Nennen wir ihn Daniel Berger, er trägt in Wirklichkeit einen anderen Namen, doch sein Fall ist real. Berger ist ein älterer, alleinstehender Schweizer, der es nicht einfach hatte im Leben. 2005 wurde er vom Notfallpsychiater gegen seinen Willen in eine Klinik eingewiesen – aufgrund eines gerichtlichen Entscheids kam er wieder frei. Zurück in der Freiheit musste sich der unfreiwillig Eingewiesene mit Forderungen seiner Krankenkasse herumschlagen, welche die Rechnung für die Hospitalisierung nicht übernehmen wollte. Es habe sich ja im Nachhinein per Gerichtsentscheid herausgestellt, dass der Spitalaufenthalt medizinisch nicht indiziert gewesen sei, argumentierte die Kasse. Die absurde Auseinandersetzung zermürbte und erzürnte den vorher schon angeschlagenen Mann nachhaltig.
Jahre später kam es erneut zum Konflikt mit der gleichen Krankenkasse; dieses Mal betrieb sie ihn für eine Monatsprämie der obligatorischen Krankenversicherung. Berger wehrte sich anfänglich gegen die Forderung, zahlte den Betrag aber trotzdem ein, um der Betreibung ein Ende zu setzen. Er versuchte dann im Nachhinein, die Prämie wieder zurückzufordern: Weil er sie nur unter Zwang bezahlt habe. Seine Argumentation ist verständlich. Denn die Krankenkassen sind im obligatorischen Bereich befugt sind, sich selbst einen Rechtsöffnungstitel auszustellen.
Mit seinem Begehren um Rückerstattung begann für Daniel Berger ein unergiebiger Weg durch die Gerichtsinstanzen. Irgendwann landete sein Fall am Zürcher Obergericht und auf dem Pult des Präsidenten der II. Zivilkammer, Peter Diggelmann. Der erfahrene, langjährige Richter tat, was er in solchen Fällen fast immer tut: Er lud den sichtlich überforderten und zunehmend zornigen Mann zum direkten Gespräch ein. Leider, sagt Diggelmann, habe Berger auf seinen Brief nicht reagiert. Also musste der Oberrichter ein Urteil fällen und einen Beschluss fassen. In beiden Entscheiden hält Diggelmann fest, dass es die Vorinstanzen versäumt hätten, den Kläger in mündlichen Verhandlungen anzuhören, ihm das weitere Vorgehen, die Modalitäten, Möglichkeiten und die Konsequenzen des Rechtsmittelwegs verständlich zu machen. Was der Richter nicht schreibt, was aber zwischen den Zeilen durchschimmert – wie übrigens in einigen anderen Entscheiden des Obergerichts auch: Mit einem solchen Verhalten züchtet die Justiz querulatorisches Verhalten geradezu heran.
Bergers Fall spielte sich im Rahmen des vereinfachten Verfahrens ab (Artikel 243 ff. ZPO). «Ein Verfahren», sagt Peter Diggelmann, «das sich von Gesetzes wegen durch seine Laien-Freundlichkeit auszeichnet und das genau deshalb auf mündliche Verhandlungen setzt.» Im vereinfachten Verfahren seien auch die Anforderungen an die schriftlichen Eingaben der Laien tiefer zu setzen. Stillschweigende Zustimmung (etwa auf den Verzicht einer mündlichen Verhandlung) sei nicht leichtfertig anzunehmen – da unbeholfene Parteien die Tragweite eines solchen Verhaltens oft gar nicht verstünden.
Diggelmann bedauert, dass es ihm nicht gelungen ist, Berger im direkten Gespräch mit der Justiz zu versöhnen. Es ist nicht das erste Mal, dass er solche Versuche unternimmt – und nicht selten erreicht er damit kleine Wunder. «Es geht mir darum», sagt der Oberrichter, «bei den überforderten Prozessparteien das Vertrauen in die Gerichtsbarkeit wiederherzustellen.» Notfalls braucht dies unorthodoxe, kreative Methoden – und oft viel Zeit, Geduld, Menschenkenntnis und Fingerspitzengefühl.
Ein derartiges Vorgehen, so Diggelmann, sei jedoch stets auch eine Gratwanderung: «Sind zwei oder mehrere Parteien involviert, müssen alle Beteiligten berücksichtigt werden, ich darf nicht bloss mit einer Partei ein Gespräch führen. Und ich muss mir bewusst sein, dass ich als Richter eine Augenbinde trage. Das heisst, ich habe grundsätzlich alle Menschen, die vor Gericht stehen, gleich zu behandeln. Meiner Auffassung nach darf ein Gericht jedoch überforderten Parteien behilflich sein; vor allem dann, wenn sie anwaltlich nicht vertreten sind.»
Immer mehr Fälle mit überforderten Parteien
Als zweitinstanzlicher Richter hat es Peter Diggelmann nicht täglich direkt mit Prozessparteien zu tun. Ganz anders sieht die Situation der erstinstanzlichen Richterinnen und Richter aus. Andreas Huizinga ist seit 2015 als Richter am Bezirksgericht Winterthur tätig. Er teilt die Auffassungen von Oberrichter Diggelmann – und er lädt die Parteien lieber einmal zu viel zu einer Instruktionsverhandlung ein als einmal zu wenig. Gelinge es ihm, die Involvierten an einen Tisch zu bringen, sagt er, seien die Gespräche in achtzig bis neunzig Prozent der Fälle erfolgreich. Die Treffen enden mit einem Vergleich und nicht selten mit einer Versöhnung, die weit über den eigentlichen Prozessgegenstand hinausgeht.
Dem jungen Winterthurer Richter fällt auf, dass die Anzahl der Fälle mit überforderten, psychisch vorbelasteten Parteien deutlich zunimmt. Parallel zu dieser Entwicklung konstatiert er einen beunruhigenden Egozentrismus: «Ich begegne immer mehr einer rechthaberischen, unnachgiebigen Haltung. Wer sich im Recht wähnt, will dieses durchsetzen – koste es, was es wolle. Ob die Gegenpartei zugrunde gehen kann, spielt keine Rolle. Bei einer solchen Grundhaltung sind Vergleiche fast unmöglich.»
Huizinga hat es mit notorischen Gerichtskunden zu tun, die seit Jahren immer wieder kommen, mit den gleichen Anliegen. Oder dann geht es um Streitigkeiten – oft Kampfscheidungen oder Erbrechtsfälle – die sich stetig ausweiten, mit ständig neuen Nebenschauplätzen. Nicht zuletzt aus Effizienzgründen versucht der Bezirksrichter deshalb, die Streithähne an einen Tisch und zu einem Vergleich zu bringen: «Die enden halt meist mit einer Lose-lose-Situation, nicht mit Win-win.» In einen Vergleich einwilligen bedeute fast immer, dass man von einer Position abrücken müsse, die man selbst als richtig einstufte. In Vergleichsverhandlungen, sagt Huizinga, habe er mehr Spielraum als im ordentlichen Prozess. Doch in beiden Situationen gehe es vor allem um eines: «Akzeptanz zu erreichen.»
Querulanten mit gefährlichem Potenzial
Mit dieser Aussage spricht der Winterthurer Bezirksrichter dem neuen Präsidenten der Schweizerischen Vereinigung der Richterinnen und Richter, Patrick Guidon, aus dem Herzen. Guidons Credo lautet: Die Leute ernst nehmen, auch die schwierigen und lästigen. Ihnen zuhören, solange wie nötig, ihnen ermöglichen, Dampf abzulassen: «Durch ein solches Verhalten kann es gelingen, Schlimmeres zu verhindern, eine Eskalation zu vermeiden», sagt der Präsident des St. Galler Kantonsgerichts.
Seit er die Richtervereinigung präsidiert rufen ihn regelmässig Querulanten aus der ganzen Schweiz an – jene Gerichtsdauerkunden, die es in «ihren» Kantonen schon überall probierten und denen niemand mehr zuhört. Sie finden bei Guidon fast immer eine freie Telefonleitung.
Erste Erfahrungen mit querulatorischen Prozessparteien machte Guidon bereits als frischgewählter Kantonsrichter. Es ging um eine Kampfscheidung und um einen erfolgreichen Berufsmann, der vom Ausgang des Verfahrens derart frustriert war, dass er sich weigerte, die Gerichtsgebühren zu zahlen. Der fast zwei Meter grosse Mann steigerte sich derart in das Gefühl, Unrecht zu erleiden, dass er mit einem Blutzoll drohte. Mit anderen Worten: Er wies sämtliche Ingredienzen für einen Querulanten mit gefährlichem Potenzial auf.
Der Richter fackelte nicht lange und lud den Aufgebrachten gleichentags zum Gespräch ans Gericht ein. «Der Mann sprach eine Dreiviertelstunde lang, und ich liess ihn ausreden. Danach sprach ich eine halbe Stunde lang und verlangte, dass auch er mir zuhört. Die Begegnung endete damit, dass er mir mitteilte, ich sei ein aufrechter Mann, und er werde die Gebühren deshalb morgen bezahlen.»
Am Anfang steht oft ein tatsächliches Unrecht
Guidon verhehlt nicht, dass ihm solche Erfolge nicht immer gelingen. Nicht jeder Querulant lenkt ein – aber erstaunlich oft lassen sich die Situationen beruhigen. Der St. Galler Kantonsrichter legt beim Prozessieren grossen Wert darauf, dass sich die Parteien ernst genommen fühlen. Seine Befragungen, sagt er, dauerten mindestens eine bis zwei Stunden lang. Er wolle die Geschichten der Leute hören, ihnen zeigen, dass mit ihnen nicht einfach kurzer Prozess gemacht werde. «Mit diesem Vorgehen kann man viel Akzeptanz für den Entscheid des Gerichts erreichen», sagt Guidon. Alle drei Richter, Diggelmann, Huizinga und Guidon, sind sich bewusst, dass am Anfang einer Querulantenkarriere oft ein tatsächlich erlebtes Unrecht steht. Die Betroffenen, sagt der Winterthurer Bezirksrichter Andreas Huizinga, schafften es danach nicht mehr, sich vom Unrecht zu lösen, das Vergangene hinter sich zu lassen, vorwärts zu schauen. Sie steigern sich in eine Ablehnung oder gar in einen Hass den Behörden gegenüber, wittern überall Dilettantismus und Verschwörung. Im schlimmsten Fall richten sie ein Massaker an, wie der Zuger Attentäter Friedrich Leibacher im Jahr 2001. Oder sie werfen im Gerichtssaal mit Akten und anderen Gegenständen um sich, bedrohen das Personal, machen eine Polizeipräsenz und Eingangskontrolle notwendig. Und was sämtliche Gerichtsinstanzen im ganzen Land nur zu gut kennen: Sie verschicken ellenlange, unverständliche Eingaben an Gott und die Welt – die vor Unflätigkeiten nur so strotzen.Brigitte Hürlimann
Nur wenige Fälle von Querulanten
Artikel 132 der Zivilprozessordnung (ZPO) regelt den Umgang der Gerichte mit mangelhaften, querulatorischen und rechtsmissbräuchlichen Eingaben. Fehlt etwa die Unterschrift, muss das Gericht der betroffenen Partei eine Nachfrist zur Verbesserung ansetzen. Erst wenn der Mangel nicht behoben wird, gilt die Eingabe als nicht erfolgt. Dieses Vorgehen gilt auch für «unleserliche, ungebührliche, unverständliche oder weitschweifige Eingaben».
Anders dagegen bei querulatorischen oder rechtsmissbräuchlichen Eingaben (Artikel 132 Absatz 3 ZPO): Hier kann das Gericht die Eingabe «ohne Weiteres» zurückschicken. Oder wie es der verstorbene grüne Nationalrat Daniel Vischer in der parlamentarischen Diskussion 2008 pointiert formuliert hatte:
«Es folgt, blöd gesagt, einfach ein Rückantwortcouvert.» Gegen dieses Vorgehen äusserte SVP-Nationalrat Lukas Reimann rechtsstaatliche Bedenken. Es sei unvereinbar, Eingaben einfach als querulatorisch ohne Entscheid und ohne Begründung zurückzuweisen. «Es käme einem Freipass für Willkür gleich, um unliebsame Eingaben abzuweisen.»
Die Bedenken von Reimann sind unbegründet, wie eine plädoyer-Umfrage beim Aargauer, Berner und Zürcher Obergericht sowie bei den Bezirksgerichten von Aarau, St. Gallen und Zürich zeigt: Beim Berner Obergericht gingen im vergangenen Jahr 26 querulatorische Eingaben ein, die es formlos zurückwies. Die anderen Gerichte führen keine spezielle Statistik. Den zwei Aargauern Gerichten sind «keine Fälle von als rein querulatorisch zu qualifizierenden Eingaben bekannt», sagt Pressesprecherin Nicole Payllier. Auch beim Bezirksgericht Zürich sind es nur wenige Fälle. Mediensprecherin Sabina Motta sagt: «Zurückgeschickt werden nur Eingaben, bei denen in einem vorangegangenen Briefwechsel explizit darauf hingewiesen wurde, dass gleichartige Eingaben nicht mehr beantwortet würden.» Gleich geht das St. Galler Kreisgericht vor: «Bisher wurde jeweils stets eine Nachfrist zur Verbesserung gewährt», sagt Gerichtsschreiber André Bomatter.
Die Entscheiddatenbank des Zürcher Obergerichts enthält 16 Urteile über querulatorische Eingaben. In einem einzigen Fall gab das Obergericht dem Beschwerdeführer recht und qualifizierte dessen Klage als «nicht offensichtlich querulatorisch oder krass rechtsmissbräuchlich». Dies, obwohl der Beschwerdeführer Gerichtsmitglieder des Amtsmissbrauchs und anderer Delikte bezichtigt hatte und seine Ausführungen zum Teil kaum nachvollziehbar waren.
Die restlichen 15 Fälle wurden vom Obergericht als querulatorisch gewertet. Die Mehrheit der Beschwerden war unverständlich und weitschweifend. Zum Beispiel stellte jemand in zwei Beschwerden auf je neun Seiten 45 respektive 47 Anträge zu Gerichtsverfahren, die bereits rechtskräftig abgeschlossen waren. Ein anderer Beschwerdeführer hatte die auf einer Seite begründete Kautionsverfügung der Vorinstanz mit einer 134-seitigen Beschwerdeschrift inklusive zehn Seiten Rechtsmittelanträgen angefochten. In mehreren anderen Verfahren qualifizierte das Obergericht die Eingabe als ungebührlich: «Völlig verblödeter Einzelrichter», «Richter sind Riesenarschlöcher», «geldgeiles Pack» oder «eine Bande von Idioten und Hurensöhne der eher dümmeren Sorte», schrieben die Beschwerdeführer.
In einem Fall zeigte der direkt angeschriebene Oberrichter Peter Diggelmann Humor. Ein stadtbekannter Querulant schlug ihm vor, vom Richteramt zurückzutreten. Diggelmanns Antwort: «Dass Sie mich zum Rücktritt auffordern, würde meine Frau freuen, wenn sie es erführe, aber ich möchte diesen Entscheid doch ganz gerne selber fällen.»