An der Wand seines Büros hängen Gruppenbilder, die im Osten Europas aufgenommen wurden. Auf dem Pult steht eine schwarz lackierte Schüssel, wie man sie dort kaufen kann. Stephan Gass hat offensichtlich mit Osteuropa zu tun. «Dieses Gruppenbild entstand bei einer Reise in die Ukraine zum Aufbau der dortigen Justiz», erzählt er in seinem ruhigen Basler Dialekt, «und hier hat uns eine Delegation ukrainischer Richter besucht.» Sein Engagement für die Justiz in Osteuropa habe sich «einfach ergeben», sagt der 59-Jährige: 1993 wurde er von der Schweizer Arbeitsgruppe, die Reformvorschläge für die ungarische Justiz machte, als Sekretär angestellt. Später beriet er im Auftrag der Eidgenossenschaft die Slowakei, Rumänien und die Ukraine beim Aufbau ihrer Justiz.
Heute unterstützt Gass die ukrainische Justiz im Auftrag des Europarates und der Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza). Seine Tätigkeit in Osteuropa ist nicht etwa sein Beruf. Er macht dies neben seiner Arbeit: Er ist Dozent für Recht und Kommunikation an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Muttenz und nebenamtlicher Richter am Baselbieter Kantonsgericht in Liestal. An der Fachhochschule hält er für Ingenieure Vorlesungen zum Sachenrecht und Baurecht. Eine Herausforderung: «Das sind Leute aus der Praxis, die sehr knifflige Fragen stellen.»
Seine beiden Berufe haben Parallelen: «Man muss unabhängig und unparteilich sein.» Doch genau diese Unabhängigkeit ist für ihn in Frage gestellt, wenn die zweite Instanz im Baselbiet nebenamtliche Richter hat.
Damit ist er bei seinem Lieblingsthema: Der Unabhängigkeit der Richter. Und obwohl er sich dafür seit Jahren unermüdlich einsetzt, bleibt sein Tonfall ruhig, er braucht vorsichtige Wendungen wie «es wäre doch sinnvoll, wenn die Richter vollamtlich wären».
Sein Fall - Lehre und Richter - sei nicht so heikel: «Aber wenn Anwälte als Richter amten, dann wird es problematisch.» Er wird lauter. Und dann etwas leiser: Dass er selbst einer politischen Partei angehört, ist ihm sichtlich unangenehm. Auch im internationalen Kontext: «Dass man in der Schweiz praktisch nur dann Richter werden kann, wenn man einer Partei angehört, ist europaweit einmalig.» Das müsse man ändern, um allen mit der erforderlichen Qualifikation den Zugang zum Richteramt zu ermöglichen. Seine Vorschläge: Eine Zugangsprüfung oder obligatorische Ausbildung für Richter.
Gass lässt durchblicken, dass neben der Richterzeitung, deren Herausgeber er heute noch ist, auch die Richterakademie zum Teil auf seiner Initiative als ehemaliger Präsident der Schweizer Vereinigung der Richterinnen und Richter beruht. Es freut ihn sichtlich, dass nun einige Kantone den Besuch dieser Ausbildung vorschreiben. Und noch etwas freut ihn: Dass im Kanton Freiburg neu Richter auf unbestimmte Zeit gewählt werden. Denn das komme der richterlichen Unabhängigkeit entgegen: «Wiederwahlen bewirken einen Druck auf die Richter, der auch zu Selbstzensur führen kann.» Offen sagt er, dass auch er sich manchmal solche Gedanken mache. «Denn Richter sein ist ein Beruf und eine Berufung.» Gass strahlt.
Was macht ihm denn Freude am Richtersein? Gass überlegt und sagt: «Naja, ich bin im Strafrecht tätig, da kann man wohl eher nicht von Freude sprechen.» Er lächelt. «Aber es ist spannend, Einblick in menschliches Verhalten zu bekommen.» Freude mache hingegen, sich mit der Dogmatik des Rechtes zu befassen - «und wenn ein Verurteilter sich bei mir für ein faires Urteil bedankt». Dass er bei Anwälten als «verteidigerfreundlich» gilt, wusste er nicht, es ist ihm fast etwas peinlich. Er habe kaum Kontakte zu Anwälten, «aber das ist für die Unabhängigkeit eines Richters eigentlich nicht schlecht».
Neben der Unabhängigkeit gibt es für Gass weitere Anforderungen an einen Richter: Gute Ausbildung, profundes juristisches Wissen, soziale Kompetenz: «Ein Richter muss mit jemandem mitempfinden können, anständig mit Leuten umgehen und eine Verhandlung auf vertrauensbildende Weise durchführen.» Gegenbeispiele dazu hat er in Osteuropa zuhauf erlebt, beispielsweise bei einer Scheidungsverhandlung in Kiew, wo die Richterin den Parteien das Wort abgeschnitten und sie kaum angehört habe. «Genau so darf es nicht laufen!»
Richterdelegationen, die eine Verhandlung in der Schweiz besuchten, falle denn auch oft auf, wie ruhig und zivil alles ablaufe. Andere Länder könnten von uns auch den massvollen Umgang mit Strafen und Strafrecht lernen. Die Schweiz habe ja europaweit eine sehr tiefe Kriminalitätsrate - «somit ist es Unsinn, ein härteres Strafrecht zu fordern», enerviert sich der SP-Richter. Stark sei die Schweiz auch in der Prozessorganisation und Urteilsredaktion. «Ausgebildete Juristen als Gerichtsschreiber, das gibt es sonst nirgends», schwärmt er. Klar, das ist teurer. «Aber Justiz soll doch etwas kosten dürfen.»
Da spricht ein Jurist aus Berufung - allerdings ein Spätberufener: Ursprünglich hat Gass Geschichte studiert. Die Karte zum Bahnnetz in Österreich-Ungarn 1916 an einer Wand seines Büros zeugt davon. Seine Dissertation hat er zu Ungarn verfasst. «Ich hätte mir in jungen Jahren nie ein Rechtsstudium vorstellen können, Geschichte war viel spannender.» Doch dann war er zunächst als Laienrichter tätig, entdeckte dabei die Juristerei und studierte berufsbegleitend Rechtswissenschaften. Geschichte ist nun sein Hobby. Ein weiteres Hobby ist englische Literatur - er hat auch Anglistik studiert. Zudem spricht er Russisch und Ungarisch, «ein bisschen», sagt er. «Sehr gut», sagen Teilnehmende an Richterreisen ins Ausland, die von ihm organisiert werden.
An den Wänden in Gass' Büro hängen neben den Gruppenbildern aus Osteuropa ein Diplom für die Besteigung des Kilimandscharo und Fotos von Löwen und Gorillas. Diese habe er selbst gemacht, so Gass stolz. Es ist ihm wichtig, dass er sich Zeit für Ferien nimmt, um andere Menschen, Kulturen und Zivilisationen kennen zu lernen. Dass er in der europäischen und internationalen Richtervereinigung aktiv ist, kommt seiner Reiselust entgegen. So hat er letztes Jahr einen internationalen Richterkongress in Dakar (Senegal) mit einer Reise verbunden. Von den Richtern in Afrika könne man im Übrigen einiges lernen - und auch da seien die Richter geschockt, dass er als Richter einer Partei angehöre. Damit ist er wieder bei seinem Thema.