Welche Urteile hat das Bundesgericht heute gefällt? Welche dieser Urteile sind für einen Strafverteidiger von grundsätzlicher Bedeutung? Wie sind sie begründet? Oder: Wo hat das höchste Gericht einen Bock geschossen? Der Mann, der auf all diese Fragen eine Antwort weiss, heisst Konrad Jeker.
Der 50-jährige Strafverteidiger aus Solothurn kommentiert in seinem Blog Strafprozess.ch täglich Aktualitäten rund ums Straf- und Strafprozessrecht. Es sind hauptsächlich Bundesgerichtsentscheide, aber auch Entscheide von unteren Instanzen, die Jeker analysiert und mit spitzer Feder kommentiert.
“Ich will einen Überblick über die Rechtsprechung”
Bis zu einer Stunde am Tag widme er seinem Blog, sagt Jeker. Das sei Teil seiner persönlichen Weiterbildung und gehöre zu seinem Arbeitsalltag. Dabei gehe er systematisch vor: Alle neu publizierten Bundesgerichtsurteile im Strafrecht mit einer Dreier- oder Fünferbesetzung schaue er sich genauer an. Dass es manchmal über ein oder zwei Dutzend sind, stört ihn nicht: «Ich will einen Überblick über die Rechtsprechung und jederzeit darauf zurückgreifen können.»
Auf dieses Know-how wollen die wenigsten Strafverteidiger verzichten. Einer davon ist der bekannte Zürcher Anwalt Thomas Fingerhuth. Er besuche die Seite regelmässig. Sein Fazit: «Aus den Urteilen stellt Jeker das Wichtigste vor und kommentiert es knackig.»
Laut Jeker haben 1500 Leute seinen Newsletter abonniert. Täglich würden bis zu 3000 Benutzer auf seine Website zugreifen. Er könne nicht zurückverfolgen, wer es genau sei, aber er sehe, dass es vor allem Zugriffe aus den verschiedensten kantonalen Staatsanwaltschaften und den Gerichten seien.
Feedback zu seinen Kommentaren erhält er mehrheitlich per E-Mail. Die Absender, so Jeker, sind «Richter, Staatsanwälte, Professoren und vor allem Rechtsanwälte». Letztere wiesen ihn auch auf interessante Entscheide hin, sagt er. Vermehrt komme es vor, dass ein Richter seine persönliche Meinung zu einem Urteil mitteile. «Einige sagen dann, dass sie mit einem Urteil ebenfalls nicht einverstanden sind und auch intern dagegen argumentiert hätten.»
Jemand, der die Rechtsprechung des Bundesgerichts so gezielt im Auge hat, muss auch etwas über die Qualität der Entscheide sagen können. Jeker sagt dazu: «Ich habe den Eindruck, dass die Zahl der gutgeheissenen Beschwerden eher gestiegen ist, seit Bundesrichter Niklaus Oberholzer mitwirkt.» Aber das sei ein Gefühl, denn es gebe keine Erhebungen über das genaue Zustandekommen der Bundesgerichtsurteile. «Wir wissen nicht einmal, wie hoch der Einfluss der Richter insgesamt ist.»
“Einige Urteile gehen zu wenig in die Tiefe”
Die Kritik, dass eine Gerichtsschreiberjustiz am Bundesgericht herrsche, sei bekannt. Er wisse jedoch, dass die Qualität der Urteile – «egal aus welcher Instanz» – stark vom Gerichtsschreiber und vom Referenten abhänge und weniger von den Beisitzern. «Wenn ich ein solothurnisches Urteil lese, dann weiss ich sofort, wer es verfasst hat.» Einige Urteile seien juristisch sehr fundiert, «andere gehen einfach zu wenig in die Tiefe». Letztere würden vor Bundesgericht viel eher gekippt: «Begründet ein Gerichtsschreiber das Urteil intelligent und technisch gut, dann hat der Beschwerdeführer vor Bundesgericht praktisch keine Chance.»
Jeker kritisiert an der Staatsanwaltschaft, dass sie bei den amtlichen Verteidigern bequeme Anwälte auswählt. Er erfahre immer wieder, dass Staatsanwälte den Beschuldigten abraten würden, sich von ihm vertreten zu lassen. «Die Mehrheit aller amtlichen Mandate geht an die immer gleichen Anwälte.» 2014 seien allein 18 amtliche Verteidigungen einem einzigen Anwalt zugeteilt worden. Verärgert stellt er weiter fest: «Selbst wenn der von der Staatsanwaltschaft eingesetzte amtliche Verteidiger ein Spitzenverteidiger sein sollte, es ist grotesk, dass die Staatsanwaltschaft ihren Gegner selbst auswählt!»
Die Macht der Staatsanwaltschaft sei sowieso enorm – die Kräfteverhältnisse seien «krass ungleich» verteilt. Jeker: «Die Staatsanwaltschaften haben massiv aufgerüstet. Als ich vor 20 Jahren mein Praktikum beim Untersuchungsrichteramt in Solothurn machte, waren wir ein Dutzend Personen, heute sind es gegen 100.» Auch die Anzahl der Zwangsmassnahmen sei massiv gestiegen. Dabei gehe die Kriminalität seit Jahren zurück.
Ein weiterer Dorn im Auge ist ihm der Umgang der Strafverfolger mit den Medien: «Sie haben die Medien entdeckt und gemerkt, dass die breite Öffentlichkeit eher auf ihrer Seite steht.» Das würden sie enorm ausnützen – in der Hoffnung, Einfluss auf den Richter und die Öffentlichkeit zu nehmen. «Und das gelingt auch. Ich hatte schon einige Male das Gefühl, dass es für einen Freispruch gereicht hätte, wenn die Medien nicht berichtet hätten.»
Ausserdem würden sich die Akteure der Strafverfolgung nicht immer an das Gesetz halten: «Die Polizei ermittelt nicht gegen eine Person, wenn sie denkt, sie sei unschuldig. In der Überzeugung, einen Täter zu verfolgen, ist man aber andererseits eher bereit, das Gesetz auch mal etwas grosszügiger auszulegen, um an die nötigen Beweise zu kommen.»
Jeker schlägt vor, bei der Beweisbewertung viel schärfer vorzugehen. Wenn bei der Beweiserhebung geschummelt werde, dann sollten diese Beweise nicht verwertet werden dürfen. «Es ist inakzeptabel, dass grundsätzlich selbst rechtswidrig erhobene und damit völlig unzuverlässige Beweise verwertet werden können.»
Ausgleich auf dem Rennvelo
Jekers Ausführungen basieren auf langjährigen Erfahrungen. Seit 1992 arbeitet er als Strafverteidiger und ist Mitglied diverser Fachkommissionen. Ausserdem doziert er an mehreren Hochschulen. An der Fachhochschule Nordwestschweiz seien die Zuhörer bis zu 80 Prozent Polizisten, «die in die Diskussion auch Praxisbeispiele einbringen».
Ausgleich findet der Jurist beim Rennvelofahren. Am Wochenende lege er bei schönem Wetter bis zu 150 Kilometer zurück. Sein Tagesrekord liege bei 290 Kilometern. Wenn er nicht in der Schweiz irgendwo auf dem Velo ist, dann oft in Spanien. Jeker findet auch immer wieder Zeit zur Lektüre: «Vor allem philosophische Werke, aber ab und zu auch ein Roman.»