Zwischen zwei Auslandmissionen für die Uno empfängt uns Jean Zermatten im Institut für die Rechte der Kinder (IDE) in Sion. Das Institut gründete er 1995, um die Kinderrechtskonvention (KRK) in der Schweiz und der ganzen Welt bekannt zu machen. Und um Weiterbildungen für Personen anzubieten, die im juristischen Bereich mit Kindern arbeiten. Auch mit 63 Jahren arbeitet der pensionierte Jugendrichter sieben Tage pro Woche, sei es als Leiter des IDE oder für den Kinderrechtsausschuss der Uno, den er seit Mai 2011 präsidiert.
Sein Ton erinnert an den eines beschützenden Familienvaters. Doch mit Nachdruck sagt Zermatten: «Die Konvention für die Rechte der Kinder brachte bei ihrer Einführung vor zwanzig Jahren grundlegende Neuerungen, auf die selbst Profis noch immer nicht vorbereitet sind. Das Kind wandelte sich von einem schutzbedürftigen Wesen zu einem anerkannten Rechtssubjekt. Artikel 12 der Konvention sichert ihm vor allem das Recht, an allen Entscheidungen, die es betreffen, beteiligt zu sein - im Rahmen seines Alters und seiner Reife.»
Doch wie beeinflusst ein internationaler, eher allgemein gehaltener Text einen Jugendrichter in seiner täglichen Praxis? Zermatten realisierte rasch, dass er und seine Kollegen gar nicht dazu ausgebildet waren, Kinder anzuhören: «Da gab es dieses kleine, sexuell missbrauchte Mädchen. Wir wussten alle nicht, wie wir sie befragen sollten - und haben sie wohl zu oft und zu hart befragt.»
Die Kinderrechtskonvention halte klar fest, dass jedes Kind persönliche Rechte hat. Davon seien wir aber noch weit entfernt, klagt er. Noch immer würden nur zehn Prozent der Kinder in Scheidungsfällen angehört und im Asylverfahren Minderjährige erst ab 14 Jahren befragt. «Dabei hat das Bundesgericht schon mehrmals entschieden, dass die Kinderrechtskonvention direkt umzusetzen sei und Kinder bei Scheidungen ab sechs Jahren angehört werden müssten», betont Zermatten. «Ein Kind kann seine Aussage natürlich verweigern. Ansonsten darf diese Regelung nur umgangen werden, wenn die Anhörung dem Kind schaden könnte, zum Beispiel wenn es unter psychischen Störungen leidet.»
Ein Kind anzuhören bedeutet nicht, ihm die Entscheidungsgewalt einzuräumen. Um das Gewicht seiner Aussagen abzuschätzen, müssen Alter und seine Reife in Betracht gezogen werden - und die Wichtigkeit der Entscheidung für das Kind. «Jede Situation ist anders und verlangt eine individuelle Lösung», sagt Zermatten. «Mit der KRK macht man Massarbeit, kein Prêt-à-porter. Zudem: Die Aussagen des Kindes können beim Entscheid helfen.»
Solche Argumente breitet Jean Zermatten in seinen Kursen aus, die das IDE zusammen mit dem Institut Universitaire Kurt Bösch (IUKB) in Sion anbietet. An der Spitze eines Teams von Dozenten wendet er sich sowohl an Masterstudenten von Schweizer Universitäten als auch an Richter aus der ganzen Welt. Hinzu kommen Polizeibeamte, Sozialarbeiter und weitere Experten. Er lehrt auch im Ausland - etwa an der Shanghai Academy for Social Sciences.
Dabei wollte Jean Zermatten als junger Mann nie Lehrer werden. Sein Vater, der Schriftsteller Maurice Zermatten, hätte sich gewünscht, dass er Geisteswissenschaften studiert. Doch Jean studiert Jus - um später einmal Diplomat oder Journalist zu werden. Doch dann hängte er ein Studium in Geisteswissenschaften an, zur Finanzierung nahm er eine Halbtagsstelle als Jugendrichter in Freiburg an. «Die Juristerei interessierte mich gar nicht und ich hatte auch keine Lust, Jugendrichter zu werden», erinnert sich Zermatten. Aber bald erkannte er, dass man mit Hilfe des Rechts wichtige Dinge erreichen konnte. Und so nahm er eine Vollzeitstelle als Jugendrichter an und liess die Geisteswissenschaften fallen. «Meine Kollegen, die inzwischen als Anwälte, Bankiers oder Politiker Karriere machten, hielten mich für verrückt.» Später wurde er Präsident des kantonalen Jugendgerichts in seinem Heimatkanton.
«Mein Vater war ein Vorbild für mich, denn er war ein ‹Chrampfer›.Trotzdem nahm er sich stets Zeit, wenn man ihn brauchte», erinnert sich Zermatten. Und was für ein Vater war er seinen inzwischen 23 und 25 Jahre alten Kindern? «Ich versuchte, ihre Ansichten zu respektieren und sie so weit als möglich in Entscheidungen einzubinden, die sie betrafen», versichert er. «Als sie noch klein waren, war ich abends zu Hause, ich verzichtete auf Aktivitäten in Politik, Vereinen und Verbänden.» So kam es, dass er als erster Walliser Richter keiner Partei angehörte.
Wer auf internationalem Niveau arbeitet, muss geduldig sein. Der Uno-Kinderrechtsausschuss wartet seit vier Jahren auf den Bericht der Schweiz. «Unser Land rechtfertigt das mit dem langsamen Föderalismus. Aber es ist schon ziemlich beschämend - besonders für mich als Präsident des Ausschusses», so Zermatten. Fortschritte seit dem letzten Schweizer Bericht von 2002 erkennt er bei den Kinderzulagen, wo ein Mindestbetrag festgesetzt wurde, und bei der Harmonisierung der Schulen (dank Harmos). Das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte wurde ins Leben gerufen - mit einem Bereich für Kinder- und Jugendrecht. Ausserdem sprach das Bundesgericht im Mai 2011 zum ersten Mal einer ausländischen Mutter das Aufenthaltsrecht in der Schweiz zu, weil dies im Interesse ihres Kindes war.
Auf der Negativseite sieht er die Zwangsmassnahmen für Jugendliche im Vorfeld einer Ausweisung und die Situation von Kindern, die ohne Begleitung einwandern. Auf internationaler Ebene sorgt sich Jean Zermatten um die Lücken im Bereich der Geburtenerfassung: «Sie ist eine Grundbedingung, damit ein Kind zu einem Rechtssubjekt werden kann.»
Zweifeln an der Wirksamkeit der internationalen Instrumente begegnet Zermatten energisch: Die Kinderrechtskonvention habe eine unglaubliche Vielzahl von Verbesserungen gebracht, «neue Gesetze und Schutzmassnahmen für Kinder, Dienste für Familienhilfe, Fortschritte im Bereich von Bildung und Gesundheit.» Und die Kindersterblichkeit sinke.
Es gibt noch so viel zu tun, dass er noch längst nicht an den Ruhestand denkt. Dass er Familie und Freunde öfter sehen möchte, tritt in den Hintergrund. «Denn», sagt Zermatten, «Nach dem Kampf für die Gleichstellung der Frauen - der noch nicht beendet ist - geht es nun darum, den Kampf für die Rechte der Kinder zu führen.»