plädoyer: In der Schweiz geschah der letzte tödliche Terroranschlag 1995. Damals wurde ein ägyptischer Diplomat in Genf erschossen. Solche Delikte werden von Polizei und Staatsanwaltschaften verfolgt. Wo liegt der Handlungsbedarf für ein neues Gesetz?
Michael Leupold: Die Schweiz hat mit den späten Sechziger- und Siebzigerjahren eine turbulente terroristische Vergangenheit mit Dutzenden von Todesopfern – die meisten sind heute vergessen. Ab Mitte der Achtzigerjahre beruhigte sich die Situation. Aber in Europa kam es immer wieder zu Anschlägen – in Madrid und London 2004 und 2005 und in ganz Europa seit 2015. Auch bei uns kann das geschehen. Daher brauchen wir griffige präventive Massnahmen gegen Terroristen.
Konrad Jeker: Wie will man ohne konkrete Vorfälle beurteilen, wie gross die Gefahr für die Schweiz ist? Ich schätze sie nicht so hoch ein. Wichtiger ist die Frage, ob die gemäss dem Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus vorgeschlagenen Massnahmen überhaupt dazu geeignet sind, dieser möglichen Gefahr wirksam entgegenzutreten. Das bezweifle ich sehr. Die Massnahmen tönen zwar gut, sie lassen sich aber nicht durchsetzen und sie verletzen Grundrechte.
plädoyer: Wir haben heute ein Strafgesetzbuch und eine Strafprozessordnung zur Verfolgung terroristischer Delikte sowie das Nachrichtendienstgesetz. Warum braucht es ein weiteres Gesetz?
Leupold: Das Strafrecht genügt nicht gegen terroristische Gewalttaten. Für die Opfer kommt das Strafrecht zu spät. Der Staat ist verpflichtet, das Recht auf Leben und das Recht auf persönliche Freiheit seiner Bürger zu schützen. Diese Pflicht erfüllt er, indem er Gesetze wie das neue Gesetz gegen terroristische Gefährder erlässt. Ich halte das für vernünftig und nötig. Damit versucht der Staat, die Vernichtung der wichtigsten Rechtsgüter – der körperlichen Unversehrtheit und des Lebens – von unschuldigen Opfern zu verhindern. Sogar für einen potenziellen Täter ist es besser, wenn er rechtzeitig polizeirechtlich gestoppt wird, bevor er zur Tat schreitet. So sitzt er nicht sein restliches Leben hinter Gittern.
Jeker: Grundrechte sind traditionellerweise Abwehrrechte gegen staatliches Handeln. Nun sollen dem Staat auch noch positive Leistungsgrundrechte auferlegt oder zugestanden werden. Ein Leistungsgrundrecht auf Sicherheit kann es aber nicht geben und wäre auch nicht erfüllbar. Der Staat kann das Leben von Menschen nicht positiv sichern. Er kann die Verletzung von Rechtsgütern strafrechtlich sanktionieren. Das Strafrecht ist aber präventiv nicht wirksam. Dabei ist immerhin zu beachten, dass schon der Versuch, eine Straftat zu begehen, strafbar und bei fast allen Gewalttaten auch Vorbereitungshandlungen. Deshalb kommt das Strafgesetzbuch nicht erst dann zum Einsatz, wenn es Opfer gibt.
Leupold: Vorbereitungshandlungen werden nur ausnahmsweise pönalisiert. Und für die allgemeine Strafbarkeit des Versuchs sind die Hürden hoch.
Jeker: Für mich ist der Begriff des Verdachts zentral. Liegt kein Verdacht auf eine Straftat vor, darf staatliche Repression nicht angewendet werden. In der Praxis braucht es bereits heute extrem wenig, bis Polizei und Staatsanwaltschaften von einem Tatverdacht ausgehen. Dieser reicht, um ein Strafverfahren mit allen Zwangsmassnahmen nach der Strafprozessordnung inklusive Untersuchungshaft zu eröffnen. Ich kann mir daher nicht vorstellen, wo noch Raum bleibt, um polizeirechtlich gegen potenzielle Gefährder vorzugehen. Es sei denn, man will bewusst ohne Vorliegen eines Verdachtes gegen Leute vorgehen.
Leupold: Der Tatverdacht kommt bei terroristischen Anschlägen zu spät. Polizeiliche Massnahmen können strukturell eben früher greifen und die Verletzung, Verstümmelung oder den Tod unschuldiger Opfer verhindern.
Jeker: Wie will man gegen terroristische Anschläge vorgehen, wenn nicht einmal ein Verdacht für strafbare Vorbereitungshandlungen dazu vorliegt? Nach dem neuen Gesetz sollen Massnahmen gegen Personen angeordnet werden können, gegen die noch nicht einmal ein Anfangsverdacht vorliegt. Es erfolgt also ein Grundrechtseingriff gegen Unbescholtene, ja gegen Unverdächtige. Dies widerspricht jedem rechtsstaatlichen Grundsatz.
Leupold: Im Kanton Aargau wurde ein Mann wegen Unterstützung des Islamischen Staats verurteilt. Nach der Entlassung aus dem Freiheitsentzug wurde eine Rückführung in sein Heimatland Irak als rechtlich unmöglich beurteilt. Die Behörden stehen aber gegenüber der Bevölkerung in der Verantwortung, dass von dieser Person keine Gefahr mehr ausgeht. Das Polizeirecht kennt zwar bereits einige Instrumente, es genügt aber nicht. Das neue Gesetz würde unsere Ausgangslage verbessern.
Jeker: Der Mann wurde verurteilt und hat seine Strafe verbüsst. Für mich ist die Sache damit erledigt. Dies ist der Ansatz unseres Systems und das ist richtig so. Ohne konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Mann wieder auf die schiefe Ebene geraten könnte, muss er in Ruhe gelassen werden. Konkrete Anhaltspunkte heisst für mich: Sie müssen reichen, um ein Strafverfahren gegen die Person einzuleiten. In unserer Strafprozessordnung haben wir griffige Massnahmen.
plädoyer: Das Nachrichtendienstgesetz erlaubt es bereits heute, jemanden ohne Verdachtsmomente präventiv zu überwachen. Weshalb genügt dies nicht?
Leupold: Die präventiv-polizeilichen Massnahmen bestehen aus zwei Komponenten: Zum einen Massnahmen zur Gefahrenaufklärung, zum anderen Massnahmen zur Unterbrechung des Kausalverlaufs bis zu einer Tat. Die erste Komponente findet sich vor allem im Nachrichtendienstgesetz, die zweite im neuen Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus. Der Nachrichtendienst erhielt bereits zusätzliche Instrumente, im polizeilichen Bereich besteht noch Nachholbedarf.
Jeker: Der Nachrichtendienst beschafft Informationen. Ergibt sich daraus ein Verdacht, übernehmen die Strafverfolger. In der Praxis ist die Schwelle, um einen Tatverdacht zu begründen, extrem tief. Es braucht deshalb keine zusätzliche Schiene zwischen dem Nachrichtendienst und den Strafverfolgungsbehörden. Schaffen wir neue Instrumente für das Bundesamt für Polizei, schaffen wir einen zweiten Geheimdienst, der im verdachtsfreien Raum herumschnüffelt.
Leupold: Präventive Polizeiarbeit kennen wir bereits in anderen Lebensbereichen. Bei der verdeckten Fahndung der Polizei in Chatrooms etwa liegt gerade noch kein dringender Tatverdacht vor. Die Polizei fahndet in diesen Chatrooms und versucht, unter falscher Identität pädophile Chatteilnehmer zu identifizieren. Rechtsgrundlage dafür ist das Polizeigesetz.
plädoyer: Voraussetzungen für die neu geplanten Massnahmen sind konkrete Anhaltspunkte, dass eine Person künftig eine terroristische Aktivität ausüben könnte. Diese Anhaltspunkte liefert wohl der Nachrichtendienst des Bundes. Erfahren Betroffene, wenn ein Verfahren des Bundesamts gegen sie läuft?
Jeker: Ich bezweifle das – und dass Betroffene hinreichende Gelegenheit erhalten, um sich gegen eine Massnahme zu wehren. Es gibt ja nichts, das man widerlegen könnte.
Leupold: Bei gewissen Informationen erfährt der Betroffene nicht, woher sie kommen, weil der Quellenschutz vorgeht Das stellt die Rechtmässigkeit der zu treffenden Massnahmen aber nicht in Frage.
plädoyer: Im neuen Gesetz wird die terroristische Aktivität definiert als «Bestrebung zur Beeinflussung oder Veränderung der staatlichen Ordnung, die durch die Begehung oder Androhung von schweren Straftaten oder mit der Verbreitung von Furcht und Schrecken verwirklicht oder begünstigt werden soll». Ist der Anwendungsbereich des Gesetzes nicht viel zu allgemein formuliert und missbrauchsanfällig? Immer mehr Staaten wenden solche Gesetze gegen die politische Opposition an.
Jeker: Diese Umschreibung ist alles andere als hinreichend bestimmt. Was heisst schon «Beeinflussung der staatlichen Ordnung»? Was «Verbreitung von Furcht und Schrecken?» Die abstrakte Umschreibung der Voraussetzungen für einen Grundrechtseingriff ist ungenügend. Das Gesetz hat keine begrenzende Wirkung.
Leupold: Im neuen Gesetz werden die Begriffe des Gefährders und der terroristischen Aktivität klar definiert. Auch andere Länder kennen ähnliche Definitionen. Im Polizeirecht befinden wir uns im Übrigen in einem Bereich, wo das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot eben gerade nicht gilt.
Jeker: Es ist nirgends definiert, was «terroristische Aktivität» genau ist. Kann man verbotene Handlungen nicht genauer definieren, kann man sie nicht sanktionieren.
Leupold: Es geht nicht um strafrechtlich verbotene Handlungen, sondern um einen Anlasstatbestand, der nahelegt, eine Aktivität genau zu verfolgen und gegebenenfalls präventive Gefahrenabwehrmassnahmen zu ergreifen.
plädoyer: Die «konkreten und aktuellen Anhaltspunkte», dass eine Person eine terroristische Aktivität ausüben wird, können später im Strafverfahren verwendet werden. Ist dies gerechtfertigt?
Jeker: Früher war klar, dass man die vom Nachrichtendienst geheim ermittelten Anhaltspunkte nicht im Strafverfahren verwenden darf. In Deutschland bestand ein Trennungsgebot, das als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips galt. In der Schweiz scheint man diesen Grundsatz nicht zu kennen: Das Bundesgericht liess mehrfach zu, nachrichtendienstliche Erkenntnisse im Strafverfahren zu verwenden.
Leupold: Ziel der polizeilichen Massnahmen ist, dass es gar nicht zu einem Strafverfahren kommt. Kommt es dazu, wurde bereits eine Rechtsgutverletzung begangen und wir haben einen dramatischen Schaden. Genau das wollen wir verhindern.
plädoyer: Das neue Gesetz verpflichtet die Betroffenen, an Gesprächen mit der Polizei teilzunehmen. Müssen sich Betroffene also selbst belasten?
Leupold: Die Polizei darf grundsätzlich mit allen Leuten sprechen und jedermann zu allem befragen. Sich selbst belasten muss die betroffene Person natürlich nicht, sie darf auch lügen. Wir sind zudem gar nicht in einem Strafverfahren. Der Betroffene muss nur dulden, dass mit ihm gesprochen wird. Die Gesprächsteilnahmepflicht betrachte ich daher vom Grundrechtseingriff her als eine nur minimal eingreifende Massnahme.
Jeker: Es ist eine Alibiübung. Gesprächsteilnahmepflicht heisst nicht, dass der Betroffene etwas von sich preisgeben muss. Vielfach weiss er das aber nicht, sodass er doch spricht. Es kommt aber auch nicht darauf an, ob er das tut oder nicht: Er kann angebliche Anhaltspunkte, die ihn als Gefährder erscheinen lassen, ohnehin nicht entkräften.
plädoyer: Weitere Massnahmen im neuen Gesetz sind ein Kontaktverbot, eine Ein- und Ausgrenzung sowie ein Ausreiseverbot. Sind solche Massnahmen sinnvoll?¨ Wenn jemand terroristische Pläne hat und somit schwere Verbrechen begehen will, hält er sich wohl nicht unbedingt an einen Hausarrest.
Jeker: Solche Massnahmen sind unwirksam und lassen sich nicht durchsetzen. Wie will man zum Beispiel ein Kontaktverbot gegen einen Betroffenen durchsetzen, der mit seinem nach Syrien gereisten Bruder telefonieren will?
Leupold: Die vorgesehenen Mittel sind Standardmassnahmen des präventiv-polizeilichen Handelns. Sie lassen sich sehr wohl durchsetzen, auch zum Beispiel ein Kontaktverbot. Dies sieht man beispielsweise im Bereich der häuslichen Gewalt.
plädoyer: Die erheblichste Freiheitseinschränkung, die das neue Gesetz vorsieht, ist der Hausarrest. Ist dieser ohne Vorliegen eines Delikts mit der Verfassung vereinbar?
Jeker: Mit dem neuen Gesetz hätten wir eine gesetzliche Grundlage, womit die Massnahme demokratisch legitimiert ist. Fraglich ist, ob die Verhältnismässigkeit noch gewahrt ist. Ob die Massnahme also geeignet ist, das Ziel zu erreichen. Meines Erachtens ist der Hausarrest weder notwendig noch zumutbar. Deshalb halte ich ihn nicht für verfassungsmässig. In der Schweiz gibt es aber kein Verfassungsgericht, das dagegen einschreiten kann.
Leupold: Ich bin anderer Meinung. Für den Hausarrest sieht das Gesetz eine höhere Hürde vor als für die anderen Massnahmen: Er kann nur subsidiär angeordnet werden, wenn erstens eine erhöhte Gefährlichkeit vorliegt und zweitens gegen eine bereits angeordnete mildere Massnahme verstossen worden ist. Eine solche Kaskadenregelung ist auch konform mit Artikel 5 Absatz 1 der Menschenrechtskonvention.
plädoyer: Die Massnahmen des neuen Gesetzes könnten auch auf Jugendliche angewendet werden. Ist dies mit dem Jugendstrafrecht vereinbar?
Leupold: Die meisten Massnahmen sind gegen Jugendliche ab zwölf Jahren möglich, der Hausarrest erst gegen mindestens 15-Jährige. Das ist gerechtfertigt. Jugendliche können nämlich durchaus instrumentalisiert werden. Nochmals: Wir sind nicht in einem Strafverfahren – und dort beginnt die Strafmündigkeit übrigens schon mit zehn Jahren.
Jeker: Für mich sind die Massnahmen schon gegen Erwachsene nicht legitim – sie sind es daher gegen Jugendliche erst recht nicht.
Konrad Jeker, 56, Fachanwalt im Strafrecht, Solothurn
Michael Leupold, 52, Fürsprecher, seit 2013 Kommandant der Kantonspolizei Aargau.
Neues Bundesgesetz zur “Bekämpfung von Terrorismus”
Der Bundesrat hat dem Parlament ein Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT) vorgeschlagen. Der Ständerat hat es in der Frühjahrssession als Erstrat gutgeheissen.
Mit dem neuen Gesetz soll das Bundesamt für Polizei zusätzliche Instrumente für den Umgang mit «terroristischen Gefährdern» erhalten. Diese kommen ausserhalb eines Strafverfahrens zur Anwendung. Das heisst: Es muss weder ein Gesetzesverstoss noch ein Verdacht dazu vorliegen, um die Freiheit der Betroffenen einschränken zu können.
Als neue Massnahmen sind vorgesehen: die Melde- und Gesprächsteilnahmepflicht, das Kontaktverbot, die Ein- und Ausgrenzung, ein Ausreiseverbot oder sogar ein Hausarrest. Das Bundesamt kann die Massnahmen – bis auf den Hausarrest – ohne richterliche Genehmigung aussprechen und verlängern.