Der 44-Jährige empfängt plädoyer am Obergericht in Sarnen (OW). Er arbeitet hier als Präsident in einem 55-Prozent-Pensum. Daneben schreibt er noch an seiner Habilitation. Thema: Gesamtarbeitsvertrag und Kartellrecht. Das Wettbewerbsrecht bezeichnet Keller als sein Hobby. Er unterrichtet diese Materie neben Sozialversicherungsrecht an der Fernuni Schweiz mit Präsenzveranstaltungen in Freiburg.
Und nun kommt noch Strafrecht dazu. Keller ermittelt seit Sommer 2020 als ausserordentlicher Bundesanwalt zu den von der Bundesversammlung an die Aufsichtsbehörde der Bundesanwaltschaft überwiesenen Strafanzeigen gegen Bundesanwalt Michael Lauber, den Walliser Oberstaatsanwalt Rinaldo Arnold und Fifa-Chef Gianni Infantino. «Das ist absolutes Neuland für uns alle», sagt er. Neben den Ermittlungen brauche es Zeit für die Verfahrensführung: «Ich musste meine Mitarbeiter selbst einstellen und die Arbeitsverträge ausstellen.» Für sein Mandat erhielt er ein Kostendach von 500 000 Franken. Als Verfahrensleiter arbeitet Keller im Stundenlohn. «Ich möchte die Kosten so gering wie möglich halten», sagt er. Wer zu seinem juristischen Team zählt, verrät er nicht. «Am Bundesstrafgericht laufen mehrere Verfahren in dieser Sache. Infantino will genau wissen, wer meine Hilfspersonen sind.»
Die Fifa verlangte seine sofortige Absetzung
Mit Gianni Infantino steht ihm ein Gegner gegenüber, der für das Verfahren über erheblich grössere Mittel verfügt. Er und die Fifa setzen bereits sämtliche Netzwerke in Bewegung, um Keller zu diskreditieren. Das fing schon vor seiner Wahl zum Sonderermittler an. Fifa-Anwalt David Zollinger, früher Staatsanwalt in Zürich, intervenierte im Parlament und bei Medien, um Keller als Sonderermittler zu verhindern: Es brauche jemanden mit mehr Erfahrung in komplexeren und exponierten Fällen. Ein Strafverteidiger, der einen möglichst erfahrenen Ankläger verlangt – das kommt selten vor.
Die Vereinigte Bundesversammlung wählte Keller im September trotzdem mit 220 Stimmen. Darauf verlangte die Fifa vor Bundesstrafgericht seine sofortige Absetzung. Doch Bellinzona stützte die bisherigen Verfahrenshandlungen des Juristen und entschied Ende Jahr, die Fifa sei bei den nicht protokollierten Gesprächen zwischen Lauber und Infantino gar nicht Verfahrenspartei. Das Ganze riecht nach Verzögerungstaktik. Laut Keller wurden auch frühere Arbeitskollegen angegangen und über ihn befragt. Personenschutz brauche er trotzdem noch keinen: «Ich kann mit grossem Druck gut umgehen. Solange mir das Parlament den Geldhahn nicht zudreht, lasse ich mich von nichts und niemandem davon abbringen.»
Bekannte von Keller bekräftigen in Gesprächen, er sei «enorm zielstrebig und fleissig». Das macht sich in seiner Effizienz bemerkbar. Er schloss innerhalb weniger Monate die Prüfung der Strafanzeigen gegen Infantino wegen ungetreuer Geschäftsbesorgung im Zusammenhang mit der Benutzung eines Privatjets ab. Keller: «Es gibt deutliche Anzeichen für ein strafbares Verhalten.»
Der gebürtige Schaffhauser studierte in Freiburg: «Die Universität Zürich lag viel zu nahe. Irgendwann muss man das Familiennest verlassen.» Sein Bruder, heute Staatsanwalt in Frauenfeld, wählte St. Gallen. Der Vater war Regierungsrat in Schaffhausen. «Die Politik schreckte mich früher eher ab. Wahrscheinlich deshalb bin ich heute nicht politisch aktiv.» Keller hat ein Anwaltspatent. Doch diese Tätigkeit spreche ihn nicht an: «Ich entscheide Rechtsfälle gerne selbst», sagt der Richter, der wie sein Vater politisch bei der SP beheimatet ist. Trotz Partei und reformierter Konfession wählten ihn die Obwaldner zum Obergerichtspräsidenten. Der Ostschweizer Keller meldete sich auf ein Stelleninserat hin – und wurde prompt gewählt: «Offenbar beeindruckte meine fachliche Vielseitigkeit.»
Der heute 44-Jährige dissertierte in Sozialversicherungsrecht und gilt als ausgewiesener Experte im Straf- und Strafprozessrecht: Er arbeitete mehrere Jahre als Gerichtsschreiber der Strafrechtlichen Abteilung am Bundesstrafgericht, publiziert in den Basler Kommentaren zum Strafrecht und Strafprozessrecht. In Obwalden ist er für Strafrechtsbeschwerden zuständig. Seit 2012 amtet er als Generalsekretär der schweizerischen Arbeitsgruppe für Kriminologie sowie als Co-Chefredaktor der «Neuen Zeitschrift für Kriminologie und Kriminalpolitik». Als Verwaltungsrichter urteilt er auch in Sozialversicherungs- und Steuerfällen. Unterstützt wird er dabei von Laienrichtern. «Sie sind ein guter Kontrollmechanismus, sagt er schmunzelnd. «Versteht ein Laienrichter ein Urteil nicht, haben wir Berufsrichter schlecht gearbeitet.»
“Resozialisierung ist heute toter Buchstabe”
Stefan Keller kritisiert die grosse Zahl neuer Gesetze, die in der Verwaltung in Bern und ohne jegliche Konsultation mit der Lehre und Praxis zustande kämen. Er spricht von «gesetzgeberischem Aktivismus, besonders im Strafprozessrecht»: «Wir regeln bei Deliktskatalogen immer genauer, welche Strafe ausgesprochen werden muss.» Doch es sei unmöglich, die gesamte Lebenswelt in einem Gesetzeskatalog abzubilden. Er wertet diese Tendenz als Misstrauen gegenüber den Gerichten. Es gehe darum, das richterliche Ermessen einzuschränken: «Die Befürworter der Null-Risiko-Gesellschaft wollen es so.» Dabei würden Zahlen aufzeigen, dass die Schweiz ein sehr sicheres Land sei. «Doch die Wahrnehmung der Realität ist heute wichtiger als die Realität selbst. Die Kriminalität geht seit Jahren zurück. Trotzdem ist die herrschende öffentliche Meinung der Ansicht, wir hätten ein Kriminalitätsproblem.»
Dafür macht er vor allem die Tagesmedien verantwortlich. Halbwahrheiten würden publiziert, Zahlen zu wenig verglichen und negative Einzelfälle in die Welt hinausposaunt. «Diese dominieren dann den Diskurs.» Die Konsequenz fürs Strafrecht: «Heute spricht ausserhalb von Fachkreisen niemand mehr von Resozialisierung.» Diese sei zwar gesetzlich vorgeschrieben, aber toter Buchstabe. Die bedingten Entlassungen würden seit Jahren massiv zurückgehen: «Seit 2012 werden Gefangene kaum je bedingt entlassen. Und es hat immer mehr Verwahrte im Strafvollzug.» Die Aufgabe des Staates sei aber, möglichst viele Bürger in der Gesellschaft zu behalten und keine Parallelwelten aufzubauen. «Es ist unvernünftig, Menschen massenhaft und auf lange Zeit einzusperren.» Das zeige die Erfahrung der USA klar.