Das neue Nachrichtendienstgesetz ist seit über einem Jahr in Kraft. Es dient als Gesetzesgrundlage für die Aktivitäten des Schweizer Geheimdienstes. Ende September 2016 nahmen die Schweizer Stimmberechtigten das Gesetz mit über 65 Prozent Ja deutlich an. Wie weit den Abstimmenden bewusst war, was im Gesetz steht, ist offen. Staatsrechtler hatten die Vorlage kritisiert. Denn das Gesetz nimmt für die Informationsbeschaffung des Geheimdienstes eine Reihe schwerer Eingriffe in die Grundrechte in Kauf: Tangiert sind beispielsweise das Recht der Bürger auf Achtung des Intim-, Privat- und Familienlebens, das Recht auf Schutz vor Missbrauch der persönlichen Daten und die informationelle Selbstbestimmung.
Aus grundrechtlicher Perspektive wurden vor allem folgende neuen Kompetenzen der Nachrichtendienstler kritisiert: die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs, der Einsatz von Ortungsgeräten (GPS) zur Feststellung des Standorts und der Bewegungen von Personen oder Sachen, der Einsatz von technischen Überwachungsgeräten wie Wanzen und Kameras im privaten Bereich, der Einsatz von Staatstrojanern zur Informationsbeschaffung in fremden Computern und das Durchsuchen von Räumlichkeiten, Fahrzeugen oder Behältnissen zur Beschaffung von Gegenständen oder Informationen.
Staat erhebt Heimlichkeit zum Prinzip
Die gemäss Nachrichtendienstgesetz neu zulässigen Überwachungsmassnahmen waren bisher den Strafverfolgungsbehörden vorbehalten – und auch dies nur teilweise. Im Strafverfahren setzen solche Massnahmen einen hinreichenden Tatverdacht auf eine genügend schwere Straftat voraus und unterstehen strafprozessualen Garantien. Die betroffene Person wird früher oder später aktiv ins Strafverfahren involviert und kann ihren Standpunkt darlegen. «All dies fehlt im Geheimdienstbereich», so der Zürcher Rechtsanwalt Viktor Györffy und der Jurist Christof Hugentobler (plädoyer 6/2015). «Als Basis geheimdienstlicher Tätigkeit reichen vage Vermutungen und dubiose Quellen. Es bedarf keines Verdachts auf Begehung einer Straftat. Wirksame Verfahrensrechte hat die betroffene Person nicht. Ein wirksames Einsichtsrecht der betroffenen Personen fehlt im Gesetz.»
Laut den beiden Juristen ist das Einsichtsrecht gemäss Geheimdienstgesetz derart beschränkt, dass es kaum zum Tragen kommen kann. Die Betroffenen erfahren oft nie davon, dass sie überwacht wurden. Für die Betroffenen wäre es laut Györffy essenziell zu wissen, ob, wie und aufgrund welchen Sachverhalts sie beim Nachrichtendienst verzeichnet sind. «Ist jemand erfasst und kann dies nicht in Erfahrung gebracht werden, vergrössert sich der Eingriff in die Grundrechte noch.» Haben nämlich die Betroffenen keine Möglichkeit zu erfahren, dass sie überwacht werden oder überwacht wurden, wird jeder Rechtsweg versperrt. Wer von einem Grundrechtseingriff nichts weiss, kann ihn nicht anfechten.
Für den St. Galler Staatsrechtler Rainer J. Schweizer ist das «absolut inakzeptabel»: «Es ist wirklich einmalig in der Bundesgesetzgebung, dass der Rechtsweg explizit durch das Bundesgesetz ausgeschlossen wird.» Und für seinen Basler Kollegen, den Strafrechtler Mark Pieth, stellt das eine Strafverfolgung in der Dunkelkammer dar. Er redet von einer prinzipiell «veränderten Umgangsweise des Staates mit seinen Bürgern», der die Heimlichkeit zum Prinzip erhebe (plädoyer 5/2016). Das neue Überwachungsarsenal der «Postmoderne» führe zwar nicht in die Inquisition zurück, aber es stelle Demokratie und Rechtsstaat in Frage.
Spezialgericht für Beschwerden einrichten
Das Nachrichtendienstgesetz sieht vor, dass einige für die Betroffenen besonders schwerwiegende Massnahmen vorab – also etwa, bevor überhaupt überwacht wird – vom Bundesverwaltungsgericht genehmigt werden müssen. Bis vergangenen August war dafür Richterin Salome Zimmermann zuständig. Die 63-Jährige ist nun frühzeitig in den Ruhestand getreten. Im September übernahm ihr Richterkollege Jérôme Candrian (FDP) die Aufgabe. Pikant: Das Gesetz legt den Entscheid über derart tiefgreifende Grundrechtseingriffe in die Hand einer einzigen Person. Und es gibt dieser Person nur fünf Tage Zeit, um über die Genehmigung zu entscheiden. Zudem darf der Richter seine Entscheide nur kurz begründen. Die Basler Juristin Aileen Kreyden kritisiert: «Überwachungsmassnahmen können unter diesen Umständen juristisch gar nicht vertieft überprüft werden. «So wie das Gesetz das Verfahren regelt, ist alles darauf ausgelegt, dass die Überwachungen durchgewinkt werden. Sie sollen gerichtlich einfach abgesegnet werden.»
Die 27-Jährige hat sich näher mit dem Gesetz befasst: mit ihrer Ende 2017 erschienen Masterarbeit «Das Nachrichtendienstgesetz im Spannungsverhältnis zwischen Geheimhaltungsinteresse und Recht auf Rechtsschutz». Darin wies sie akribisch nach, wie das Gesetz die Rechtsweggarantie und das Recht auf wirksame Beschwerde verletzt. In ihrem Buch weist sie auch auf die problematische Doppelrolle des Bundesverwaltungsgerichts hin: Dieses ist nämlich nicht nur vorab zuständig für die Genehmigung von Überwachungsmassnahmen, sondern später auch Beschwerdeinstanz, falls die betroffene Person nach Beendigung der Überwachung erfährt, dass sie überwacht wurde und den Rechtsweg beschreitet.
«Das Bundesverwaltungsgericht muss also im Nachhinein über die Zulässigkeit einer Massnahme urteilen, die es selbst einmal genehmigt hat», kritisiert Kreyden gegenüber plädoyer. Zur Lösung des Dilemmas fordert sie deshalb die Schaffung eines neuen Spezialgerichts, das für die Beschwerden gegen Überwachungen zuständig ist: «Eine unabhängige Instanz, bei der Personen angestellt sind, die über das notwendige Spezialwissen verfügen und die wirklich über sicherheitspolitische Vorgänge Bescheid wissen.»
Spruchkörper vergrössern, Frist verlängern
Für den Basler Staatsrechtler Markus Schefer geht diese Idee in die richtige Richtung. Der Professor schaut in Basel seit zehn Jahren als Kontrollorgan dem kantonalen Nachrichtendienst auf die Finger. Er sieht aber einen anderen Ansatzpunkt. Das Bundesverwaltungsgericht sei schon die richtige Behörde, aber «die Einerbesetzung ist nicht richtig». Schefer fordert für die Genehmigung der Eingriffe einen grösseren Spruchkörper. Auch er bewertet die fünf Tage Bearbeitungszeit für Gesuche als «extrem kurz». «Es gibt Situationen oder Fälle, die in Zusammenhang mit einer Operation enorm viele Akten produzieren.» Wolle sich ein Gericht eine Meinung darüber bilden, was eine Person, die überwacht werden soll, für eine Rolle im Rahmen dieser Operation spiele, müsse es sich sehr gut in die ganze Operation einarbeiten können. «Sonst ist eine Beurteilung, ob von dieser Person genügend Risiko ausgeht, unmöglich.» Ein Spezialgericht wäre seiner Ansicht nach nicht zweckmässig. «Dieses Gericht hätte schlicht nicht genug zu tun. So viele Fälle gibt es dann wohl auch nicht.»
Kontradiktorisches Verfahren einführen
Rainer J. Schweizer stösst sich grundsätzlich an der Einseitigkeit des Genehmigungsverfahrens. «Den Entscheid fällt heute ein einzelner Verwaltungsrichter in einem geheimen Verfahren. Er hat nur den Antrag des Nachrichtendienstes zur Verfügung, eine Gegenmeinung fehlt ihm. Nötig wäre aber ein kontradiktorisches Verfahren. Die USA führten zumindest einen Anwalt der Betroffenen ein, der deren Interessen wahrnimmt, ohne dass diese davon erfahren. Eine ähnliche Lösung fehlt im Nachrichtendienstgesetz.»
Aileen Kreyden plädiert in ihrer Masterarbeit für eine ähnliche Lösung: «Während die geheime Überwachungsmassnahme noch andauert, ist der Rechtsweg aufgrund der Geheimhaltung der Überwachung versperrt.» Jede Person müsse zu jedem Zeitpunkt überprüfen lassen können, ob sie in zulässiger Weise überwacht werde. Diese Überprüfung sei durch die gesuchstellende Person selbst nicht möglich, solange eine Massnahme noch andauert. Stattdessen könnten beispielsweise spezialisierte Anwälte deren Rechte stellvertretend wahren.
Diese Anwälte müssten laut der Juristin volle Akteneinsicht erhalten und würden so die Interessen der überwachten Person wahren, die aufgrund des Geheimhaltungsinteresses keine direkte Auskunft erlangen und am Verfahren nicht teilnehmen kann. Die betroffene Person würde lediglich über den Ausgang des Verfahrens informiert. «Dieser Vorschlag lehnt sich an die Praxis des Bundesgerichts zu verdeckten Ermittlern an», sagt Kreyden. Die Ausgangslage ist ähnlich: V-Männer müssen aus Gründen des Zeugenschutzes anonym bleiben. Damit in einem Strafverfahren die Verteidigungsrechte der beschuldigten Person nicht untragbar geschmälert werden, wird der V-Mann in Anwesenheit eines Rechtsvertreters und in Abwesenheit der beschuldigten Person befragt.
Markus Schefer fordert spezialisierte Anwälte. «Man kann nicht bei jedem neuen Fall einen neuen Anwalt beiziehen. In diesem Bereich braucht es eine gewisse Konstanz.» Es müssten Personen sein, die sich in Sachen Geheimdienst auskennen. «Diese Personen müssen sich Spezialwissen aneignen. Und das ist eine enorme Herausforderung: Es gibt keine Lehrbücher oder Kurse, die die konkreten Abläufe aufzeigen oder vertieft erklären, wie der Nachrichtendienst funktioniert.»
Spezialisierte Verteidiger engagieren
Es müssten Verteidiger sein, die wiederkehrend engagiert werden und imstande seien, sich innert nützlicher Frist in einen Fall einzuarbeiten. Als Mitglied des Basler Kontrollorgans über den kantonalen Nachrichtendienst habe er Jahre gebraucht, bis er die internen Abläufe des Nachrichtendienstes durchschaut und begriffen habe, sagt Schefer. «Und auf Bundesebene wird es noch komplexer. Hier haben wir auch die Auslandkontakte.»
Die Kosten für dieses Modell müsste laut Schefer der Staat übernehmen. Auch wenn Bedenken vorgetragen würden, dass es sehr teuer werde. Man dürfe nicht vergessen: «Genehmigungspflichtige Massnahmen sind rechtsstaatlich sehr heikel. Und hier zeigt sich, dass Rechtsstaatlichkeit nicht gratis daherkommt.»