchwinken und so den Entscheid des Sozialversicherers schützen.
Streitpunkt Schmerz und Leistungsfähigkeit
In den vor Gericht umstrittenen Fällen geht es meist nicht um klar definierbare Fälle, sondern um die Auswirkungen von Schmerzen auf die Leistungsfähigkeit. Funktionell ist die Leistung häufig möglich, wenigstens für eine kurze Zeit. Aussagekräftigere Langzeitbeobachtungen gibt es in Arbeitsversuchen, in Berufsabklärungen oder Belastungstrainings. Schmerzen sind meist unabhängig vom Ort oder Umfang des körperlichen Defekts leistungsmindernd.
Das Bundesgericht hält an seiner ständigen Rechtsprechung fest (BGE 130 V 39) und bestätigt: «In Anbetracht der sich mit Bezug auf Schmerzen naturgemäss ergebenden Beweisschwierigkeiten geht die Praxis davon aus, dass die subjektiven Schmerzangaben der versicherten Person für die Begründung einer (teilweisen) Arbeitsunfähigkeit allein nicht genügen. Vielmehr muss im Rahmen der sozialversicherungsrechtlichen Leistungsprüfung verlangt werden, dass die Schmerzangaben durch damit korrelierende, fachärztlich schlüssig feststellbare Befunde hinreichend erklärbar sind. Die Schmerzangaben müssen also zuverlässiger medizinischer Feststellung und Überprüfung zugänglich sein.» (BGE 143 V 124)
Es stellt sich somit die Frage, was denn «korrelierende, fachärztlich schlüssig feststellbare Befunde» sind. Gutachter und Rechtsanwender stürzen sich hier mit Vorliebe auf bildgebende Darstellungen. Nicht nur Juristen, auch Mediziner glauben an die Wirkung von Bildern.
Subjektive Interpretation von Bildern
Die medizinische Bildgebung versucht, einen innerlichen körperlichen Zustand darzustellen. Es handelt sich um ein objektives Vorgehen. Die Beschreibung dessen, was der Experte sieht, ist jedoch subjektiv. Die Entscheidung, welches Bild gemacht wird, ist ebenfalls eine subjektive Entscheidung. Die Beschreibung ist meist Sache des Radiologen. Er beschreibt dem begutachtenden oder behandelnden Arzt seinen Befund.
Es gibt viele diverse Möglichkeiten der medizinischen Bildgebung (siehe Übersicht im PDF). Einfach zu beurteilen sind etwa glatte Knochenteile. Schwieriger wird es bei der Wirbelsäule und den Gelenken, wobei es vor allem bei Schulter- und Kniegelenken zu Fehlern in der Beurteilung kommt.
Wie schwierig die Wirbelsäule zu beurteilen ist, zeigt die heute noch aktuelle Studie «Interobserver und intraobserver reliability» von John A. Carrino et. al. (in Lumbar Spine, Reliability of MR Imaging Findings, 2009).
Für die Studie wurden 111 Magnetresonanztomografien (MRIs) von Rückenpatienten verwendet. Sie wurden von ihren Ärzten an die spezialisierten Kliniken überwiesen zur Abklärung, ob eine Rückenoperation den Zustand verbessern könne oder nicht. Die 111 MRIs wurden in der Studie vier Gutachtern unterbreitet mit der Frage nach der jeweiligen Diagnose. Von diesen vier Gutachtern waren drei Fachärzte für Radiologie, spezialisiert auf muskuloskelettale Befunde, und ein Neurochirurg. Alle vier Spezialisten hatten zwischen 12 und 25 Jahre Berufserfahrung. Zudem erhielten sie ein spezielles Training für die Fragestellungen. Es gab auch ein Training an Testbildern und ein Handbuch zur Definition der Befunde.
Sprich: Die vier Gutachter waren bestens gerüstet, um anhand der Bilder objektive Befunde zu stellen. Umso bemerkenswerter ist das Resultat der Studie. Die Übereinstimmung ihrer Befunde war nirgends sehr gut. Nur bei der Bandscheibendegeneration gab es mit 66 Prozent eine gute Übereinstimmung. Als gut galt eine Übereinstimmung in der Diagnose zwischen 61 und 80 Prozent. Bei den anderen zu diagnostizierenden Befunden lag die Übereinstimmung lediglich zwischen mässigen 44 und 59 Prozent.
Die vier Experten beurteilten die gleichen Bilder nach einem Monat erneut. Auch beim zweiten Anlauf war die Übereinstimmung nicht etwa sehr gut, sondern wieder lediglich nur gut, allerdings dafür bei allen Befunden. Diese schwache Übereinstimmungsquote wird durch diverse andere Studien bestätigt.
Bildgebung allein reicht nicht aus
Bildgebende medizinische Befunde können eine wichtige Entscheidungsgrundlage sein, wenn es um die Frage nach chirurgischen Eingriffen geht. Für ein Gutachten kann ein Bild allerdings nicht die allein entscheidende Komponente darstellen. Es ist nur ein weiteres, in der Diagnose ausserdem erheblich fehleranfälliges Indiz für Bestand oder Nichtbestand eines leistungseinschränkenden medizinischen Befundes.
Beispiel: In der Begutachtungssituation wird die per medizinischem Bild festgestellte Rückendegeneration eines Patienten als Ursache für dessen Leistungseinschränkung durch Rückenschmerzen diagnostiziert. Doch ein solcher Befund ist risikobehaftet: Selbst bei einem um Objektivität bemühten Gutachter liegt die Chance bei vielleicht 50 Prozent, dass er die Bildgebung richtig beurteilt.
Ausserdem gilt: Die Leistungseinschränkung muss nicht mit dem bildgebenden Befund korrelieren. Der eine Patient kann einen diskreten bildgebenden Befund haben und eine erhebliche Leistungseinschränkung, eine zweite Patientin kann bildgebend erheblich geschädigt sein, ohne dass sich dies auf ihre Leistung auswirkt.
Die deutsche Leitlinie zur ärztlichen Schmerzbegutachtung hält fest: «Bildgebende Untersuchungen erscheinen bislang nicht geeignet, das individuelle Ausmass chronischer Schmerzen darzustellen, da auffällige Befunde in hohem Umfang unspezifisch sind und auch bei symptomfreien Menschen häufig vorhanden sein können (etwa Bandscheibenvorfälle). Bildgebende Untersuchungen sind jedoch für die Beurteilung des Ausmasses von Gewebeschädigungen unverzichtbar und sind daher bei geltend gemachten Schmerzen in die gutachterliche Beurteilung einzubeziehen.»
Daraus können Rechtsanwender ohne weiteres ableiten: Stützt sich die Argumentation in einem Gutachten zur Leistungsfähigkeit beim Hauptsymptom Schmerz hauptsächlich auf bildgebende Befunde, ist das Gutachten ohne Beweiswert.
Es braucht Anstrengungen der Gerichte, des Bundesamts für Sozialversicherungen und der Rechtsanwender, um verlässlichere Gutachten zu erhalten. Fachgerichte müssen sich zwingend Know-how auf versicherungsmedizinischem Gebiet erarbeiten, um ihre richterliche Aufgabe überhaupt wahrnehmen zu können.